Reisen auf Russisch

"Der Nussknacker" von Vasily Vainonen

Natasha Razina

Dies ist die atemberaubende Reise ins Land des Nussknackers und ins Land der freiwilligen Selbstzensur – eine Geschichte voll korrupter Mäusekönige und Duckmäuserei, verzweifeltem Tanz-Idealismus und einem zweifelhaften Verständnis von Tradition

Mit schöner Regelmäßigkeit sind die Balletthauptstädte Moskau und Sankt Petersburg mindestens einen Monat lang im Jahr mit dem Kampf um Karten beschäftigt. Seien es Karten für die Tschaikowski-Interpretationen des „Nussknacker“ in der Fassung eines Lew Iwanow am Petersburger Mariinsky-Theater aus dem Jahr 1892, oder der „Nussknacker“ als Meisterwerk von Juri Grigorowitsch aus dem Jahr 1966 am Moskauer Bolshoi-Theater, oder die jüngste Ballett-Interpretation von Juri Possokhov im Moskauer Stanislawski- und Nemirovich-Danchenko-Theater, ebenfalls in Moskau: Was für ein fieberhaftes Anstehen für eine festliche Show aus Zuckerfeen und Mäusekönigen. Aus dem ganzen Land kommen die Besessenen nach Moskau, um in langen Schlangen und noch in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden ein paar „Nussknacker“-Tickets für die Familie an der Kasse zu ergattern. Ein Ringen um ein Stück Kultur in einer Zeit der Verzweiflung und Trauer, um das Herz zu wärmen.

Bolshoi-Theater

Dabei sehen weder Moskau noch Sankt Petersburg aus wie Städte im Kriegszustand, auch wenn der Westen einem dies zuweilen Glauben machen will. Hier herrscht ein Kult des Konsums wie überall.

Das Bolshoi als internationale Marke

Aber nur hier, mehr als anderswo, gilt ein „Nussknacker“ als ein Leckerbissen der Güteklasse A, inklusive Selfies an allen Ecken des prunkvollen Bolshoi-Theaters.

Stolz in der Loge

via Flickr

Sie sollen zeigen: Wir haben es geschafft, tatsächlich Karten zu bekommen. Sie zu ergattern, ist zuweilen richtig gefährlich. Es gab schon handfeste Schlägereien, in russischer Lesart also Unruhen.

Wladimir Georgijewitsch Urin in dem Dokfilm “Bolshoi Babylon”

Nick Read, Mark Franchetti/BR

Die führten – zumindest offiziell – mit zu der Entlassung des langjährigen Bolshoi-Intendanten Vladimir Urin im Jahr 2023. Urin hatte offen gegen den Ukraine-Krieg gestimmt, ebenso wie zahlreiche Mitstreitende, oft Balletttänzer mit Kultstatus wie Artem Ovcharenko oder Vladimir Shklyarovm, aber auch Stars wie Diana Vishneva, die in Sankt Petersburg 2012 das renommierte „Context“-Ballettfestival gegründet hatte.

Diana Vishneva in “Subject to change”

Natasha Razina

Es war allerdings derselbe Vladimir Urin, der 2017 auch die Premiere von „Nurejew“ zu verhinderte suchte, eine Produktion des Choreografen Juri Possokhov in der Regie des mittlerweile inkriminierten Regisseurs Kirill Serebrennikow. Der mutmaßliche Grund: Das Kulturministerium sah Widersprüche zu geltenden Gesetzen gegen „homosexuelle Propaganda“, und ein offen homosexuell lebender Nurejew sowie sein Abbild als Männerakt durch den Fotografen Richard Avedon würden russisch-orthodoxe Gefühle verletzen.

Kirill Semjonowitsch Serebrennikow

Dominique Brewing

Der Fall Serebrennikow, der als Leiter des Gogol-Zentrums in Moskau finanziell ausgetrocknet werden sollte, ist noch in sehr guter Erinnerung. Ihm wurde die Veruntreuung von Theatergeldern für das höchst erfolgreich realisierte Platforma-Projekt zur Popularisierung zeitgenössischer Kunst vorgeworfen. Es folgten eine Serie von Hausdurchsuchungen, bald gründlicher Hausarrest, schließlich Gefängnis, so dass „Nurejew“ erheblich verändert und nur ohne ihn über die Bühne ging. Der Anlass: Die russisch-orthodoxe Kirche war Sturm gelaufen gegen die Inszenierung des homosexuellen Startänzers Rudolf Nurejew. Am 22. Juni 2020 wurde Serebrennikow offiziell wegen Veruntreuung staatlicher Gelder schuldig gesprochen und zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt, was ihn nicht daran hat hindern können, wichtige Operninszenierungen in Zürich, Hamburg und Berlin, Wien und München per Videoschalte zu realisieren.

