Die Wut, die schöne Wut

Mount Olympus - Jan Fabre
Tanzen ist die Lust und auch das Glück, sich selbst mit voller Wucht gegen die Welt zu werfen. Wie Jan Fabre es in "Mount Olympus" möglich machte

Sam De Mol

Die Kunst, über den Körper zu denken, zu schreiben, seine Spuren zu sammeln, diese Kunst verändert sich ständig, manchmal auch zum Schlechten. Inzwischen gibt es kaum noch einen Verlag, der sich traut, ein Tanzbuch zu veröffentlichen. Und kaum eine Zeitung druckt eine längere Tanzgeschichte, wenn es nicht gerade um einen Star, Skandal oder um eine Salsa-Party in der heimischen Stadt geht.

Längst ist der Tanz kein niedliches Vergnügen mehr für hochwohlgeborene Möchtegern-Starlets. Tanz ist ein professionelles Teamwork, ein gemeinsames Ringen um die Verwirklichung einer tragfähigen Idee mit vielen Gewerken, nicht nur Ausstattern wie im klassischen Theater. Längst werden multimediale Strategien verfolgt. Es wird um neue, bessere Strukturen gekämpft. Nie zuvor waren Tanzschaffende so gut ausgebildet, um technisch auf der Höhe zu sein, die auch ihre Produktionsweisen neu bestimmt. Diese werden aufwändiger und sind motiviert von der Idee, relevante Fragen abzubilden, neue Räume zu öffnen und mehr zu leisten als nur die körperliche Illustration einer angenehm klingenden Musik.

Jevan Chowdhury

Der britische Choreograf Akram Khan wurde dank dieser Erkenntnis sogar zum Weltstar. Ihm folgt unter anderem das Kollektiv (La)Horde, das seit Kurzem das Ballet National de Marseille leitet. Für diese Bande gilt: Nur in veränderbaren Strukturen lassen sich auch zeitgemäße Geschichten erzählen, etwa solche von Jugendlichen, die als Jumpstyler sich global miteinander verbinden. Bislang stellten sie ihre kurzen, explosiven Videosequenzen ins Internet und tauschten sich dort aus, verglichen und rivalisierten durch Soli, die aus einer Art Galopp auf der Stelle bestehen, aus Verwinkelungen der Schenkel, Schienbeine, Knie und Füße, die ebenso schnell einfrieren, wie sie wieder auftauen. „To da Bone“ hieß das Fundstück von (La)Horde. Erstmals überhaupt wurde diese Szene der Jumpstyler nun auf eine echte Bühne gehievt. Solche Art von Storys erzählen Autor:innen wie Thomas Hahn in tanz.dance.

Laurent Philippe

Dabei sind sich doch alle einig: Die Zukunft des Körpers, seine immer umfassendere medizinische Behandlung, seine Veränderbarkeit, um Resistenzen gegen Viren oder Krebs zu erzeugen, seine genetische Mutation ebenso wie die änderbaren Zuschreibungen von Geschlecht und all die nicht mehr länger normativer Körper von „anderer Schönheit“, sind das eine. Dazu tritt noch das Wissen, dass dieser Körper in ein dreidimensionales Metaversum aus digitalen Simulationen eintritt und wir als Träger von Namen samt Identität und Passport einer zunehmend lückenloseren Kontrolle ausgesetzt sind – dahinter steckt nicht nur eine weltweite Industrie von Forschenden. Auch seismisch empfindliche Künstler:innen finden ihre Haltung dazu, reagieren, wenden die Zukunft etwa die der ehemaligen Kolonie Hongkong, auf ihre eigenen Körper an, probieren neue Narrative, entwerfen rettende Landschaften oder dunkle Dystopien.

Jevan Chowdhury

Oder in Bangladesch. Man hört schon lange nichts mehr von der Ausbeutung der Näherinnen, nachdem eine Textilfabrik in sich zusammengestürzt war und der Westen kurz diskutierte, ob billige T-Shirts zu tragen noch okay sei. Die Choreografin Helena Waldmann hat monatelang in der Hauptstadt Dhaka recherchiert, Arbeiterinnen und verbotene Gewerkschaftlerinnen interviewt, aber auch Fabrikbesitzer:innen und Verantwortliche der westlichen Handelsketten, um mit Einheimischen ein Tanzstück zu schaffen, „Made in Bangladesh“, das weltweit getourt ist. Ihre Recherche bleibt ein Zeitdokument.

