Made in Bangladesh

Kind liegt unter Nähmaschine "Made in Bangladesh"
Margi Geerlinks: "Pinocchio"

Margi Geerlinks

Sport ist, wenn die Arbeiterinnen in den Nähfabriken in Bangladesh wie Mannschaften um die Wette nähen – bis zur restlosen Erschöpfung. Wer die höchste Stückzahl herstellt, ist Siegerin für einen Tag. Sieger in der Kunst sind die Kreativen etwa in den Tanzstudios, die an einem Markt teilnehmen, der stets verleugnet, sich wie ein Markt zu verhalten.

Boykottiert
nicht
unsere
Produkte

Jedes Kind weiß

wenn es drei Euro für ein T-Shirt ausgibt, ist das sehr billig. Es ist saubillig. Ein Schnäppchen. Es weiß sogar, dafür wurden andere ausgebeutet. Aber werde ich nicht auch ausgebeutet? Wer hat schon so viel Geld für ein Shirt? Warum sollte ich mir mit meinem Minilohn Sorgen machen um jene Minilöhne in einem fernen Land, das kaum einer kennt? Ausgerechnet Bangladesh: Niemand fliegt dort hin, niemand will dort bleiben, niemand kehrt heim und sagt, es war schön. Es ist schrecklich. Drei Euro für ein Shirt aus einem schrecklichen Land. Mehr ist nicht drin. Drei Euro für ein korruptes Land, das es laut Transparency International gerade mal auf Rang 146 von 177 beäugten Nationen schafft. Auf diesem Platz bleibt es, solange in seinem Parlament gut ein Drittel der Abgeordneten ein, zwei oder noch mehr Textilfabriken besitzen und mit Händen und Füßen dafür sorgen, dass ihre Preise auch weiterhin verhandelbar bleiben, dass die Gewerkschaften sich zurückhalten und die Kosten so gering wie möglich bleiben. Kann man ja verstehen, bei unschlagbaren drei Euro das Shirt.

Nafis Ahmed ist Fotograf in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesh. Seine Serie in strenger Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt die Lebenswirklichkeit der Textilarbeiterinnen. Hier: Fertig produzierte Jeans in einem Sweatshop, kleinen Handwerksbetrieben, die in der Hierarchie der Textilindustrie ganz unten stehen

Nafis Ahmed

Es ist ein stolzes Land

Dessen Lobbyisten wissen, dass die Hemden, Röcke, Blusen, Kleider, Anzüge, also alles, was man „Garment Industry“ nennt, die Haupteinnahmequelle bilden für diese kleine Nation mit 60 Millionen Menschen, von Indien umarmt, vom kriegerischen Myanmar begrenzt. Lobbyisten sind sie alle: die Fabrikbesitzer, die Gewerkschaftler, auch die Arbeiter. Quer durch die Bank sprechen sie über die hohe Bedeutung dieser für sie eher teuren Kleidung. Preise sind relativ. Stolz sind sie, weil sich Bangladesh erst 1971 blutig von Pakistan befreien konnte. Heute sprechen sie über „ihre“ Fabriken in einer Art wie sonst Deutsche über „ihre“ Autoindustrie, „ihren“ Maschinenbau und „ihren“ Export reden. Wie bei uns schwingt auch dort Angst mit. Denn wäre es nicht mehr „ihre“ Industrie, „ihre“ Errungenschaft, „ihr“ Kapital, dann haben sie nichts mehr. Die drei Euro für ein Shirt sind umso faszinierender, wenn man fragt, was dieser Preis in amerikanischen und europäischen Köpfen bewirkt. In Bangladesh müssen, ganz ohne Zweifel, Korruption, Kinderarbeit und kollabierende Fabriken vorherrschen. Obwohl man weiß, dass Fließband, Rationalisierung und 3D-Drucker längst erfunden sind, kann es bei einem so über-optimierten Preis nicht anders sein: In diesem schwülen Schwemmland an der Mündung des Ganges müssen Armut, Bestechlichkeit, Cholera, Dummheit und Elend grassieren – grauenhafte Arbeitsbedingungen. Wer sie vermeiden will, neigt dazu, ein T-Shirt für zwanzig Euro zu kaufen. Oft kommt es aus der gleichen Fabrik.

Shahana strahlt über das ganze Gesicht. Heute war Zahltag

Nafis Ahmed

Führende Aktivisten für die Rechte der Näherinnen demonstrieren vor dem Jatiya Press Club in Dhaka. In der Mitte die auch hierzulande bekannte Nazma Akter