Valery Gergiev

Terry Linke

Vladimir Urins Schicksal war nicht tangiert durch dieses Nurejew-Ballett von Serebrennikow, das endgültig aus dem Spielplan des Bolshoi verschwunden ist. Es wurde besiegelt durch seinen Nachfolger: niemandem Geringeren als Valery Gergiev, ein enger Vertrauter von Wladimir Putin. Gergiev ist ein Soldat der russischen Kulturstiftung unter Putins Leitung. 35 Jahre lang hatte er zuvor als Dirigent von Weltruf das Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg geleitet. Als eine Säule des Putin-Regimes war er zuvor stets höchst willkommen gewesen an den Opernhäusern in New York, Bayreuth und München. Gergievs Orchester und das Bolshoi gastieren heute, wenn überhaupt noch, dann in China, Kasachstan oder Usbekistan.

Makhar Vaziev

Marco Brescia

Valery Gergiev ist nicht nur der Zar des Bolshoi geworden, sondern auch Direktor der Balletttruppe. Die Verantwortung für diese Kompanie trug seit acht Jahren Makhar Vaziev, jener Makhar Vaziev aus Sankt Petersburg, der seine Karriere am Mariinsky-Theater als Tänzer begann und der sich als der dortige Leiter der Balletttruppe – eben unter Valery Gergiev – dennoch international einen Namen machte: wegen seiner mutigen Neuinszenierungen und kühnen Rekonstruktionen („Dornröschen“, „La Bayadère“) und dabei höchstpersönlich für mehr internationale Durchlässigkeit sorgte: Georges Balanchine, Jiri Kylián, Hans Van Manen, William Forsythe – die Werke solch prominenter westlicher Choreografen setzte Vaziev auf den Sankt Petersburger Spielplan, auch gegen die Widerstände seines damaligen und wieder heutigen Chefs Valery Gergiev.

Damals verließ Vaziev Sankt Petersburg, wurde Leiter der Ballettkompanie im Teatro La Scala in Mailand. Erst nach sieben Jahre, 2016, kehrte er zurück, diesmal ans Bolshoi-Theater. Nun hat er denselben Chef wieder vor der Nase, einen Valery Gergiev, das Abbild eines alles dirigierenden Alleinherrschers. Er duldet keine Einwände und Zweifel und erstickt jeden Ausdruck persönlichen Willens, bevor dieser sich auch nur artikulieren kann. Für die Balletttruppe bedeutet dies einen drastischen Wechsel.

Alexei Ratmansky

Reto Albertalli/Rolex

Wehmütig erinnert sie sich an die Zeit eines Alexei Ratmansky (2004 bis 2008), der als Choreograf am Bolshoi demokratische Prinzipien innerhalb der Truppe möglich machte und den Solist:innen ein Mitspracherecht an der Gestaltung einer Choreografie ohne Wenn und Aber eingeräumt hatte. Nun kehren scheinbar alte Zeiten zurück: eine bedingungslose Unterwerfung der Kunstschaffenden unter den Willen ihres Meisters.

Das Bolshoi ist ein perfekter Spiegel des Staatswesens. Je flacher die Hierarchien der Balletttruppe, desto liberaler die Führung – und umgekehrt. Das Bolshoi lässt sich wieder als eine Kaserne denken, in der Gergiev die Kompanie des Bolshoi in soldatischer Manier befiehlt. Von ihr noch eine kreative Leistung zu erwarten, wäre äußerst spekulativ. Unerwünscht sind selbst minimale kreative Fähigkeiten. Als gefährlich gilt jedweder Anflug von Ambition. Noch trägt der Choreograf, Makhar Vaziev, leise die Last der Leitung und kann nichts daran ändern, dass er mit als Zerstörer des kreativen Potenzials der Ballettkompanie in die Geschichtsbücher eingehen wird.

