Der Sommer 2022 kannte nur einen Party-Talk: die documenta fifteen in Kassel, das Scheitern der größten, nichtkommerziellen Kunstshow der Welt. Dass da mitten in Deutschland antisemitisch deutbare Werke gezeigt wurden, war der ganz große Aufreger. Stückweise wurde daraufhin die Kunst demontiert oder man hat sie, wie Hito Steyerl, selbst entfernt. Klar ging es um Antisemitismus. Doch der Party-Talk war sich einig: Der Kunst, vielmehr der Freiheit der Kunst, geht es an den Kragen.
Denn zu oft gelang es der intellektuellen Denkhöhe nicht, darüber nachzudenken, warum sich Fratzen, die das Jüdische beleidigen, überhaupt in den Vorhang eines weltweit gezeigten, indonesischen Kollektivs verirren konnten. Nimmt man, vielleicht auch mal mit Empathie, die Perspektive Indonesiens ein, dann war Hitlers Angriff auf die Niederlande im Mai 1940 der Beginn der Unabhängigkeit dieses Riesenlands von seinen niederländischen Besatzern. Kriegsbedingt reifte Indonesien neun Jahre und viele Opfer später zu einer Militärdiktatur. Niemand darf erwarten, dass vor 1998 – Indonesiens eigentlicher Unabhängigkeit – irgendein Bildungssystem die leiseste Absicht hatte, autokratische Mächte in Frage zu stellen. In Jakarta wird heute noch dem Deutschen ein freudiges „Heil Hitler“ entgegen geschmettert. Auch das ist ein Relikt des Kolonialismus, eines einst von Deutschland ausgehenden Kriegs gegen die Freiheit der Menschen.
Dekolonialisierung ist somit nicht nur eine Geste der Entschuldigung oder die Rückgabe von Raubkunst. Es ist ein Akt, ausnahmslos alle Folgen des Kolonialismus weltweit verstehen zu lernen, anstatt, wie geschehen, bei sich überkreuzenden Opferdiskursen – die jüdische versus die indonesische Kultur – nur reflexhaft Partei zu nehmen.