Nafis Ahmed

Boykottiert nicht unsere Produkte

sagen die Arbeiter. Sie fügen gern ein „Bitte“ hinzu. Denn sie spüren es am eigenen Einkommen, wenn ein paar Wohlhabende im Westen beschließen, ihren Kindern das Vergnügen zu vergällen, gleich kiloweise Einmal-Shirts bei Primark oder Zara zu shoppen. Die Arbeiterinnen (sie stellen rund 80 Prozent) fürchten in Bangladesh ernsthaft um ihren Job. Man hat ihnen erzählt, welche Reaktion das grauenhafte Feuer in der Tazreen-Fabrik im November 2012 und der brutale Einsturz des neunstöckigen Fabrikgebäudes Rana Plaza im April 2013 bei den Endkunden im fernen Westen auslöste. Im ersten Fall hatte ein Aufseher sämtliche Türen mit Vorhängeschlössern versperrt, weil dieser zuvor nicht genügend darauf geachtet habe, die Baumwollstoffe vor Diebstahl zu schützen. Als das Feuer ausbrach, waren die Fluchtwege gut verschlossen und der Mann mit den Schlüsseln unauffindbar. Im jüngeren der beiden bekanntesten Fälle gab es einen der üblichen Stromausfälle. Als darauf die schweren Dieselgeneratoren mit ihrem typischen Beben ansprangen, brach am 24. April um 8.30 Uhr eine mit zu viel Sand versetzte Betondecke des Rana Plaza durch. Alle weiteren Stockwerke dieses nur als Bürohaus genehmigten Gebäudes stapelten sich in Sekunden wie Porzellanteller. Bei jeder solcher tödlichen Katastrophen, mitten im Desaster, im Angesicht des Verlustes der Kolleginnen, Verwandten, Freundinnen, ging in Bangladesh immer zuerst die Furcht um, dass wegen eines nun drohenden Boykotts im Westen die Einkäufer weiterziehen würden, dass sie die Kleidung anderswo ordern würden, dass jenes Schmiergeld, das die 5000 bis 8000 Fabriken dortzulande so schnell entstehen ließ, nun bei anderen Nationen ausgegeben würde. Inmitten der ohnmächtigen Trauer herrschte blanke Angst, dass ein Elend wiederkehren könnte, von dem sich die Bewohner von Bengalen bis heute nicht erholt haben.

Die fertige Ware, gerollt und  geschützt, bevor sie für den Export verladen wird

Nafis Ahmed

Das Elend

nahm seinen Anfang in einem ganz anderen Jahrhundert. Das Gebiet des heutigen Bangladesh, rings um seine Hauptstadt Dhaka, war weltberühmt für seine Webkunst. Das sehr leichte, halbtransparente, fließende Musselin, ein Blusenstoff aus Rohseide und Baumwolle, war bereits in der Antike gefragt. Hergestellt wurde es auf dem Land als ein Kunsthandwerk, das sich in den Familien immer weiter vererbte. 1757 übernahmen die Briten im Streich diese auch von Portugiesen und Holländern begehrte reichste Region im damaligen Indien. Sie übernahmen die Kontrolle über die Webstühle, deren Produkte auch in Persien, Ägypten und der Türkei hoch geschätzt wurden. Das Geld, das ins tropische Land floss, war noch nicht der billigsten Kleidung, es war einem der damals teuersten Webstoffe der Welt zu verdanken. Vor knapp 300 Jahren, wie heute wieder, wurden global gut die Hälfte aller Kleiderstoffe in Asien gefertigt – die besten davon im Gebiet von Bangladesh. Seidentücher, Hemden, Krawatten bestimmten die Mode des 18. Jahrhunderts in Europa. Von dort wurde sie zuverlässig über den Seeweg durch die seit 1660 hier ansässige britische East India Company geliefert. Die Edelfeder Daniel Defoe spöttelte damals sehr, als das bunte Musselin und das weiße Kattun in jeden Winkel Englands drang und diese bäuerlich trübe Insel erstmals in einen Ort distinguierter Modernität verwandelte.

Der Preis war ordentlich

Musselin kostete. Einen Preisnachlass errangen die Engländer erst durch die sogenannte Schlacht von Plassey 1757. Sie übernahmen ein Land namens Bengalen und konnten nun Steuern erheben. Die Einnahmen nutzten sie auch zum Erwerb des begehrten Musselin. Die Einkaufskosten sanken rapide. Hielten anfangs noch gut dreißig konkurrierende Händler die Preise relativ stabil, gab es schon 1797 nur noch drei Händler eines Kartells, das in gemeinsamer Scheinkonkurrenz die Preise um deutlich mehr als die Hälfte senken konnte. Und weil die „Wirtschaft“ florierte, konnte man sukzessive die Steuern erhöhen, die die bengalischen Manufakturen den Briten zu zahlen hatten. Um die höheren Abgaben zu erwirtschaften, mussten sie immer mehr Stoff liefern. Und weil in immer höherer Stückzahl produziert wurde, um die Steuerlast zu tragen, sank wiederum der Preis. Das militärisch gut gesicherte Staatsmonopol quetschte so das Letzte aus den Arbeitern heraus. Das Luxusgewebe wurde immer billiger – für die Händler. Nur Europas Konsumenten spürten nichts davon. Sie zahlten Preise, die das Monopol bestimmte.

Moni, alleinerziehende Mutter, und ein Kontrolleur der Helix Garment Factory in ihrem Zuhause in Ashkona, einem Armenviertel von Dhaka unmittelbar neben dem Hazrat Shahjalal International Airport

