Grenzen sind Chancen

Raphael Hillebrand ist Tänzer, Choreograf, deutscher Politiker und Breaker: ein Wütender, einer, der als Künstler viel Anlauf nehmen musste. Geboren in Hongkong. Seine Mutter ist Deutsche. Sein Vater stammt aus Westafrika.

Christoph Leib

Das Theater will dreifach gut sein. Gut zum Bürger. Gut zur Kultur. Und gut zum Zeitgeist. Gut zu sein, gehört zum Wesen des Theaters, das sich nicht vorwerfen lassen will, etwa rassistisch zu sein. Doch verträgt sich dieser Anspruch wirklich mit der Realität innerhalb der Institution? Der Fall Raphael Hillebrand lässt daran Zweifeln.

Raphael Hillebrand

Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, sagte eine Bäckerei-Verkäuferin mit fragendem Unterton: «Ohhh, was bist du denn für ein kleiner Süßer?» «Ich bin ein Chinese», antwortete ich voller Stolz. Sie stutzte, sah mich noch einen Moment an und arbeitete weiter. Meine dunkle Haut, dazu die für mich selbstverständliche Antwort – das hatte sie überfordert. Sie hatte es gut gemeint, sie wollte nett sein, aber sie wusste nicht, wie. Denn als ich nach Deutschland kam, dachte ich, ich sei Chinese, weil ich in Hongkong geboren wurde. Dann erklärte man mir, dass ich Afrikaner sei, weil ich väterlicherseits afrikanische Vorfahren habe.

Raul Arcangelo

Raphael Hillebrand wurde 2020 als einer von drei Tanzschaffenden im Rahmen des Deutschen Tanzpreises geehrt – der höchsten deutschen Tanzauszeichnung. Man könnte auch sagen: Erstmals wurde ein farbiger Tänzer in Deutschland für seine künstlerische Arbeit anerkannt.

Frank Joung

Raphael Hillebrand

Ich weiß, wie exklusiv die akademische Szene sich selbst in Szene setzt – als Club einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Auch wenn ich glaube, dass es Leute gibt, die keine Hautfarbe sehen, bin ich enttäuscht, wenn jemand meint, behaupten zu dürfen, dass es in Deutschland keinen Rassismus gäbe, weil man ja auch schwarze Tänzer beschäftige.

Park Aue

Erik Born in «Die Unbehausten» von Raphal Hillebrand, Berlin 2019

Natürlich gibt es in Deutschland People of Color, wie man sie nennt, ein Begriff, der einst die freigelassenen Sklaven bezeichnete. Und natürlich gibt es sie schon lange, die farbigen Tänzer. Der Brasilianer Ismael Ivo etwa oder der 1996 auf einer Kölner Bühne tödlich verunglückte James Saunders aus Philadelphia oder der Star des Ballett Frankfurt, Stephen Galloway, der später die Rolling Stones choreografiert hat. Es ist es nicht so, dass eine Person of Color in der Kulturszene Deutschlands eine Seltenheit wäre. Warum ist dann Raphael Hillebrand der erste, der – wohl nicht nur – wegen seiner Hautfarbe von der Tanzkunst geehrt worden ist? Als der erste Urban Dancer überhaupt.

Raphael Hillebrand

«The only good system is a soundsystem.» Auch wenn diese Kritik am System nicht ganz so analytisch ist wie die von Marx und Engels, hat sie etwas Rebellisches und Revolutionäres. Zumal die Hip-Hop-Kultur als Kultur der People of Color entstand. Aber Hip-Hop wurde eingemeindet, weit mehr als die People of Color selbst. Hip-Hop wurde Teil des Mainstream, obwohl die Bewegung ausgestattet ist mit einer Geschichte, die auf ein kulturelles Erbe verweist und damit auf geschichtliche Umstände, die ganz sicher nicht so rosig sind wie die bunten Blousons und fetten Karren, mit denen Hip-Hop heute vermarktet wird. Hip-Hop heute, das wäre eine Kultur nicht nur mit einer Geschichte, sondern auch mit einer Verantwortung für diese Geschichte.

Gino Addi

Das Interview

Im Gespräch ist es ist ein Vergnügen, ihm und seinem Temperament zuzuhören, da alles, was er sagt, nie den exklusiven Dünkel einer Minderheit abstrahlt, sondern ernstlich an den Grundfesten und damit an den Grenzzäunen der Gesellschaft rüttelt. Eine Kostprobe.

