Ein Blick in die Küche von tanz.dance

Ein Blick in die Küche von tanz.dance
Tanz-und Tafelfreuden mit der Formation Showcase Beat Le Mot

Alexej Tschernyi

Spannend recherchierte Reportagen und eine sinnliche Begegnung mit der Tanzkunst in bildreichen Erzählungen samt Tiefgang: Aus diesen Zutaten entsteht in zehn Gängen eine kulinarische Weltreise zu den Menschen und Kulturen, ihren Konflikten und ihren Künsten.

Es war einmal,

da tanzte man anders als früher, man malte auf einmal anders, komponierte auf einmal anders, filmte auf einmal anders, dichtete auf einmal anders. Immer dann, wenn die Kunst etwas anderes tat, als die Kultur von ihr erwartet, kam sie auf: die Kritik, die keineswegs immer nur dagegen war, dass man anders tanzte oder malte oder komponierte, sondern die diese Irritation, die von den Künsten ausging, zum Anlass nahm, öffentlich darüber nachzudenken, warum die Kunst sich ändert und weshalb dieselbe Welt von gestern im Heute so anders gesehen, gehört und beschrieben wird.

Eine solche Kritik fand immer in den Medien statt, traditionell in Zeitungen, später im Rundfunk und nun im Internet.

1. Gang:

Vielleicht ist es heute so, dass die Medien vor allem das Unglück und den Skandal so brauchen, wie andere Menschen Zucker. Vielleicht ist es ein Gesetz der Medien, dass der Vorwurf sexueller Übergriffigkeit an einer Ballettschule, der Vorwurf rassistischer Äußerungen in einer Tanzkompanie oder die Blasphemie, den Feminismus herauszufordern, für den Tanz schon deshalb notwendig sind, um überhaupt noch mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. So wie es Florentina Holzinger geschehen ist.

“Ophelia’s Got Talent” von Florentina Holzinger

Nada Žgank

Die Reportage über die Wiener Choreografin Florentina Holzinger ist bei tanz.dance ein Bestseller. Bei ihr gibt es die ins Groteske gezogene Darstellung von Gewalt oder die explizite Penetration der damals schon fast 80-jährigen nackten Ballerina Beatrice Cordua durch eine nackte Frau mit umgeschnalltem Dildo. „In diametralem Gegensatz zu der kuscheligen und zum Narzissmus neigenden Körperpassivität oder den Fragen nach Herkunft, Zugehörigkeit und Identität, die den zeitgenössischen Tanz seit Jahren prägen, dominiert hier eine große mentale und physische Kraft“, schreibt Helmut Ploebst. Ein Ärgernis für manche, die Florentina Holzinger als eine Anti-Feministin begreifen, während sie sich selber fernhält von der „Korrektheitswelle“. Denn ihr geht es vor allem um die Lust an herausfordernden Abenteuern und einer ständigen Grenzüberschreitung.

2. Gang:

Vielleicht ist es genau das, was die Welt jetzt braucht, da doch gerade überall Grenzen überschritten werden, wenn aus dem Frieden ein Krieg ausbricht in der Ukraine, in Israel und anderswo. Viel zu schnell gewöhnt man sich etwa daran, dass sich in Israel keine einzige kulturelle Stimme mehr erheben kann, solange die Theater geschlossen sind.

Ganz anders in der Ukraine. Die Autorin Polina Bulat berichtet in tanz.dance ergreifend, welche Rolle der Körper spielt im Angesicht einer so existenziellen Bedrohung wie dem russischen Angriff. Da wird klar, wie wichtig etwa in Kiew gerade der Tanz zwischen den Alarmsirenen geworden ist, wie wichtig die Tanz-Sceancen der Choreografin Khrystyna Slobodyanyuk sind nach dem Terror der Bombardierung des Akademischen Dramatheaters in Mariupol, in dem 2000 Zivilisten Zuflucht suchten. Mehr als 600 Menschen starben unter den heute sorgfältig von Russland verscharrten Trümmern des Theaters. Tanzen hilft nicht nur den Menschen in der Ukraine, sondern auch den zahllosen Geflüchteten nach Polen, Deutschland, Frankreich und anderswo.

3. Gang

Vielleicht ist es so, dass aus der Gewissheit, dass nicht nur die Welt, sondern auch das Wetter aus den Fugen gerät, seit geraumer Zeit das Klima solche Fakten schafft, vor denen die empörte Hilflosigkeit der Gesellschaft nicht wirklich hilft. Selbst ein Schuldeingeständnis der Industrie oder das Gelöbnis der Besserung durch politische Maßregelung dürften so wenig nützen wie Regentänze bei anhaltender Dürre. Natürlich führt das vor allem zu Fluchtbewegungen.