Nafis Ahmed

Und die Europäer waren begeistert

Das bekannteste Musselin-Produkt seiner Zeit war der knielange Ballettrock, der wallend und bauschend, fließend und elegant die Beine der Tänzerinnen umspielte: das sogenannte romantische Tutu. Erst im 20. Jahrhundert wurde es zum kurzen Tutu aus Perlon oder Tüll gestutzt. Der Grund der Kürzung war schrecklich. Nicht Scheinwerfer, sondern offene Gaslampen beleuchteten auf der Vorderbühne die schwingenden Kleider der Tänzerinnen. Immer wieder fingen sie Feuer. Zahlreich waren die erbärmlichen Opfer der Tanzkunst, als dass dieser vom Maler Edgar Degas so unendlich variiert gemalte Rock überleben konnte. (Doch damals gab es nur wenige Zuschauer, die das Ballett boykottierten, als dessen Tänzerinnen ähnlich qualvoll vor aller Augen starben wie nun die Arbeiterinnen in Bangladesh). Stattdessen markierte der Tanzrock die fulminante Karriere eines Balletts, das sich aus einer steifen, höfischen Disziplin heraus effektvoll im weichen Stoff in immer fantastischere und exotischere Welten pirouettierte. Erst im Musselin wurde das Ballett erfolgreich und bediente bald genau jene Fernweh-Sehnsucht und Exotik, die aus den Kolonien nach Europa wehte. Das Ballett wurde selbst zu einer kolonialen Macht. Es folgte den Fährten des Welthandels nach Japan, China, die Türkei, Amerika. Überall entstanden Schulen und Kompanien, die oft heute noch Weltruf genießen. Mit nur einer Ausnahme: dem indischen Subkontinent, das Herkunftsland des Musselin. Das Ballett hat es nie auch nur in die Nähe der Webereien von Dhaka geschafft. Es fasste weder in Bengalen noch entlang der indischen Küsten Fuß. Das lag nicht an der mangelnden Britishness der Einwohner, deren Herrscher begeistert Rolls-Royce fuhren und deren Nachkommen heute mindestens so begeistert der britisch-biederen Club-Kultur, dem Bingo und dem Kricket frönen. Vielmehr schien das Ballett eine Beleidigung zu sein. Sein Kleid erinnerte zu augenfällig an die Schmach der eigenen Ausbeutung. (Die üblichere Erklärung bleibt ebenso richtig: Indien schuf sich um 1920 im Widerstand gegen die britische Kultur eine eigene Nationalkunst, mit einem eigenen klassischen Tanz, Bharata Natyam).

Die Nähstrecke in einer besseren Textilfabrik in Dhaka

Nafis Ahmed

Die Verstaatlichung

der Musselin-Produktion durch die Engländer war ein fieser Trick, sicher nicht mal der grausamste in der Geschichte des Kolonialismus. Wenn ein Wirtschaftszweig mit staatlicher Hilfe ein Monopol errichtet, gilt dies auch heute noch oft als gute, sozialistische Errungenschaft. Dass der Arbeiter dann ohne Alternative am Webstuhl zu einem festgelegten Preis produzieren muss, bedeutet automatisch: Der Preis sinkt. Um zu überleben, kann der Arbeiter nur versuchen, seine Produktivität zu steigern. Wo immer mehr Menschen den immer gleichen Abnehmer bedienen, und zwar den Abnehmer, dem sie auch die Steuern zahlen, desto abhängiger sind sie von dessen Preisgestaltung. Er kann ihnen zwar nun mehr Produkte abkaufen, aber zu größeren Rabatten und damit zu einem erneut niedrigeren Preis. Hierzulande gilt das noch heute: für die Theater. Sie produzieren immer mehr und erhalten dazu eine immer geringere Unterstützung. Damit ist eine endlose Abwärtsspirale eingeläutet, bei der am Ende genau die Zahl herauskommt, die sich heute in einem Drei-Euro-Shirt so hervorragend widerspiegelt: Eintrittskarten für umsonst.

Aber gilt das noch?

In Bangladesh herrscht kein staatliches Kartell mehr. Im Gegenteil. Nichts scheint ohnmächtiger als dieses von zwei „kämpfenden Begums“ regiertes Land. So nennt man die sich immer wieder abwechselnden Uralt-Präsidentinnen: Khaleda Zia von der Bangladesh National Party und die derzeit regierende Sheikh Hasina von der Awami Liga. Nicht sie beherrschen die Politik, sondern sämtliche Kleiderproduzenten von Kik über Tchibo bis Aldi, von Esprit bis Benneton, von C&A bis Mango, von Marks & Spencer bis Mothercare, von El Corte Inglés bis Abercrombie & Fitch, von Lidl bis Rewe. Sie stehen in heftiger Konkurrenz zueinander und sind alle mit je eigenen Vertretungen vor Ort, um Aufträge an ihre Auswahl von Fabriken zu vergeben. Walmart allein zum Beispiel bedient 279 Kleiderfabriken in Bangladesh. Dabei rangeln die Auftraggeber im Namen ihrer freien Marktwirtschaft naturgemäß um die billigsten Produzenten. Es tobt ein Preiskampf, den die Bewohner der Hauptstadt als ständige Überforderung erleben. Das Heer der Arbeiterinnen reist in zerbeulten Bussen durch eine nie endenden Kakofonie von hupenden Fahrzeugen, die im fortdauernden Stau durch die Metropole Dhaka stolpern und in der Nähe bescheidender Hütten anhalten, die nichts von Kühlschränken und Klimaanlagen wissen, aber täglich umstellt sind von religiösen Brauchtümern, die abfedern sollen, was allfällige Preiserhöhungen auslösen. Die galoppierende Inflation, vorzüglicher Ausdruck von Fortschritt, erlaubt keinen Ausweg aus diesem kreischenden Ameisenhaufen.