Raphael Hillebrand, schwarze Musik nennt man gerne «Urban», weiße Musik nennt sich «Country». Man spielt also Stadt gegen Land, was wohl verbergen soll, dass es eigentlich um Schwarz gegen Weiß geht. Gilt das auch für den Tanz?

Raphael Hillebrand: Stadt gegen Land ist klar eine Metapher für Schwarz gegen Weiß, und natürlich gibt es eine «Color Line» auch zwischen weißen Tänzen und ihren Traditionen wie Ballett, moderner und postmoderner Tanz, und den afroamerikanischen Tänzen, den Tänzen der Kolonialisierten wie etwa Jazz, Rock ‘n’ Roll, Lindy Hop, Break, Krump, Poppin’, Lockin’, House Dance, die alle unter den Begriff «Urban» fallen. Auf Grund einer weißen Mehrheitsgesellschaft gibt es eine Hierarchie zwischen diesen beiden Traditionen.

Gerade Lindy Hop oder Rock ’n‘ Roll werden aber vor allem von Weißen getanzt.

Das stimmt, weil diese Tanzformen den Schwarzen weggenommen wurden. Aber das gilt nicht für Hip-Hop, der einen globalen Volkstanz darstellt. Hip-Hop entstand nicht aus der Gewalt der Gangs, sondern unter dem Druck von weißer Vorherrschaft und kapitalistischer Ausbeutung. Die Energie, die wir spüren, wurde von dieser Mehrheitsgesellschaft in neue Bahnen gelenkt. Es passiert ein Prozess des White-Washing und am Ende wird geleugnet, woher die Tänze eigentlich stammen. Dass wir denken, der King of Rock ‘n’ Roll war ein Weißer, ein Elvis. Dieses Denken hat mit Macht und strukturellem Rassismus zu tun. Auch Street Dance ist ein weißer Begriff, weil die weiße Mehrheit ihn nur auf der Straße sieht, nicht in unseren Küchen, Wohnzimmern oder bei Familienfesten. Das Wort «Street Dance» ist assoziiert mit einer Unterschicht, die auf der Straße lebt, nicht mit der Oberschicht, die einen Ballettsaal oder ein Theater hat.

Ich sehe bei uns mehrheitlich weiße Breaker im mehrheitlich weißen Berlin.

Es gibt ein tolles Zitat aus New York: «They took jazz music away from us, they took rock ‘n’ roll away from us, but they never could take hip hop away from us, because we gave it away for free.»

Darum geht es: einen gleichberechtigten Raum ohne weiße Vorherrschaft zu schaffen, in dem die Ursprünge des Hip-Hop historisch anerkannt sind, damit sich auch Weiße in diesem Raum bewegen können. Es gibt nicht diesen umgedrehten Rassismus im Hip-Hop, der die Weißen verachtet, auch jetzt nicht in #blacklivesmatter-Zeiten nach dem Tod von George Floyd. Im Ernst aber: Die meisten wissen nicht, dass Hip-Hop und sogar House Musik aus der schwarzen Community stammen.

Wäre man als Weißer nur ein Gast im Hip-Hop?

Ich sehe mich so, als Gast, ja. Ich bin in einer weißen Familie aufgewachsen, ich habe eine weiße Mutter, und obwohl ich attackiert werde, als Person of Color, ist es nicht das Gleiche, denn ich bin zur Schule gegangen, aufs Gymnasium, ich bin privilegiert. Warum hat Vartan Basil von der Breakdance-Formation Flying Steps sich als ein Geflüchteter aus dem Libanon hier solche Anerkennung verschaffen können? Warum ist der Breakdancer Amigo ein Nachkomme türkischer Gastarbeiter, die man wegen ihrer Muskelkraft und nicht wegen ihrer tänzerischen Intelligenz geholt hat? Das sind Karrieren, die nicht in der Ballettschule vorgezeichnet werden, sondern sich im Hip-Hop entwickeln. Es gibt einfach überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationsgeschichte, die unter Diskriminierung leiden und es im Hip-Hop zu etwas bringen.

Die damit dem urbanen Tanz ein Gesicht geben und eigene Schutzräume für sich reklamieren. In Berlin, weil wir hier leben, sind das etwa das Ballhaus Naunystraße oder das Maxim-Gorki-Theater. Widersprechen solche Schutzräume nicht der so gern geforderten «Integration»?