Igor Tsvirko als Herman in “Pique Dame”

Damir Yusupov

Die jüngste Ballettpremiere am Bolshoi ist das sogar genaue Abbild dieser neuen, alten Verhältnisse. Tschaikowskis „Pique Dame“ wird gegeben, allerdings zur Musik von Yuri Krasavin, in der Choreografie jenes Yuri Posokhov, der zuvor mit Kirill Serebrennikow noch so mutig den „Nurejew“ auf die Bühne zu bringen versuchte. Krasavins Musikstil kann man leicht mit Filmmusik à la Hollywood verwechseln. Vertraute Motive aus Tschaikowskys Oper „Pique Dame“ werden hier sehr lebendig, auch ruppig interpretiert, dabei sanft eingebettet in lauter Häppchen aus anderen Werken des Komponisten, natürlich geschickt und kunstvoll arrangiert und angereichert mit vokalen Einlagen, die von einem Countertenor interpretiert werden und einem süßlichen Verfremdungseffekt dienen mögen. Das Orchester leitet der erfahrene und nervöse Pavel Klinichev hervorragend, das Hollywood-Konglomerat tönt aber ebenso leer wie Posokhovs Choreografie vor lauter Banalität schmerzlich in die Augen sticht.

Vladislav Lantratov und Denis Sevin in “Pique Dame”

Damir Yusupov

Yuri Posokhov hatte zu Beginn seiner Karriere am Bolshoi-Ballett getanzt, später etliche große Shows glänzend inszeniert. Nun aber gibt es wieder ein Ballett mehr, das tunlichst auf Inhalt verzichtet. Alles was geschieht, dient einzig dazu, die Bühne mit bewegten Tänzerinnen und Tänzern zu füllen. Und es darf so geschehen, dass Puschkins Erzählung, die der Oper von Tschaikowsky zugrunde liegt, dem Publikum ebenso bereits bekannt sein dürfte wie man es als natürlich hinnimmt, dass sich das Ballett sehr deutlich von der Opernfassung unterscheidet. Nun stammen Skript und die Dramaturgie von Valery Pecheykin, und genau das gibt zu denken, denn dieser kritische Geist war bekannt und geachtet eben für seine Zusammenarbeit mit dem nicht minder kritischen Geist von Kirill Serebrennikov im Gogol-Zentrum. Jetzt spiegelt er wie ein schwarzes Loch die Materie, die weder intelligente Verweise auf Puschkin noch auf Tschaikowsky kennt.

Roland Petit, hier mit Zizi Jeanmarie

Klaus Rabien

Während der Vorstellung spürt der Autor diese kalte, von der Bühne herabwehende Leere und erwischt sich bei seiner etwas arg sehnsüchtigen Erinnerung an die so viel berühmtere „Pique Dame“ des französischen Choreografen von Roland Petit, die dieser 2001 am Bolshoi-Theater zur Sechsten Sinfonie von Tschaikowsky inszenierte hatte, damals ohne jeden Eingriff in die Musik. Es brillierten Nikolai Ziskaridze, der heutige Leiter der Petersburger Ballettakademie, und Ilze Liepa in den Rollen von Hermann und der Gräfin, die sich in einem Anfall von Inspiration zwei sehr düstere und geheimnisvolle, leidenschaftliche und bezaubernde Bühnencharaktere geschaffen hatten. Heute bewegt sich der Tänzer Igor Tsvirko noch immer elegant und schön über die Bühne so, wie er es gelernt hat, aber seiner Darbietung fehlt jeglicher Gedanke an eine Darstellung. Das Wechselspiel zwischen einem Ball in Versailles und einem Ball in Petersburg sowie dem berühmten Kartenspiel, bei denen die Spielkarten selbst tückisch tanzen, bleibt so hohl wie inhaltlich folgenlos. Der Corps de ballet ist makellos. Man erledigt seinen Job, fügt keinen weiteren Gedanken hinzu, investiert nicht länger in sich selbst oder in eine Idee. So ist das Bolshoi. Eine Kaserne der Kunst eben.