Blechhütten sind das günstige Zuhause der Arbeiterinnen, hier in Gazipur im äußersten Norden von Dhaka

Nafis Ahmed

Küche mit zwei Kochstellen, die in Gazipur vierzehn Familien ernähren

Nafis Ahmed

Eine traditionelle, sechsköpfige Familie, die seit 21 Jahren in ihrem aus Bambus selbst errichteten Heim lebt, wird in der Regel von der Ehefrau ernährt

Nafis Ahmed

Dhaka

ist ein Moloch, der schätzungsweise 10 Millionen Einwohner zählt. Mittendrin gibt es nur ein sattes Viertel, eine einzige grüne Insel inmitten dieser von minimaler Infrastruktur gekennzeichneten Hauptstadt. Die Satten sind in Gulshan zu Hause, in bester Nachbarschaft zu den diplomatischen Vertretungen sämtlicher Länder. Hier finden sich auch alle Nobel-Clubs der Stadt. Diese bestehen auf feste Mitgliedschaft. Man bleibt unter sich. Bedenkenlos zugelassen sind nur Botschafter und ausländische Händler sowie ihre Familien, die sich untereinander sehr gut kennen und bei einem Problem sofort den kleinen Dienstweg nehmen können. Vor jedem ummauerten Club steht Wachpersonal. Hinter dem Eingang befinden sich ein oder mehrere Schwimmbecken. Umsäumt sind sie von Tischen, an denen die Kellner ein kühles, im muslimischen Staat sonst kaum zu beschaffendes Bier kredenzen. Ein ordentliches Restaurant ist Ehrensache. Ein Billardraum, eine Bibliothek, ein Massagesalon gehören fest zur Ausstattung. Im „International“, einem der besseren unter den guten Clubs, bitte ich einen Vertreter von H&M um ehrliche Antworten.

21 Uhr abends. Hena kocht in einer Fabrik für ihre Kolleginnen das Abendessen

Nafis Ahmed

Arbeiter haben oft nur an öffentlichen Orten wie diesem die Möglichkeit, sich zu waschen

Nafis Ahmed

Ehrlich gesagt,

er schämt sich. Tatsächlich. Er hat sich noch nie von einem der unzähligen, dünnbeinigen Rikscha-Fahrer kutschieren lassen, kann den Myriaden von Bettlern auf jeder Kreuzung bis heute nicht in die Augen schauen, und es grämt ihn, dass viele Arbeiter noch immer bis zu 18 Stunden in kleinen Fabriken schuften müssen, in denen erbärmliche Bedingungen herrschen. „Es ist dunkel, surrende Ventilatoren stieben die Staubfäden und Flusen umher. Oft wird von Hand genäht, trotzdem ist jedes Stück identisch. Wahnsinn. Und die T-Shirts sind weiß. Wie sie so weiß bleiben können, weiß ich nicht – bei den Drecksläden“. Aber dies seien nur Fabriken für Importeure, beteuert er, „die das, was in Bangladesh produziert wird, zu Tiefstpreisen einkaufen. Solche Importeure lassen hier nichts produzieren. Sie kaufen nur ein, was sie finden, für die Billigläden, die den Ramsch der Welt den Armen in Europa und Amerika verkaufen und sich um die Arbeitsbedingungen in den Herkunftsländern nicht scheren.“ Aber selbst diese Händler wollen noch redlich erscheinen, wenn sie ihren lockeren Leitspruch aufsagen: Wir verkaufen die Produkte der Armen für die Armen in der Welt. H&M und andere Markenartikler haben ganz genauso gehandelt – sie sehen das inzwischen nur mit etwas anderen Augen. Denn sie haben Angst bekommen. Selbst wenn sie ihre Aufträge mittlerweile an eine relativ sichere, relativ moderne Fabrik vergeben, die nicht einzustürzen oder in Flammen aufzugehen droht, hat dessen Fabrikant noch immer die Möglichkeit, einen Teil des Auftrags an schäbige Subunternehmer weiterzureichen. Durch die dort nochmals billigeren Preise können sie sich jederzeit eine Marge hinzuverdienen: „Tazreen war eine solche Subkontraktor-Fabrik, die kein Europäer je zu Gesicht bekam. Und Rana Plaza war eines dieser alten Gebäude mit lauter Kleinstfabriken unter einem Dach.“ Der Brand der einen und der Einsturz der anderen Fabrik waren ein Weckruf. „Jeder hat hier verstanden, dass sein Name in Gefahr ist, wenn in den Trümmern die Etiketten weltweit operierender Retailer gefunden werden.“ 1134 Tote beim Einsturz von Rana Plaza, 112 Verbrannte im Feuer von Tazreen, das „kann sich keine Marke der Welt leisten. Man muss seinen eigenen Namen schützen, darum trifft man heute eine Wahl. Du suchst nach Fabriken, die sicher gebaut und richtig verkabelt sind.“ Heute müsse jede Fabrik durch einen Prüfungsprozess nach den Kategorien „Social, Safety, Environment“. Das macht natürlich nicht die Politik, das ist Firmenpolitik. „Und die hat, anders als die hiesige Politik, sehr viel mit Gewaltenteilung zu tun.“

Die dreigeteilte Gewalt des Systems

„Es gibt den Einkäufer, dessen Aufgabe es ist, den billigsten Preis herauszuschlagen. Das ist ein rein kommerzieller Akt. Der Einkäufer hat nichts zu tun mit dem Prüfer. Denn der Prüfer soll alleinig gegenüber der Geschäftsleitung feststellen, in welchen Fabriken überhaupt etwas hergestellt werden darf. Und dann gibt es noch den Inspektor als Angestellten der Handelsmarke, der in den genehmigten Fabriken vor Ort über die Einhaltung aller Vorschriften wacht.“ Diese Vorschriften hat sich eine private Initiative namens „Bangladesh Accord on Fire and Building Safety“ ausgedacht. Ein Inspektor wacht im Namen dieses privatwirtschaftlichen, nichtstaatlichen Vertrags über Sicherheit, Arbeitsbedingungen und Herstellungsweise. Und über die Löhne. Den Zuschlag erhält also nicht mehr der billigste Anbieter, sondern die Fabrik, die sich am besten kontrollieren lässt.