“Made in Bangladesh”, die Tanzprofis aus Helena Waldmanns Inszenierung vor den versandfertigen Produkten mit dem gleichem Gütesiegel

Georgia Foulkes-Taylor

Die Körper haben eine schöne Wut

Die Wut der Körper findet sich in allen Winkeln dieser Welt – auch beim Berliner Tänzer Raphael Hillebrand, der Aktivismus in der Kunst des Urban Dance nicht länger ausschließen möchte. Auch nicht an der kanadischen Westküste, wo indigene Rechte, mit Füßen getreten, durch verlogen wirkende Respektbezeugungen geheilt werden sollen. So in der spannenden Reportage der Tanzredakteurin Kaija Pepper aus Vancouver.

„Paper Doll“ (2005) von Padmini Chettur, Fotos: Jirka Jansch
„Wall Dancing“ (2012) von Padmini Chettur, Foto: Sara
„3 Solos“ (2003) von Padmini Chettur, Foto: Laurent Phillippe

Eine schöne Wut findet sich auch bei der Kuratorin Marietta Piekenbrock, entlang der Tanzausstellung in der Stadt Essen, „Global Groove“, die sehr kritisch den Vorwürfen der kulturellen Aneignung begegnet, wie auch der Tanzkritiker Darrell Wilson ebenso kritisch die sexuelle Nötigungen des Choreografen Jan Fabre aus Antwerpen mit dessen Hauptwerk konfrontiert: „Mount Olympus“.

Um die Wiederaneignung einer nahezu ausgelöschten Kultur geht es Mari Bernhardt in der Lausitz an der deutsch-polnischen Grenze: bei den Sorben und Wenden. Auch die Moderne in Indien ist bedroht. Die Choreografin Padmini Chettur aus Chennai führt die Tanzautorin Brygida Ochaim in die fast vergessene Geschichte der indischen Emanzipation ein, in der der Tanz im Mittelpunkt stand.

Olaf Martens

Gro Benjaminsen

Das Theater als Landschaft, darüber räsonierte in seiner letzten Publikation der kürzlich verstorbene Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann auf einer norwegischen Insel, nur 2000 Kilometer vom Nordpol entfernt. Noch ferner scheint sich für den Choreografen Yotam Peled in Zürich die Kampfkunst vom Tanz entfernt zu haben. Und sehr viel weiter entfernt, so wirkt es auf die Autorin Zorena Jantze, ist die Beschäftigung mit dem Kolonialismus in Namibia – obwohl, nein, gerade weil er hier tägliches Brot ist.

Die Wut ist eine tragende Säule in der Tanzkunst, weil sie Mut erzeugt. Dieser Mut ist nötig, um herauszutreten aus der angeblich schützenden Blase, dem täglichem Tanztraining und Feilen an der eigenen Technik. Beides ist notwendig, aber nur deshalb, um mindestens die Verbindung des Tanzes mit genau der Welt zu erreichen, auf der getanzt wird. Tanz steht nie für sich. Natürlich tanzt man sich gern in Rausch und Trunkenheit, so ganz allein in einer Masse von Ravern. Aber in der Kunst berührt der Tanz den Boden, auf dem er tanzt. Dann meint er mehr als nur das Ego des Tanzenden, sondern mindestens auch das Publikum und noch darüber hinaus: Denn es gibt in der Kunst keinen Tanz an und für sich. Es gibt nur „Tanz und …“ (Kolonialismus, Parkinson, Überschreitung …).

Ausschnitt aus dem Film „Nimîhtowin Askîhk | Dancing the Land“

Und nur diese Kombination erlaubt es auch, über Tanz denken und schreiben, forschen und recherchieren zu können, und zwar so, dass dieser Kunstform eine Bedeutung zukommt, als eine Kunst des Körpers, um den Körper als Kunst zu betrachten, als The Body’s Art.

Erst Wut und Mut machen die Grenzen, die einen umschließen, sichtbar. Tanz, so er eine Kunst ist, macht die Grenzen sogar weltweit deutlich – in jeder Kultur, in allen Gesellschaften, weil alle in Bewegung sind, nicht erstarren, weil es beständig rumort und dieses Gefühl der Unruhe zwangsläufig die Menschen in die Bewegung versetzt, die vielleicht nicht immer zu einem vollendeten Plié verführt, aber einen weiterbringt und Hindernisse überwinden lässt.

Das Ensemble Iveroni

Das Ensemble Iveroni

Diese Geschichten stehen in tanz.dance, und folgen immer mehr in diesem zweisprachigen Journal des Fernwehs, der unbarmherzigen Neugierde auf all das noch Mögliche und Machbare. Der Körper ist unser einziges Werkzeug, das ein Bewusstsein von Welt verleiht. Bleibt neugierig, zahlt auch mal für gute Geschichten und hebt sie als Lesezeichen auf Euren Computern auf. Schaut über den Tellerrand und habt Lust auf den Tanz in dieser Welt.

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