Und beschert Ländern wie Grönland einen ungeahnten Aufschwung. Am Polarkreis findet sich eine wachsende Tanzkultur, die nicht etwa rückwärtsgewandt auf eine längst vergangene Inuit-Kultur abzielt, sondern ein Bündnis geschaffen hat, das in der skandinavischen Tanzlandschaft zu einem immer reger werdenden Austausch arktischer Bühnenkünste und ihrer sehr eigenen Ästhetik führt. Sie belebt nun auch die kleine Hauptstadt Nuuk, ein Boomtown, weil immer mehr internationale Bergbauunternehmen von hier in Grönlands Norden ziehen, um dank schmelzender Eisschichten neue Bodenschätze zu bergen. Während die Kinder der Familie das Tanzen lernen.

Römisches Amphitheater in Aspendos, Türkei und Minen-Landschaft auf der griechischen Insel Milos

4. Gang

Vielleicht ist Bergbau nicht immer schlecht, nicht im archäologischen Sinn. Das Graben in der Geschichte mag rückwärtsgewandt erscheinen, aber manchmal dient es auch dazu, verschüttete Techniken neu zu bergen, etwa die einer richtig starken Tanzlust.

In Usbekistan, in einer winzigen Provinz namens Khoresmien, arbeitet die Choreografin Gavhar Matyokubova. Getanzt wird hier zu jedem Anlass: Lazgi heißt die Kunst, aus einem Zittern heraus den gesamten Körper in Bewegung zu versetzen. Das sieht aus, als würden 3000 Jahre alte Lebensgeister erwachen. Gavhar Matyokubova hat es nicht nur geschafft, diesen antiken Tanz in die Liste des UNESCO-Welterbes zu hieven, sondern sorgte mit aller Kraft auch dafür, dass sich Lazgi von jenem Kitsch der Folklore reinigen kann, der noch immer als Relikt aus Sowjetzeiten in der Hauptstadt Taschkent wie eine märchenhafte Fälschung unterrichtet wird.

5. Gang:

Vielleicht ist Tanz überhaupt ein Indikator dafür, wie frei oder unfrei es in einer Gesellschaft zugeht. Was in Europa gilt – je geringer die Förderung des Tanzes, desto autoritärer die Gesellschaft –, gilt erst recht in Iran. Hier, nur wenig südlich von Usbekistan, ist der Tanz im Namen einer sehr eigenwilligen Koranauslegung für Frauen in der Öffentlichkeit sogar ganz verboten.

Aus dem Film “1001 Nights Apart”

Sarvnaz Alambeigi

Als die Aufstände in Iran mit Tänzen begannen, fing die mühsame aber lohnende Suche an, in Iran einen Autor zu finden, der sich traut, die lange Geschichte der Unterdrückung des Tanzes zu erzählen und nach Beweggründen zu suchen, die zu diesem in der muslimischen Welt einmaligen Tanzverbot geführt haben. Der Autor fand das Verbot nicht in der Religion, sondern im System selbst, das es im ständigen Misstrauen gegenüber dem Volk über Generationen hinweg geschafft hat, öffentliche Äußerungen zu zensieren. Der Tanz ist nur ein Opfer dieses Misstrauens. Wie kurze Momente der Liberalisierung sich abwechseln mit um so fundamentalerer Zensur, hat zu einer Reportage geführt, die sprachlos macht.

“Lemniskata” von Lukas Avendaño

Jaime Martin

6. Gang

Vielleicht geht es viel öfter um Mord, als man es dem friedliebenden Tanz ansehen möchte. Welcher Zeuge kann noch stillhalten, wenn er Himmel und Erde in Bewegung setzen will, weil die Wut in den eigenen Körper fährt?

Wie in Mexiko, in dem das Morden ein Teil der gesellschaftlichen Normalität zu sein scheint. Er steht dagegen auf: Lukas Avendaño, ein indigener Künstler seines Landes, frei genug, anders zu denken und zu handeln, als es die Normen vorschreiben. Er leistet Widerstand, durch Tanz und seinen nackten männlichen Körper, den er jenseits der Bühne gern in einen Rock hüllt. Ihn hat über Wochen der Journalist Juan Levid Lázaro Nava begleitet, nicht nur aus Bewunderung für seine offene Queerness, sondern auch für den Mut, der Avendaño überkam, als 2018 sein Bruder, wie so viele, als Mordopfer spurlos „verschwand“. Mut ist eine Haltung, die jenseits aller choreografischen Finesse zählt: als ein aufrechter Gang in einem Riesenstaat, indem, wie Làzaro Nava schreibt: „die Stummen übersehen werden, die Übersehenen stumm bleiben.“

7. Gang

Vielleicht ist es nicht immer nur Unrecht und Unterdrückung, die dazu führen, mit politischer Haltung zu tanzen. Oft ist es die einfach zutiefst menschliche Sehnsucht nach Gemeinschaft, die in einer Choreografie von Gleichen für einen Moment die Differenzen nivelliert.