Der Kontrollierte

Im holzgetäfelten Büro einer derart überwachten Fabrik thront Hossain Shakhawat hinter einem spiegelnd polierten Schreibtisch. Das Möbel ist so groß und lang wie ein Kingsize-Bett. Hossain Shakhawat nennt sich Vorsitzender der Rishal Group, eines Familienimperiums in Bangladesh, das vier Kleiderfabriken und zwei Webereien betreibt, über ein Hotel in den USA, drei hiesige Privatschulen und ein Solarkraftwerk verfügt, dazu auch in zahlreichen Immobiliengeschäften und anderen exotischen Unternehmungen tätig ist. Er ist ein gemachter Mann, der in seiner elfstöckigen Kleiderfabrik in Dhaka den Fortschritt der Nation in süßen Tönen besingen will. Wie sehr doch dieses einzigartige Land den Karren mit eigener Kraft aus dem Dreck zieht! Wie konsequent es in die Bildung investiert! Und wie sehr es ein ernstzunehmender Player im internationalen Business geworden sei! Bis die Rede auf die fremden Kontrolleure in seinen Haus kommt. Da strafft sich das genährte Gesicht. „Das ist ein Katz-und-Maus-Spiel“, greint er: „Es sind ja nicht die Einkäufer, die Schuld sind, dass wir so geringe Löhne zahlen. Die Einkäufer machen nur ihren Job, die handeln meinen Preis herunter. Das ist normal“. Es seien vielmehr die Prüfer der westlichen Kunden, die ein, zwei Mal im Monat zu ihm kommen und erzählen, was im Namen der Sicherheit noch so alles zu verbessern sei. „Wir sind diesen Leuten schonungslos ausgeliefert“, klagt er: „Andere Fabriken, die nicht kontrolliert werden, haben diese Kosten nicht und können mich kinderleicht unterbieten. Hier dagegen läuft es so, dass einer dieser Prüfer an einem Tag will, dass ich kleinere Tische kaufe, damit in den Gängen mehr Fluchtweg frei bleibt, und am anderen Tag der nächste Prüfer sagt, dass diese Tische zu klein seien und nicht gut genug für die Arbeiter. Der eine will bessere Feuerlöscher haben, also kauf ich sie. Da verlangt der andere ein Upgrade für die Hauselektrik.“ Und: „Diese Prüfer dürfen im Auftrag meiner Kunden auch in meine Bücher schauen. Der eine Kunde will, dass Überstunden gut bezahlt werden. Der Prüfer findet also einen Fall von elf Stunden und schaut nun nach, ob du die Überstunden auch ja bezahlt hast. Fein. Dann kommt genau derselbe Mann wieder, nun im Auftrag einer anderen westlichen Firma. Diese Firma will, dass nie länger als zehn Stunden gearbeitet werden darf. Der Prüfer weiß natürlich, dass das bei mir nicht der Fall ist. Was mache ich jetzt? Ahnt ihr, was diese Jungs für eine scheußliche Macht haben?“

Sicher

kann man für Geld auch hier jede Menge Überzeugungsarbeit leisten. Trotzdem: Wer bezahlt diese Optimierung der Fabriken in Bangladesh? Wer zahlt den gepriesenen Fortschritt? Laut Hossain Shakhawat sei es bestimmt nicht H&M oder irgendeine andere Marke. Egal, was für einen Preis sie zahlen würden: es sei allein der Fabrikbesitzer und seine Bank, die investieren und den Wert des Ladens steigern. Nur so kann er mehr verdienen – „on the long run“. Zugleich aber ist es Usus, dass die „guten“ Kunden den Preis für jedes produzierte Hemd mit jedem neuen Auftrag noch einmal drücken – als gäbe es eine Art Treuebonus für internationale Textilhändler. In Zahlen: Die Kosten für Verbesserungen in den Fabriken stiegen in den letzten Jahren um zirka zwölf Prozent, die Preise für fertige Kleidung sanken um ganze drei Prozent. Dieser Kreislauf aus verordneter Investition und reduzierten Einnahmen kostet entweder Arbeitsplätze oder führt zu Lohndumping.