Georgy Smilevski und Oksana Kardash als „Romeo und Julia“

Svetlana Avvakum

Verlassen wir dieses große Haus. Besuchen wir das Stanislawski und Nemirovich-Danchenko Theater in der gleichen Stadt. Vor dem Krieg – ich meine den gegen die Ukraine – wurde diese Truppe fünf Jahre lang vom französischen Étoile Laurent Hilaire geleitet. Der Pariser Ballettstil zog in die Hauptstadt ein und verzauberte die vom russischen Stil geprägte Tanzkultur in Moskau. Hilaires Nachfolger heute ist Maxim Sevagin, der diesen Posten im zarten Alter von 25 Jahren übernommen hatte. Bevor er in seiner Karriere diesen gewaltigen Sprung machen durfte, choreografierte er am selben Haus „Romeo und Julia“ von Prokofjew, gemeinsam mit dem angesagten Regisseur Konstantin Bogomolov. Da ging es um zwei abgebrühte Verliebte aus Verona, zwei alternde Routiniers der Liebesschmach, unfähig, dieser einfältigen Handlung noch irgendeine andere Bedeutung zu verleihen als die der artistisch-bravurösen Beinarbeit. Dank Maxim Sevagin sah man eine Parodie auf das Ballett. Und dann gab’s da noch eine nicht minder deprimierende „Schneekönigin“ mit Auszügen aus mehreren Symphonien von Tschaikowski, wohl in der Absicht, die Musik dieses Meisters russischer Klangkunst vollständig zu zermürben.

Nacho Duato

Bettina Stöß

Gehen wir nach Norden, nach Sankt Petersburg. Hier hatte der Spanier Nacho Duato am Mikhailovsky-Theater sein Glück bis 2014 versucht. Er ging erfolglos nach Berlin, aber nur, um 2019 auf seinen Thron im Petersburger Opernhaus zurückzukehren, zurück in die Arme des skandalumwitterten Opernchefs Wladimir Kechman. Dieser wird von allen der „Bananenkönig“ genannt, er gilt als äußerst korrupt. Sein Theater ging mehrfach bankrott. Aber stets gab er trotzdem den großen Reformer, renovierte das Mikhailovsky-Theater und lud progressive Regisseure ein wie Andriy Zholdak, Dmitry Tcherniakov, Vasily Barkhatov und Arno Bernard. An Kechman wird ganz besonders deutlich, wie sehr sich Russland verändert hat. Aus diesem scheinbar der Moderne zugewandten Kechman wurde von einem Tag auf den anderen ein rechtschaffener Anhänger des konservativen Theaters, das auf jede Interpretation zu verzichten vorgibt und allein dafür da zu sein scheint, den derzeit üppig wachsenden Bürgerbart im Parkett zu streicheln.

Natalia Osipova mit Leonid Sarafanov in “Julietta” von Nacho Duato

Stanislav Levshin

2023 war das Jahr, als Russlands Theaterdirektoren des öfteren gehen mussten und ausgetauscht wurden, natürlich diejenigen zuerst, die gegen den Krieg protestiert hatten. Niemand hob jedoch die Hand gegen Kechman, der als „sozial nah“ gilt, als ein Mann des Volkes. Unklar bleibt unter Kechman, wie Nacho Duato, ein unabhängiger und westlicher Künstler, dort überhaupt noch weiter existieren kann. Natürlich schufen seine „Überarbeitungen“ der klassischen Ballette Russlands wie „Dornröschen“ und „Der Nussknacker“ keinen neuen Stil oder erneuerten gar das Verständnis für solche Meisterwerke. Sie sind einfach nur Auftragsarbeiten gewesen und nicht zu vergleichen mit dessen eigenen Inszenierungen, in denen sich Duato als ein konsistenter, organischer, subtiler und origineller Choreograf beweist. Solche Stücke stehen notwendigerweise nicht mehr auf dem Spielplan.

