Im Wald

Anne Teresa De Keersmaeker - Forêt
"Forêt" von Anne Teresa De Keersmaeker, Némo Flouret und der Kompanie Rosas in den Galerien des Louvre

Anne Van Aerschot

Jeden Tag stehen lange Schlangen vor den Toren des Louvre in Paris, um alte Kunst zu sehen. Nur manchmal, in der Nacht, kann man vor diesen Meisterwerken sogar tanzen. Die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker hat sich diesen Traum erfüllt.

Die Brüsseler Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker entwickelte in den heiligen Hallen der Grand Nation ein Tanzereignis mit einem sehr schlichten Titel: „Forêt“. Sie führte ihr Ensemble hinein in die weltberühmte Gemäldesammlung voller Meisterwerke der italienischen Malerei von Leonardo Da Vinci (oh, „La Gioconda“, ah „Mona Lisa“). Und weiter zu Giotto und Raffael, Tiziano und Tintoretto, Caracci und Caravaggio. Und weiter in die roten Säle, in die französische Abteilung aus der Blütezeit des Akademismus und der heroischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts: David, Delacroix, Prudhon, und natürlich Géricaults „Das Floß der Medusa“. Alles Leid, aller Schmerz, aller Tod der Jahrhunderte sind fixiert in Öl und in die Ewigkeit gerahmt – ein Unort. Wer es je geschafft hat, den Louvre zu betreten angesichts der bloß vom bloßen Zusehen immer länger werdenden Warteschlange vor der Pyramide von Pei … muss schon selber wissen, wie sehr man für die Kunst zu leiden bereit ist.

“Forêt” von Anne Teresa De Keersmaeker, Némo Flouret und der Kompanie Rosas in den Galerien des Louvre. Der Herr in rot ist Alain Franco.

Anne Van Aerschot

„Forêt“ von Anne Teresa De Keersmaeker bot 2022 die seltene Chance, eine von fünfhundert Zuschauenden zu sein, die einen Abend lang in den Louvre vordringen durften. Sie verloren sich sofort und gleichsam exklusiv in der ehemaligen Residenz der französischen Könige, so, als sei man allein ein Zeuge dessen, wie all diese Gemälde über die Jahrhunderte hinweg miteinander sprechen und einen dichten Wald bilden, eine Wucherung von Bildern, eben einen „Forêt“.

In diesem Tanzwerk von Anne Teresa De Keersmaeker betrat neben einem Dutzend Tanzschaffender ihrer Brüsseler Kompanie Rosas auch ein älterer Herr das kostbare Parkett. Zwei Ghettoblaster schleppte er mit seinen breiten Schultern, De Keersmaekers Musikdramaturg und Pianist Alain Franco, ein Berserker unter den Musikmonteuren. An ihn geht die Frage, wie man dieser erdrückenden Geschichtsbeladenheit des Palastes, diesem in zahllosen Facetten gegossenen Spiegel der Geschichte der Nation auch nur einen einzigen Klang entgegenschleudern kann. Der Mann im Pullover, der fast gebückt unter dem gewaltigen Musikglobus sämtlicher je zur Kunst erklärten Klänge in dieser nach Respekt heischenden Szenerie aus klassischen Meisterwerken, antwortet:

Ich würde behaupten, wenn es um Geschichte geht, ist es nicht viel anders als üblich. Es gibt historische Werke – eben Malerei, Kompositionen, Musik, Architektur –, die ihre ästhetischen Behauptungen aus der Vergangenheit bezeugen, und die auf uns übertragen sind zur Archivierung. Denn dazu sind Museen da. Genauso wie die Partituren. Es sind Bilder von Musik, die bei uns angekommen sind, damit wir mit ihnen unsere eigenen Analysen und Auseinandersetzungen führen. Mehr ist Geschichte nicht: eine Sammlung von Zeugnissen davon, wie sich ein vergangenes Subjekt und Individuum verhielt zu den mehr oder weniger großen Ereignissen ihrer Zeit.“

“Forêt” von Anne Teresa De Keersmaeker, Némo Flouret und der Kompanie Rosas

Anne Van Aerschot

Steigen wir mit ihm hinauf in die zweiten Etage, in den Denon-Flügel des Louvre, wo die Mona Lisa hängt. Mona Lisa beherrscht quasi die Kreuzung, die zu den riesigen Sälen führt. Kein Weg führt an ihr vorbei. Hier steht Alain Franco, ein Pianist von Weltrang, mehr noch, eine belgische Instanz innerhalb der Tanzszene: als Musikdramaturg, wie er sich nennt, bewandert in der Geschichte der europäischen Klangkunst und ein reflektierter Tüftler, unverzichtbar nicht nur für Anne Teresa De Keersmaeker, sondern auch für andere belgische Tanzkunst-Größen, für Jan Lauwers, Meg Stuart, Claire Croizé, Elisabeth Borgermans, und für Tanzkompanien aus anderen Teilen Europas, von Raimund Hoghe über Isabelle Schad, Deufert und Plischke bis hin zu Silvia Costa. Es scheint, der Tanz braucht einen wie ihn. Sogar dringend. Einen Denker, der gleich erzählen wird von der Freiheit der Kunst, ihrem Willen zur Revolution und ihrer Unfähigkeit, sich selbst zu revolutionieren.

Weiterlesen …

Music for Dance Revolutions

3,27

Für Tanz, sagt Alain Franco, braucht man keine Musik. Denn es ist nicht der Takt, der uns tanzen lässt. Es ist die Zeit selbst, die der Tanz aus den Angeln hebt.

mit Audio

… oder als Lover kostenlos weiterlesen