So ist es doch überall auf der Welt,

ruft Azim Shahidiullah und verdreht verdutzt seine Kulleraugen. Er macht den Vizepräsidenten des hiesigen Textilindustrieverbands und ist Sprecher der obersten Lobbyinstitution in Bangladesh. Natürlich verdienen die Fabrikanten auch weiterhin hervorragend, sagt er und grinst, angesprochen auf die Klage seines Kollegen: „Er macht doch Geschäfte, der ist nicht wegen Almosen hier.“ Und doch gibt es mehr und mehr Risiken für den Fabrikanten. Etwa, wenn er zu spät liefert. Dann sind Strafen fällig. Er nennt es den „Tchibo-Effekt“, weil es die Bremer waren, die diese Regel zuerst aufstellten: Ein Tag zu spät geliefert, und die Fabrik erhält zehn Prozent weniger von der vereinbarten Summe. Zwei Tage: zwanzig Prozent weniger. Mit im Boot sitzt der Fabrikant, wenn er schlecht verhandelt, sogar noch dann, wenn die Sache anderswo klemmt, etwa das Schiff nicht pünktlich ausläuft oder den Suez-Kanal nicht rechtzeitig passieren kann. Aber all das sei ein Beweis dafür, wie zuverlässig Bangladesh geworden sei, besser als die Konkurrenten. Myanmar, nur zum Vergleich, sei viel zu teuer. Nicht nur wegen den Unruhen. Auf Wirtschaftschinesisch erklärt Azim Shahidiullah, wie sehr Myanmar noch abhängig wäre von „CMPT“ (für „cut, measure, package, and thread“). Er meint, wie sehr man in solchen Ländern den Fabriken nicht traut und der Auftraggeber ihnen alles selber anliefern muss, vom Schnitt, über das Maß, die Verpackung bis zum Garn, damit sie daraus ein Hemd nähen. Dann betont er, wie großartig in Bangladesh das „FOB“ (für „free on board“) funktioniert (wo Fabriken alle Zutaten für ein Hemd sich selbst auf dem Markt besorgen). Das erspart dem Retailer Geld und jede Menge Ärger bei der Logistik. Es verbilligt den Preis eines Produkts enorm. Nur wer etwas besonders billig macht und es teuer verkaufen kann, wird reich. Das ist das Gesetz. Es gilt nicht nur in Bangladesh. Es gilt auch in Europa und den USA.

Eine ältere Arbeiterin. 34 Jahre ist sie alt. Umgerechnet 14 Euro bringt sie am Tag nach Haus. Als sie anfing, erhielt sie einen Euro

Nafis Ahmed

Von Bangladesh aus gesehen

entsprechen derartige Verbesserungen in der Produktion genau dem Fortschritt, den man bei uns „Entwicklung“ nennt. Dass zwei Fabriken medienwirksam kollabierten, sorgte sehr bald für sehr gut gefüllte Flugzeuge in Richtung des Flughafens Hazrat Shajalal. Es gab in Dhaka jede Menge besorgte Tagungen – organisiert von Nichtregierungsorganisationen. Und zu ihnen zählt sich auch die Textilwirtschaft selbst. Dort erhielt auch diese Dame viel Applaus: Nazma Akter, eine resolute Frau, die sich schon mal schniefend mit der Hand über die Nase fährt. Sie ist die bekannteste Arbeiterführerin in Bangladesh und Gründerin der Awaj-Stiftung in Dhaka. Eine Stimme (bengalisch: Awaj) für die Rechte der Arbeiterinnen ist sie bereits seit 2003. Nazma Akter, die im Alter von elf Jahren in die Nähindustrie geriet und zuletzt auch in Europa als tapferes Urgestein einer Fabrikarbeiterin durch die Fernsehshows tingeln musste, betont, dass es neben den in Bangladesh so dringlich diskutierten Top-Themen des Westens – Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Energieeffizienz, Ressourcenschonung, Rechts- und Gebäudesicherheit – noch ein moralisch-menschliches Super-Top-Thema gäbe, das so gut wie nie auf der Agenda steht: „Arbeiterinnen verdienen Respekt“, sagt sie, „und mit dem tatsächlich mangelndem Respekt meine ich nicht nur ‘typisch weibliche’ Probleme wie Belästigung am Arbeitsplatz oder noch geringere Löhne als die der Männer. Ich frage vielmehr grundsätzlich, warum sich niemand schämt, den Arbeiterinnen all die unentgeltlichen Überstunden und die Erziehung der Kinder aufzuhalsen, ohne ihnen auch nur die geringste Chance zu geben, ihre ungesunden Lebensbedingungen zu verbessern“, dies in einem muslimischen Land, das Frauen schon immer etwas niedriger als Männer eingestuft hat. Ihr Resümee klingt trocken: „Weil wir billige Arbeitskräfte sind, werden wir nicht respektiert.“

Kinderarbeit gibt es angeblich keine. Shagorika, die Näherin in der Mitte, behauptet wie ihre Kolleginnen, 18 Jahre alt zu sein

Nadif Ahmed

Machen wir aus Arbeitern

also erst einmal richtige Fachkräfte, die gebildet und fortgebildet sich. Wenn in Bangladesh von Bildung gesprochen wird, meint das vor allem die Einführung in die Kunst des Maschinenbaus, in die Organisation der Massenproduktion oder in die der umweltverträglichen Müllentsorgung. Es geht hier nicht um Sozialarbeiter, Erzieher, Krankenpfleger, um Berufe, die sich mit der Würde des Menschen auseinandersetzen und diese aushalten müssen. Sie werden, ganz gemäß der Hierarchie der Berufe, auch anderswo schlecht bezahlt. Fabrikarbeiterinnen aber haben „on the long run“ den Vorteil, auf eine allmähliche Verbesserung ihrer Bedingungen hoffen zu dürfen – anders als humanitäre, pflegeintensive Berufe. Sie existieren in Bangladesh auch kaum und werden wie im Westen strategisch in Ehrenämter umgetauft. Der Mensch soll, wo er kann, sich dem Menschen bedingungslos zuwenden, außerhalb des Tauschprinzips. Mit diesem moralischen Appell landet auch in Europa der Freiwilligendienst nun prompt auf der oberen Skala des Gutmenschentums und entkommt so der Ökonomie. Geschickt wird die unbezahlte Hilfeleistung veredelt zu einer Auszeichnung der eigenen Biografie und fällt so auch aus dem Schema der Ausbeutung heraus.