Das Mariinsky-Theater St. Petersburg

Mariinsky-Theater

Neben dem Mikhailovsky-Theater ist es vor allem das Mariinsky, das erste Balletttheater in Sankt Petersburg. Auch dort wartet man nicht etwa mit glänzenden Premieren auf, sondern tanzt die Errungenschaften der Vergangenheit. Das Repertoire von Makhar Vaziev wird dort ebenso noch getanzt wie die Ballette des legendären Alexei Ratmansky, jenes Choreografen, der sich offen gegen Putin gestellt hat, gegen den Krieg protestierte und heute, in sicherer Entfernung, am American Ballet Theatre in New York seine neue Heimat gefunden hat. Auch wenn Ratmanskys Werk in Petersburg noch gezeigt wird, sein Name findet sich im Programmzettel nie. Das Verschweigen ist üblich. Zu groß ist die Gefahr, der Propaganda durch „ausländische Agenten“ bezichtigt zu werden.

Und das droht nun jenem Alexej Ratmansky, der zwei Jahre lang “Die Tochter des Pharao” rekonstruiert hatte, das erste abendfüllende Ballett von Petipa in Russland. Mit Beginn des Ukrainekriegs, kurz vor Fertigstellung, haben Alexej und seine Frau Tatjana das Land verlassen. Seitdem prangt unter diesem Werk der Name Toni Candelero, der in zwei Monaten das Werk im Auftrag des Mariinsky vollendete und sich selbst als der Autor des Werks bezeichnet.

“Petruschka”

Marc Haegeman

Es ist aber nicht so, wie man aus meiner Erzählung zu hören meint, dass alle Welt auf russischem Territorium nun tief gebeugt über die Bühne schleicht. Nein, da sind kleine  aufstrebende Bewegungen im Gange, fern von Moskau, etwa durch Olga Tsvetkova, die in Sankt Petersburg eine Neue Tanzakademie gegründet hat. Oder die Ballette von Vladimir Varnava, der im Mariinsky „Petruschka“ zur Musik von Igor Strawinsky und die „Jaroslawna-Eklipse“ auf die Bühne gebracht hat – voller Sarkasmus und Groteske. 2017 war das gewesen. Heute arbeitet Varnava erfolgreich vor allem im Schauspiel – zusammen mit Regisseuren wie Maxim Didenko und dessen Musical „Lauf, Alisa, Lauf“ im Moskauer Taganka-Theater – man sieht da: Anti-Putin pur.

Vor allem Vladimir Varnavas letztes Ballett im Mariinsky-Theater, „Jaroslawna-Eklipse“, verdient eine besondere Aufmerksamkeit. Das Stück mit der Musik des Avantgarde-Komponisten Boris Tishchenko wurde erstmals 1974 im Leningrader Maly Opernhaus aufgeführt und seinerzeit wahrgenommen als großartig in seiner politischen und sozialen Aussage im Kontext der damaligen ideologischen Normen der UdSSR. „Jaroslawna-Eklipse“ ist wie eine Antwort auf Borodins Oper „Fürst Igor“. Der Choreograf Oleg Winogradow, der Regisseur Juri Lubimow und der Tänzer Nikita Dolgushi widersprachen dem traditionellen Stoff und hatten kein Mitleid mit Fürst Igor, der seine militärischen Kräfte überschätzt und die Schlacht gegen die Mongolen und Tataren verloren hatte. „Jaroslawna-Eklipse“ verurteilt offen die  Selbstgefälligkeit und den Stolz von Igor. Er hat den Krieg angezettelt, er hat diesen Krieg verloren, und Igors Handlungen haben verzweifeltes Leid über das Volk gebracht.

Alexey Miroshnichenko

Jack Devant

Kein Wunder, dass „Jaroslawna“ wieder populär ist. Im Dezember 2023 inszenierte es Alexei Miroshnichenko in Perm, in Europas östlichster Millionenstadt. Seit 14 Jahren (mit einer Unterbrechung von drei Jahren) leitet Miroshnichenko die dortige Balletttruppe. Die musikalischen Interpretation besorgte Artyom Abashev, der dank der Abwesenheit ausländischer Dirigenten an den Moskauer Opernhäusern in Russland zu einem der nun führenden Musiker aufgestiegen ist. Alexei Miroshnichenko und Artyom Avashev schufen ein Ballett, in dem der Protest gegen den Krieg als ein komplexes System wahrgenommen wird, aus Bildern, die sich mit der avantgardistischen Ästhetik von Yuri Lubimov und dem Freiheitsgedanken des russischen Avantgardismus der 1910er und 1920er Jahre zu decken scheinen. Für den russischen Führer mit seiner Selbstgefälligkeit und Frechheit gibt es keinen anderen Ausweg, als nach der Niederlage sein Haupt mit Asche zu bestreuen und zu trauern, bevor er das zerstörte Land für immer verlässt. Ein Schelm, wer da falsche Vergleiche zieht.