Peter von Heesen

An der deutschen Ostseeküste im Grenzverlauf zu Polen hat sich eine solche Gemeinschaft gebildet, in einer eher dünn besiedelten Landschaft namens Vorpommern. Viele kennen die Küste als Ort der Sommerfrische. Kaum aber sind die Ferien vorbei, sorgt seit zwanzig Jahren eine Initiative namens Perform[d]ance dafür, dass Choreografierende aus aller Welt auf tanzbegeisterte Menschen treffen, die hochmotiviert und einander zugewandt sind. Selbst wenn der Tanz nicht dafür verantwortlich wäre, dass Kinder besser lernen und Alte nicht nur alte Sprüche klopfen: Diese starke Fotostrecke von Peter von Heesen wie auch die Reportage von Elisabeth Nehring beweisen, wie hell die Stimmung werden kann, wenn man sich auf das politische Tier einlässt, das ganz körperlich in einem selber steckt.

8. Gang

Vielleicht geht es auch darum, mal nachzuhaken, was Vorurteile gegenüber dem Tanz wirklich bedeuten. Das Landvolk, das angeblich keinen kulturellen Horizont habe, gehört ebenso zum üblichen Missverständnis wie alte Leute, die angeblich nicht tanzen – weil ihnen der Eros fehle.

Inoue Yashiko III

Inoue Yachiyo IV

Inoue Yashiyo V

Inoue Yasuko (rechts)

Völlig falsch, schreibt John Barrett, ein fundierter Kenner der japanischen Kultur und Sprache. In Kyoto hat er Inoue Yachiyo V besuchen dürfen – die Großmeisterin eines klassischen Tanzstils namens Kyomai. Es ist der Tanz der Geisha, der ein äußerst kunstvolles Können erfordert, das sich mit fortschreitendem Alter immer fester verbindet mit dem Charakter von Meisterschaft. Sie gelangt erst gegen Ende eines Lebens – Barrett konnte es am Nationaltheater in Tokio erleben – zu voller Blüte. Mit Inoue Yachiyo V als fünfte Nachfolgerin einer langen Tradition des Kyomai ein ausführliches Gespräch über diesen alte Tanzstil führen zu dürfen, empfand er als ganz großes Glück. Für uns besteht es darin, kaum sonst einen so tiefen, authentischen Einblick in die klassische japanische Tanzkunst erhalten zu können.

9. Gang:

Vielleicht ist das Alter auch überschätzt, weil es dazu neigt, die Vergangenheit sinnlos zu beschönigen und ins milde Licht der Verklärung zu rücken. Früher war alles besser? Ganz sicher nicht. Historische Aufsätze wird man allein deshalb in tanz.dance nicht finden.

“Kontakthof” von Pina Bausch

Ursula Kaufmann

Aber wenn es um das weltberühmte Tanztheater Wuppertal geht, gibt es nichts zu verklären. Nicht bei Jo Ann Endicott, der Tänzerin, die es wagte, ihr jüngstes Buch zu den Ereignissen nach dem Tod von Pina Bausch bei tanz.dance zu publizieren. Ihre Erinnerungen sind keine Memoiren, sondern beschreiben einen langen Kampf aus den Eingeweiden des Tanztheaters. Entstanden ist eine Reportage, die niemanden persönlich angreift, aber um so schonungsloser und humorvoller das komplizierte Verhältnis darstellt, das ein Tanzerbe samt diverser Begehrlichkeiten und Eitelkeiten den Nachlebenden hinterlassen hat. Sie beschreibt das herrlich genussvoll.

10. Gang:

Vielleicht ist Genuss das Wort, das am ehesten zutrifft beim Wunsch, auch mal unter die Decke der Bürgerschaft zu schauen, die den zeitgenössischen Tanz oft viel maßgeblicher mitbestimmt, als ihm lieb sein kann.

Das jüngste Opfer der Bürgerschaft heißt Trajal Harrell, dessen immense Produktivität zuletzt er der Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble verdankt. Seine Ära in der Schweiz hat die Journalistin Lilo Weber sehr genau verfolgt, inklusive der Disruption mit der Bürgerschaft, die mit den nun scheidenden Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg 2025 auch Schluss macht mit diesem großen, sturen Tanzkünstler aus New York: Trajal Harrell. Seinem Ensemble in Zürich droht nun dasselbe Schicksal wie dem Ballet of Difference des Choreografen Richard Siegal in Köln. Weber geht angesichts des politischen Beschlusses präzise der Frage nach, was diesen Hochbegabten so bekannt gemacht hat – da doch Trajal Harrell im Moment ganz Paris in Scharen ins Theater treibt.

Ein Blick in die Küche von tanz.dance
Alexej Tschernyi

Und was steht demnächst auf dem Herd? Cheung Fai aus Shanghai berichtet über die Tanzszene in China und ihren forschenden Umgang mit Virtueller Realität und Künstlicher Intelligenz. In den Backofen schiebt Torben Ibs gerade einen Braten aus Südkorea, in dem ein ganzes Tänzerleben zwischen Ost und West schmort. Und auf dem Wochenmarkt in Island schaut sich derzeit Paula Diogo nach den ganz frischen Geschichten um.

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