Für solche Sätze

gibt es starken, vor allem aber beschwichtigenden Beifall. Es sei in Bangladesh noch so viel zu tun. Man stünde nun eben mal erst am Anfang des Weges, ein Schwellenland zu werden. Was sollen westliche System-Analysten auch sonst sagen, wenn sie als Infrastruktur-Planer ihre eigenen Lösungsansätze von Land zu Land tragen? Was geht die Ausbeutung der Frau jene Lobbyisten der internationalen Konzerne an, die in jeden Winkel schauen, immer auf der Suche nach einer Chance, um die vielen klaffenden Marktlücken im Namen der Gesundheit, der Ökologie oder schlicht als Anwälte zu schließen? Die Rechte der Frau, also die Menschenrechte, so sie nicht als medienwirksamer Fall vor Gericht landen, spielen keine Rolle. Stattdessen macht das geflügelte Wort von der „Bildung“ die Runde. „Durch Bildung“, sagt Daniel Seidl, Geschäftsführer der Deutsch-Bangladeschischen Handelskammer, sei „ein Prozess von Socks zu Shirts zu Shorts zu Shoes zu Shrimps zu Ships zu Chips zu Solar in Gang gesetzt“, der den Aufstieg der Nation ebenso befeuert, wie er zuvor in China stattgefunden hat: „Von dort reicht man die Aufträge nun hierher weiter, den teuren Skianzug oder den Rennfahreranzug, den früher nur Chinesen herstellen konnten. Jetzt ist Bangladesh an der Reihe“, findet er. Bildung steigert die Produktivität. Und steigert sich die Produktivität, dann steigert dies wiederum die Bildung. Da lösen sich die Menschenrechtsprobleme bald wie von selbst.

Teil 2

Billigt
die
Kunst

Auch die Kunst

entdeckt den Freiwilligendienst. Die berühmte Performance-Künstlerin Marina Abramovic schrieb vier Stellen aus, um ein digitales Magazin namens „Immaterial“ auf die Beine zu stellen – vier unbezahlte, buchstäblich immaterielle Jobs ohne Gage und Gehalt. Null Euro für vier Volontäre an ihrem Marina Abramovic Institute in New York, da hat sogar die Künstlergemeinde rebelliert in einem Moment, da die westliche Gesellschaft dabei ist, für sämtliche Berufe einen Mindestlohn zu fordern. Auch für Künstler? Immerhin dienen null Euro Mindestlohn bei Abramovic der raren Gelegenheit, sich in Sichtweite einer angesagten Celebrity aufhalten zu dürfen. Auch wenn sie für ihr Internet-Magazin bei einer Crowd-Funding-Plattform 660.000 US-Dollar einsammelte, diente dieses Geld nicht dazu, ihre künftigen Weisungsempfänger richtig ernähren zu können. Zu ihrer Verteidigung hieß es nur lapidar, ihr Künstlerkollege Jeff Koons beschäftige weit mehr „Volunteers“ als sie es tue. Je mehr Sklaven, desto beliebter die Künstler.

Beutet Marina Abramovic aus?

Die Frage klingt ähnlich wie die Frage, ob Näherinnen in Bangladesh ausgebeutet werden. Dort sind Frauen stolz darauf, unabhängig zu werden von den ländlichen Bedingungen, denen sie entkommen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Auch Marina Abramovic fuhr ihr selbstbestimmtes Leben lang volles Risiko. Sie erlaubte wildfremden Galeriebesuchern, sich an ihrem Körper auszuprobieren. Sie machte sich über Stunden unbewegt zum Objekt der Gesellschaft. Darin war nie etwas Schlechteres zu entdecken, als ihr eigener freier Wille. Denn niemand mag ein fremdbestimmtes Leben. Niemand mag entfremdete Arbeit. Marina Abramovic war immer bei sich selbst. Wer sie in ihren Performances sieht, wünscht sich, alles Kontrolliertsein, allen Stumpfsinn, alle Ausbeutung an Maschinen delegieren zu können, um sich zur eigenen Freiwilligkeit bekehren zu können. Endlich wie ein Künstler leben. Kreativ. Denn ein Künstler ist doch einer, nach Friedrich Schiller, der frei erscheint.

Null Euro

für freiwillige Künstlersklaven, daran fasziniert vor allem, was null Euro in den Köpfen bewirkt. Null Euro enthält offenbar an sich schon die Freiheit, auf jede Gegenleistung verzichten zu dürfen. All die Freiwilligen, die den Kunst-, Sozial- und Pflegedienst verbilligen – so denkt man in Teilen der Gesellschaft –, könnten Wegbereiter sein hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Als freiwillige Feuerwehren und Katastrophenschützer, die wie jeder Ehrenämtler, wie gute Freunde kräftig mit anpacken, wenn einer Hilfe braucht. Wenn diese die Guten sind, warum soll Marina Abramovic dann die Böse sein?

