Die Tanzfestivals von Europa

Wieder ausgeladen: "Russian Roulette" der litauischen Choreografin Aira Nagineviūtė

Fluidis

Anders als Sehenswürdigkeiten zeigen Tanzfestivals ihren Gästen lebendige Menschen. Hier findet Ihr Europas Tanzfestival. Immer aktuell. Der Auslöser, sie für Euch zu suchen, war eine von einem Skandal begleitete Tanzreise nach Kaunas.

Journalismus lebt davon, einen Skandal zu machen. Hier ist er. Litauen liegt im Baltikum. Im Westen Russlands Enklave Kaliningrad, im Osten Weißrussland. Für einen Skandal braucht es da nur einen Tanzschritt.

Litauen, eingebunden in die EU und NATO, steht an der Frontlinie und lebt vom Handel mit Russland. Jede Sanktion gegen Moskaus Machthaber findet hier ein Loch im Netz. Fische für Kaliningrad sind das große Geschäft dieses Ostsee-Anrainers.

Der Bürgermeister von Kaunas, einem Städtchen mitten in Litauen, heißt Visvaldas Matijošaitis. Er ist der Gründer eines Unternehmen, dass zum zweitgrößten Fischlieferanten nach Russland aufstieg, der Vičiūnų grupe. Eine solches Unternehmen braucht gute Beziehungen. Und die hat er. Seine Stadt regiert der machtvolle Stadtobere schon in vierter Amtszeit, also eine gefühlt Ewigkeit. Wenn in Kaunas ein Festival stattfindet, dann mit „seinem“ Geld, der städtischen Förderung. „ConTempo“ heißt das Ereignis und wird von der herrlich umtriebigen Gintarė Masteikaitė organisiert. Sie lud eine Performance ein, die am Ufer einer der beiden Flüsse stattfinden sollte, die sich in Kaunas vereinigen, Neris und Nemunas. Die litauische Choreografin Aira Nagineviūtė und ihre Mitstreiterinnen, Erika Vizbaraitė und Arūnas Adomaitis, wollten eine Kalaschnikow in den Baum hängen. Vor dieser Waffe würden sie in einem Baum baumelnd dem Schwebezustand der aktuellen Bedrohung ins Auge sehen.

„Russian Roulette“ – nicht in Kaunas, sondern in Vilnius

Fluidis

Dazu kam es nicht. Das Amt des Bürgermeisters teilte der Festivalleiterin Gintarė Masteikaitė mit, dass die Einladung dieses Stücks mit dem vielsagenden Titel „Russisches Roulette“ die Streichung sämtlicher Fördermittel für das Festival im kommenden Jahr zur Folge hätte. Punkt. Dasselbe beschloss bereits der Bürgermeister von Klaipėda an der Küste von Litauen. Beide Würdenträger sind ehemalige Milizionäre, also Polizisten aus Zeiten, als Russland noch das Sagen im Land hatte. Beide Herren pflegen gute Beziehungen zu ihrem ehemaligen Arbeitgeber.

Es ging ein Raunen durch die kleine Stadt. Natürlich hat der Bürgermeister von Kaunas seine große Handelsfirma für Fisch und Konserven längst seinem Sohn überschrieben. Just in dem Moment, als das Festival seine Zensur erfuhr, wies die EU mindestens einer dieser der Vičiūnų grupe zugeordneten Filiale nach, elf von der EU sanktionierte Güter nach Russland transportiert zu haben, darunter Radlager, die für die Herstellung von Panzern benötigt werden.

Gintarė Masteikaitė

Vidmanto Balkūno

Trotzdem. Gintarė Masteikaitė, der Festivalleiterin, blieb nichts anders übrig, als nachzugeben. Die ausgeladene Choreografin Aira Nagineviūtė schrieb mir: „Noch vor einem Jahr fand genau diese Aufführung ohne Probleme auf der Mindaugas-Brücke in Vilnius statt. Die Entscheidung der Stadträte von Klaipėda und Kaunas, die Genehmigung für die Aufführung zu verweigern, ist wirklich alarmierend. Es fühlt sich an, als wäre die Stimme des Tanzes zum Schweigen gebracht worden – etwas, das ich nicht einmal zu Sowjetzeiten erlebt habe. Einen solchen Rückschritt jetzt zu erleben, ist sowohl schmerzhaft als auch unverständlich.“

Die alte Polizeiturnhalle in Kaunas

Helena Waldmann

Schauen wir uns das Festival „ConTempo“ genauer an: Es ist ein Abenteuerspielplatz. Da betritt man mitten in der Stadt eine ehemalige Polizeiturnhalle, in der mutmaßlich auch die beiden Bürgermeister von Kaunas und Klaipėda ihre Leibesertüchtigung erhielten.

Krišjānis Sants und Erik Eriksson auf dem „ConTempo“ Festival

Gražvydas Jovaiša

Nun wirbelt das Publikum mit den Tänzern Krišjānis Sants und Erik Eriksson über den sonnendurchfluteten Holzboden durch den historischen Turnsaal, bis allen, Tänzern wie Zuschauenden, schwindelig wird. Sants und Eriksson fassen sich kreuzweise an den Händen und schleudern ihre Körper im Kreis. Das Publikum weicht aus, sucht Deckung von der Wucht, traut sich bald näher heran, sucht die Umlaufbahn des litauisch-schwedischen Paars mitzubestimmen, Demokratie auszuüben an einem Ort, den kein Tourist je zu sehen bekommt.

„Ultraficción nr. 1 – Fracciones de tiempo“ von El Conde de Torrefiel

Claudia Borgia, Lisa Capasso

„ConTempo“ in Kaunas ist eine Reise durch die Stadt, die jedes gewöhnliche Sightseeing übertrifft. Das Publikum gelangt in die entlegensten Winkel der alten Stadt, quert die Aleksotas-Brücke, die „längste“ Brücke der Welt. Einst galt hier, an der ehemaligen Grenze Russlands, der julianische Kalender, auf der preußischen Seite gegenüber der gregorianische Kalender. Bei der Überquerung bewältigte man den Zeitunterschied von dreizehn Tagen. Von hier aus geht’s weiter an einer Verkehrsinsel mit Einkaufszentren und an einer noblen Gated Community vorbei in ein verwunschenes Restaurant, um nach leckerer Stärkung einen Park zu betreten. Dort erlebt man vor einer gewaltigen Leinwand die Kompanie El Conde de Torrefiel aus Barcelona: Mitten durch die Vorstellung treibt sie eine Schafsherde durchs Publikum. Unvergesslich.

Unvergesslich, weil man das Festival selbst mehr erinnert als nur einzelne Aufführungen. Solche Tanzfestivals wie „ConTempo“ sind Leuchttürme des Tourismus. Sie laden zu einer anderen Art des Reisens ein, abseits üblicher Städtetouren mit Shopping und Besichtigung von Kirchen, Altstädten, Schlössern. Sie führen Menschen zueinander, lassen körperlich spüren, wie es um die Städte und ihre Kulturen wirklich steht.

Weiterlesen …

Europas Immerwährender Tanzfestival-Kalender

3,40

Zwischen Mittelmeer und Nordkap, zwischen irischen und litauischen Abenteuern von echten Körpern für echte Körper gibt es Monat für Monat unzählige Reisen. Hier ist sie, die sich ständig aktualisierende Übersicht der Tanzfestivals Europas.

Klicke auf ein Land, in das Du reisen willst, lege den Monat fest, in dem Du es besuchen möchtest.

… oder als Lover kostenlos weiterlesen