Teodor Currentzis

Julia Wesely

Der Fall Miroshnichenko erlaubt einen etwas genaueren Einblick in das kreative Leben des Balletts zumindest in den Regionen, die weit genug von Moskau und Sankt Petersburg entfernt sind. Als Absolvent der Vaganova-Ballettakademie in Sankt Petersburg brachte Alexei Miroshnichenko die Perm-Truppe zunächst einmal auf Trab und machte zusammen mit Teodor Currentzis, der hier lange als künstlerischer Leiter fungiert hat, die Oper zu einem russischen Trendsetter. Perm gilt spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg als eine Theaterstadt. Hierhin war die Vaganova-Ballettakademie aus Sankt Petersburg evakuiert worden. Seitdem genießt gerade das Ballett besondere Prominenz in Perm, die sich festmacht auch an dem angesehenen Ballett-Wettbewerb „Arabesque“, der jetzt den Namen Ekaterina Maximova trägt.

Zu Teodor Currentzis Zeiten versuchte Perm, eine moderne Stadt zu werden, mit einem Museum für moderne Kunst, mit Festivals und avantgardistische Zeichen in Form von schlichten, bedeutsam wirkenden Skulpturen, die überall im Stadtbild aufgestellt wurden. Heute ist von all dem kaum noch etwas übrig, außer dem Diaghilev-Festival, das in vollem Umfang im Frühsommer und in verkürzter Form kurz vor Neujahr stattfindet. Die kulturelle Bedeutung der Stadt ist spürbar verblasst.

“Youkali” von Teodor Currentzis

Diaghilev Festival

Im Dezember 2023 fand hier die Premiere des Performances „Youkali“ statt, die von Teodor Currentzis im Rahmen des Minifestivals „Diaghilev +“ geleitet wurde. Die Lieder mit Texten von Bertolt Brecht und anderen Dichtern, die in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von Kurt Weill intoniert wurden, dienten als musikalisches Material. Die Komponisten, Teodor Currentzis selbst, Vangelino Currentzis, Andreas Moustoukis, Alexei Retinsky, Alexei Syumak und FM Einheit schufen 2023 ihre eigenen Versionen dieser Lieder. Die nahe am Weill-Original angelehnten Arrangements oder auch radikal neuen Interpretationen der Lieder sind auf die künstlerischen und kreativen Fähigkeiten des Klangkörpers von musicAeterna ausgelegt und verwenden oft nicht-akademische Instrumente – von Elektronik bis Theremin, von präpariertem Klavier bis Banjo. Die Songs bildeten auch die Grundlage der Tanzperformances mit der Beteiligung der Tanzgruppe des St. Petersburger Radio-Hauses – musicAeterna Dance. Die Regisseurin Anna Guseva und die Choreografin Anastasia Peshkova schufen eine Inszenierung mit gut fünfzig Mitwirkenden, um eine Art surrealistisches Kabarett zu kreieren. Es gibt keine durchgehende Handlung, dafür eine deutliche, alle Nummern verbindende Spur von Inhalt samt offenem Finale. Die Handlung findet im Wartesaal eines Bahnhofs statt, in dem alle auf die Züge in das unerreichbare, nicht-existierende Land des Glücks namens Youkali warten. Die Regisseurinnen kennen sich gut aus in der Landschaft des zeitgenössischen Tanzes und bedienen sich seiner Sprachen, ohne ihre eigene darauf zu pfropfen. Man traut wie blind der Musik, die die Ideen des verrückten Kabaretts wie von selbst neu formuliert und das in überraschend aktuellen Bildern: Da wird eine Kanone mit gelben Blumen gefüllt, zwei Mädchen küssen sich hartnäckig und lange (angesichts des offiziellen Verbots jeglicher homosexuellen Thematik in diesem Land), zum Schluss kleiden sich alle Bühnenfiguren schmuck in die Zwangsjacken eines Irrenhauses.