Das Konzept «Integration» hat ein Problem. Es erwartet von mir, mich zu unterwerfen. Warum? Weil ich nicht weiß bin? Meine Muttersprache ist Deutsch. Niemand braucht mich zu integrieren. Wenn Weiße mich wegen meiner Haut integrieren wollen, zeigt das doch erst recht, wie rassistisch unsere Gesellschaft denkt. Niemand darf wegen seines Aussehens oder seiner Herkunft benachteiligt werden. Also geht es gar nicht um Integration. Wichtiger wäre es, von Gleichstellung zu reden. Gleichstellung können wir nur durch selbstbestimmt Orte erreichen – jenseits von rassistischen Begriffen wie «Leitkultur» und «Integration». Ich fordere viel mehr Integrationskurse für Weiße, die ein Problem mit meiner Haut haben.

Noch mal nachgefragt: Es gibt ein Tanztheater orthodoxer Juden, es gibt rein schwarze Kompanien wie das Alvin Ailey American Ballet Theater. In diesen Kategorien wird eine Identität gefeiert, die sich abgrenzt. Ist das hilfreich?

Ja, und zwar deshalb, weil die Separation tatsächlich existiert. Darum braucht man einen eigenen Ort zum Denken und Atmen, der dir in diesem Machtungleichgewicht Zugang zur Kultur verschafft, um überhaupt auf Augenhöhe zu kommen, um eine kulturelle Vielstimmigkeit erst herzustellen. Da gab es 2020 den Versuch bei Sandra Maischberger, Rassismus allein unter Weißen zu debattieren, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in Berlin, dort, wo Bismarck 1885 Afrika unter lauter Weißen aufteilen ließ in koloniale Staaten, deren Einwohner diese Entscheidung noch heute als einen Stiefel auf ihrem Genick empfinden. Im 2021 wiederholte sich dasselbe im WDR. Nichts gelernt. Dabei geht es nicht um Schuld. Diskriminierung hat nichts mit böser Absicht zu tun, sondern mit dem Wahrnehmen von Verantwortung als weißer Europäer. Zu ihnen zähle ich mich dazu.

Ist der Tänzer Raphael Hillebrand auch deshalb Mitgründer und Bundesvorsitzender der Partei «Die Urbane»?

Ja, weil es, anders als in Senegal oder Vietnam, hier erlaubt ist, eine Partei zu gründen, die sich in diesem Fall gegen den Eurozentrismus stellt. Es ist eine antirassistische Partei, die sich vom Antirassismus der Grünen und der Linken darin unterscheidet, dass kulturelle Vielfalt für uns nicht etwas ist, das ein Problem darstellt, sondern diese Vielfalt als das größte Potenzial unserer Gesellschaft betrachtet. Dass ein Israeli neben einem Palästinenser neben einem Polen in Berlin lebt und tanzt, ist kein Problem, sondern die Lösung.

Raphael Hillebrand hat seine Crews wie «Battle Squad» und «Animatronik», arbeitet aber auch mit fremden Ensembles etwa am Berliner Theater in der Parkaue in «Die Unbehausten», um Fragen zu stellen wie: Wem gehört die Fußgängerbrücke, der Platz vor dem U-Bahnhof, die Freifläche zwischen den Häuserblocks? Wem gehört die Stadt? Zuhause gelten die Regeln der Eltern. Hier kommt auf den Tisch, was sie bezahlt haben. Aber draußen auf der Straße sind die Regeln noch nicht aufgestellt. Hier verhandeln wir neu und kämpfen zusammen um die Stadt.

Park Aue

Die Macht erhaltende Kunstform

Unser Gespräch fand statt, kurz nachdem er aus Chemnitz zurückgekehrt ist. Er war eingeladen, mit der dortigen Ballettkompanie ein eigenes Format für junge Choreografen zu entwickeln, «Made In Chemnitz». Sogar das Fernsehen war da. Die Ehrung für Hillebrand war dem ZDF einen rührenden Beitrag wert. Vor der Kamera sagte der 38-Jährige brav, es sei eine Preis für alle Urban Dancers. Und eine für alle mit anderer Hautfarbe. In Chemnitz stieß er auf eine Kompanie «mit sehr wenigen in Deutschland geborenen Menschen, die sich dem Prinzip weißer Vorherrschaft unterwerfen und die ganz erstaunt waren, dass ich keine patriarchalen Handlungsaufforderungen oder Befehle erteile». Nach einer Arbeit am Staatstheater Oldenburg ist Chemnitz die zweite Erfahrung mit einer, wie er es nennt, «Macht erhaltenden Kunstform, die in sich strikt hierarchisch organisiert ist. Ballett heißt: Ordne dich unter, denn es gibt etwas Höheres, das absolut und richtig ist.»