“Different Trams” von Evgeny Panfilov

Sergey Glorio

Es war in Perm, in der auch Evgeny Panfilov erstmals auftauchte, ein Choreograf des „Freien Tanzes“, der für seine Truppe seine eigene Sprache und seine von niemandem ausgeliehenen Körperbilder schuf.  Evgeny Panfilov war bekannt dafür, die Suche nach tiefgründigem Inhalt mit beeindruckenden theatralischen Formen zu verbinden. Er liebte die Bühnenexperimente, er schuf das weibliche „Ballett der Dicken“ und einen sehr männlichen „Fight Club“. Panfilov starb 2002, nicht mal 50 Jahre alt. Seitdem führt die Truppe traurig die Werke des Meisters fort oder begnügt sich mit oft unglücklich wirkenden Premieren.

“Frühlingsopfer” von Tatiana Baganova

Damir Yusupov

In Jekaterinburg, einer Millionenstadt auf der anderen Seite des Ural, ist die Tanztruppe namens Provinzielle Tänze dagegen noch immer voller Energie, geleitet von der wichtigsten zeitgenössischen Choreografin des Landes, von Tatiana Baganova. Sie hatte es in den 1990er Jahren geschafft, ihren eigenen Stil durchzusetzen und immer wieder den „Körper des heutigen Tänzers“ betont, den Körper einer Generation von Tanzenden, die mit anderen Erfahrungen ausgestattet waren als die der vorhergegangenen. Die größten Erfolge der Truppe sind trotz aller Energie vorbei. Ihre Gastspiele in Moskau, die gewöhnlich glanzvoll sind, waren zuletzt deshalb enttäuschend, weil wiederum eine neue Generation dieses Land mit wieder neuen Erfahrungen überzieht. Tatiana Baganova vermag es nicht, entsprechend neue, frische und aktuelle Bezüge wieder herzustellen.

In derselben Stadt Jekaterinburg hat sich der neoklassizistische Choreograf Vyacheslav Samodurov einen Namen gemacht. Nach seiner Karriere als Tänzer wurde er Chefchoreograf der Ural-Oper.  Er lud russische und ausländische Choreografen ein, organisierte Workshops für junge Ballettmeister und trotzte den Herausforderungen, die sich jedem Provinzballett  stellen. Immer wieder wollte er fort; Samodurov inszenierte längst erfolgreich auch am Bolshoi.

“Der bucklige Hengst” in der Version von Alexej Ratmansky

Natasha Razina

Aber immer wieder hat Intendant Andrey Shishkin seine Ural-Karriere verlängert, sich jedoch nur wenig schützend vor den Choreografen gestellt, weil dieser in seinem Ballett „Der bucklige Hengst“ den im märchenhaften Original geforderten Zaren, gemeint ist natürlich der russische Präsident, gegen einen weit weniger kontroversen kirgisischen Khan ersetzen musste. So wollten es die Oberen der Stadt. Erst jetzt, 2024, ist es Samodurov gelungen, Jekaterinburg zu verlassen, um im Sommer im Bolshoi das Ballett „Der Sturm“ nach Shakespeare zu Musik von Krasavin zu choreografieren.

Dmitry Gudanov als Albert in “Giselle” am Bolshoi in Moskau

Irina Lepnyova

Mit ebensolchen Tücken der Provinz kämpft auch Dmitry Gudanov am Opernhaus in Astrachan, der Stadt des schwarzen Kaviars an der Mündung der Wolga. Gudanov war einer der führenden Tänzer am Bolshoi. Kaum trat Makhar Vaziev in Moskau die Rolle des Chefchoreografen an, war Gudanov entlassen. Er versuchte sich als Choreograf und geriet nach Astrachan zu einer Balletttruppe, die ein trauriges Dasein gefristet hatte. Mit titanischer Anstrengung und in knapp zwei Spielzeiten erreichte er eine deutliche  Verbesserung des tänzerischen Niveaus und inszenierte erfolgreich mehrere traditionelle Stücke. Auch mit seinem eigenen Talent als Choreograf konnte er glänzen: Das Ballett „Pari“ strahlte dank der komplexen Beziehungen des großen polnischen Komponisten Frederic Chopin zur Schriftstellerin George Sand weit über Astrachan hinaus. Dennoch zwangen ihn die Anforderungen der Direktion, unerbittlich pragmatisch zu handeln, kommerziell statt akademisch zu denken und dem Volk zu gefallen. Seinen Arbeitsplatz hat er nach weniger als zwanzig Monaten soeben verlassen.

Die Rossi-Straße

Radu Poklitaru

Kehren wir zurück an die Sankt Petersburger Akademie des russischen Balletts, benannt nach Agrippina Vaganova, gelegen an der schönsten Straße der nördlichen Hauptstadt – der schnurgeraden Rossi-Straße. Diese Akademie, die Schmiede des russischen Ballettkaders, wird seit nunmehr zehn Jahren von ihrem Rektor Nikolai Ziskaridze geleitet. Einst war er Solist des Bolshoi-Theaters, ein herausragender Tänzer, dessen Ruhm weltweiten Widerhall fand. Mittlerweile hat er sich zu einem wahren Herrscher und Meister in dieser uralten Talentschmiede entwickelt. In seiner Akademie studieren gleichzeitig mehr als 600 Schülerinnen und Schüler. Einen Absolventen dieser Schule zu engagieren, ist für jedes Theater auf diesem Globus ein Ehre. Ziskaridze ist nicht nur Pädagoge, sondern auch Fernsehstar, einer, der Sendungen auf einem der fast ausschließlich staatlichen Programme moderiert. Kein Geheimnis ist, dass Ziskaridze schon seit langem und und ebenso lange erfolglos die Position des Intendanten des Bolshoi-Theaters anstrebt. Ziskaridze hat dennoch gute Chancen. Er ist ein Traditionalist und kritisiert offen alle Neuerungen im Tanz und in der Kultur. Er ist gebildet, belesen und konservativ genug, um nicht nur die grandios repräsentativen Räume der Akademie vor dem Zugriff einflussreicher Geschäftsleute zu schützen, sondern auch das Erbe im Museum der Akademie zu vermehren, etwa um das Kostüm von Vaslav Nijinsky in dessen Hauptrolle in „Le spectre de la rose“, das in diesem Museum wie eine Mumie in einem gläsernen Sarkophag ausgestellt ist und wie eine Reliquie gehütet wird.

Die Bolshoi Ballettakademie

Die Moskauer Akademie für Choreografie, die fünfzig Jahre jünger ist als ihre Schwester in St. Petersburg, eine Gründung unter Katharina II., ist da bescheidener und ihre Direktion weniger ambitioniert, um ihr traditionelles Ballettverständnis noch bis in die höchsten Ebenen der kulturellen Praxis zu tragen. Beide Akademien spüren natürlich, dass insbesondere ihr Personal, Tänzer:innen wie Choreograf:innen, Russland längst verlassen haben. Viele Positionen bleiben derzeit vakant.

In Russland wurden zuletzt das prestigeträchtige Festival und der Preis „Goldene Maske“ zerstört. 1994 von jenem soeben aus dem Bolshoi entlassenen Wladimir Urin initiiert, war die „Goldene Maske“ dank effizienter Arbeit von professionellen Expert:innen in der Lage, würdige Künstler:innen angemessen zu nominieren und auszuzeichnen, sowohl im klassischen Ballett wie auch im zeitgenössischen Tanz. Derzeit wird die „Goldene Maske“ nach einem Führungswechsel in eine weitere „staatliche Auszeichnung“ umgewandelt. Die Jury, die die Preisträger:innen auswählt, ist eine trübe Versammlung gehorsamer Beamter und „Kunstschaffender“, für die die Erfüllung der Anforderungen des Regimes vorrangig ist.

Die Zukunft der Künstler:innen in Russland ist entsprechend ungewiss. Derzeit ist der Grad an Selbstzensur in den Theatern so hoch, dass es sehr schwer ist, freien Ideen und freien Formen irgendeinen Einlass zu gewähren. Die eingangs beschriebene Inszenierung der „Pique Dame“, degradiert zu einer Art Tanzmusical, spricht Bände über ein Land, das vom Ballett nichts weiter verlangt als Gehorsam und Unterhaltsamkeit. Beides mag für eine Weile funktionieren – an Kunst aber ist in Russland derzeit nicht zu denken.

Abschied vom Ballett in Astrachan