Unter dem Sammelbegriff Urban Dance versteht er dagegen das Ausleben einer sehr realen gesellschaftlichen Wut: «Da ist so viel Druck drin, der muss raus, da ist zu viel Druck in der Lunge für viel zu wenige Trompeten.»

Dialogic Movement

Raphael Hillebrand hat diesen Wortwitz, sein Tatendrang ist ansteckend. Nicht nur ist er Mitgründer dieser kleinen Hip-Hop-Partei «Die Urbane», auch will er den in Berliner Jugendkulturzentren betriebenen Street Dance mit dem Theater versöhnen. Jahrelang hat er sich dazu als eloquenter Moderator in seinem Format «Dialogic Movement» an einem Brückenschlag zwischen urbanen Tanzformen und zeitgenössischem Tanz versucht, nachdem er sich mit seinem Studium am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz in Berlin ein Sprungbrett geschaffen hatte: mit famos getanzten, narrativen Soloarbeiten und mit dem Publikumserfolg «Drei Brüder», das 2013 als «Bestes Deutsches Tanzsolo» in Leipzig ausgezeichnet wurde. Inspiriert durch seinen Lehrer, Niels «Storm» Robitzky, hat er den Respekt der zeitgenössischen Tanzszene ebenso gewonnen, wie er vor Jahren den «Battle of the Year 2006» und den «2vs2» beim Breakdance Event IBE in Rotterdam gewann und Ruhm auch in der Urbanen Szene gesammelt, um etwa in Dresden die Breaking Crew The Saxons mit der Elbland Philharmonie Sachsen zu konfrontieren: als ein «Urbanes Tanztheater».

Die Crew The Saxons in «Symphonix», Dresden 2017

Zeitgenössischer Tanz und Hip-Hip miteinander zu versöhnen, Avantgarde und den Volkstanz der Jugend, das beginnt – wie hier 2017 mit der Dresdner Crew The Saxonz – bereits mit der Aufgabe, eine nur selten von Kulturgeldern ernährte Bande mit den Gesetzen der Bühne vertraut zu machen. The Saxonz sind gezwungen, Umsätze durch Imagefilme für die Stadt Dresden oder die sächsische Landesregierung zu erzeugen, als durch eine direkte Förderung. Raphael Hillebrand ist hier ein Mittler, der aus ihrer eigenen Mitte stammt.

Christoph Seidler

Am Herrentag im Mai sind Raphael Hillebrand und ich durch Caputh spaziert, durch eine Ortschaft bei Potsdam, in der sich Albert Einstein einst ein Haus errichten ließ. Als Person of Color eine weiße Dorfgemeinschaft im Brandenburgischen zu betreten, löste ohne Vorwarnung abgrundtiefen Hass und verbale Attacken aus. Er möge sofort verschwinden, habe hier nichts zu suchen. Raphael Hillebrand ging sofort auf Angriff, duckte sich nicht, keilte zurück. Hat da einer, mitten in Deutschland, eine unsichtbare Grenzlinie überschritten, als er ein Dorf der weißen, betrunkenen Männer betrat? Woran hätte einer wie Raphael Hillebrand die Grenzen erkennen können, von deren Festungstürmen aus immerzu gerufen wird: Integriert Euch! Worein? Und vor allem: Hilft hier wirklich das Theater? Der Tanz? Die Kunst? Und wie kommt ausgerechnet das Theater auf die Idee, für Antirassismus zuständig zu sein?

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Wie kommt ausgerechnet das Theater auf die Idee, für Antirassismus zuständig zu sein?

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Tanz und Rassismus – Erstmals wurde in Deutschland ein farbiger Tänzer geehrt: Raphael Hillebrand. Einer, der eine Grenze überwunden hat: zwischen Urban Dance und zeitgenössischem Tanz. Die Ressentiments aber bleiben. Und Fragen: Wie kommt ausgerechnet das Theater auf die Idee, für Antirassismus zuständig zu sein?

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