Arbeit verbilligt sich drastisch

Offenbar gibt es selbst im Nulllohnsektor mehr Bewerber als Arbeitsplätze. Zuletzt hat allein das Land Nordrhein-Westfalen bestätigt, dass 238 Jugendliche in 189 Kultureinrichtungen ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren. Auch vor Marina Abramovic stapeln sich die Anfragen. Dafür muss sie den Arbeitsplatz, der nichts kostet, auch nicht rationalisieren, optimieren und kontrollieren. Sie könnte ihn vermieten wie eine Suite im Fünf-Sterne-Hotel. Darauf setzt die Kunst. Darauf setzt auch jeder undotierte Wettbewerb für Architekten, der viel Kraft und Manpower verschlingt und nur ausnahmsweise zum Erfolg führt; darauf setzen die Auditions für Tanzende, die auf eigene Kosten aus der ganzen Welt anreisen und schon in der Vorrunde ausscheiden; darauf setzen seitenweise Anträge auf Fördermittel für einen Dokumentarfilm oder eine Choreografie, die langwierig und über Wochen formuliert, mit koproduzierenden Theatern angefüllt und kalkuliert werden müssen. Man setzt solch unbezahlte Arbeit voraus, in der Hoffnung, dass sich dieser Aufwand eines Tages rückwirkend auszahlt. Das wird nicht Ausbeutung genannt, sondern „Sammeln von Erfahrungen“: eine ewige Vorab-Qualifikation. Es ist nicht einmal eine Qualifikation. Die unbezahlten Vorleistungen, die hierbei insgesamt entstehen, um eventuell Einlass in den Kulturbereich zu erlangen, übersteigen die Einnahmen sämtlicher Theaterkassen. Bei Marina Abramovic können es sich nur Kinder reicher Familien leisten, den Job anzunehmen. Diese werden selbstredend nie von sich behaupten, sie würden ausgebeutet.

Das Melken

von Studenten, Praktikanten, Hospitanten, Assistenten begann nicht etwa auf privatem, es begann lange vorher schon auf staatlichem Territorium, in den öffentlichen Institutionen. Praktika in Rundfunkanstalten und Theatern hat es gegeben, bevor die Industrie und die Kunst den kostenlosen Arbeiter entdeckten. Die Freiwilligen waren immer schon da, weil sie freiwillig studieren, dabei immer neue Klippen von Prüfungsordnungen und Studiengebühren nehmen und doch nichts anderes sind als Opfer einer Hoffnungsindustrie, die freimütig zugibt, dass ihre Aspiranten irgendwann auch einen richtig freien Job finden werden. Hochschulen nährten dazu lange den Mythos, frei von den Zwängen der Industrie denken zu können. Ihre Forschung sei allein deshalb frei, weil sie ihre Studenten als emanzipierte Menschen entlassen würden. Auch wenn diese Bankkredite zurückzahlen müssen oder für ihre Industriestipendien eines Tages eine Gegenleistungen erbringen sollen.
Genauso nährt auch Dhaka, dieser enorm unter Druck stehende Großstadtbehälter, den Mythos, dass sich die Näherinnen hier emanzipieren von ihrer Herkunft und grausamen Werten wie Zwangsehe mit Vierzehn und unentgeltlicher Landarbeit. Es sei ihrer Emanzipation zu verdanken, dass Bangladesh immer mehr Wohlstand erfährt, heißt es oft. Der Null-Euro-Kaste der Jungintellektuellen hierzulande dient dieselbe Emanzipation dazu, endlich die Muße haben zu sollen, dank ihrer Bildung gewisse Dinge in ein anders Licht rücken zu können. Dabei könnten sie auch fragen: Warum werden Näherinnen hierzulande so bewusst als schützenswerte Opfer dargestellt und eben nicht als emanzipierte Arbeiterinnen? Der Grund: Erst, wenn man Arbeiterinnen schützen will, kann ihre Arbeit einen verhandelbaren Wert annehmen. Um den Wert von Arbeit zu erhöhen, zeichneten schon die frühesten Gewerkschaften den Arbeiter als edlen Helden mit dem Hammer in der Hand, der zupackt, der seinem Land und dessen Wohlstand dient, der früh aufsteht und scheinbar keinen Schmerz kennt. Und doch wird dieser Held immer zuerst das Opfer einer Rezession, einer Betriebsschließung, einer Rationalisierung. Das ewig wiederkehrende Opfer braucht auch ewigen Schutz.

Mit diesem Bild,

ein Opfer des Kapitalismus zu sein, schmücken sich auch Jungforscher, Jungjournalisten, Jungkünstler. Auf sie lauert der böse „freie Markt“, den sie in ihren Kreisen verächtlich „Kreativindustrie“ nennen, und zwar nur deshalb, weil ihnen die Kreativindustrie nichts bezahlt. Dafür gewährt sie ihnen, im Null-Euro-Modus, nur jene Erfahrungen zu machen, von denen Akademiker schon immer träumten: auch einmal Manager, auch einmal Künstler, auch einmal ein wichtiges Rad im Kulturbetrieb sein zu können. Wie sie ihre Berufe nennen, ist egal. In Wahrheit ist auch der selbsterkorene Manager in den Augen der Kundschaft nur ein Verkäufer, der Künstler nur ein Designer und der selbst ernannte Produzent lebt zuweilen von deutlich weniger als ein Arbeiter. Muss also nicht auch der Kreative beschützt werden? Nein. Er ist nur ein Freiwilliger. In diesem Nulllohnsektor braucht niemand einen Grund, einen Freiwilligen zu feuern. Er wird schon freiwillig gehen.

Man kann sich auch selber feuern.

Eine akademische Lehrkraft an der Universität Leipzig erhält 480 Euro brutto für die Vorbereitung und Durchführung von dreizehn Seminarsitzungen. Das wären 37 Euro die Stunde. Dieser für eine Akademikerin durchaus angemessene Stundensatz wäre realistisch, wenn sie sich kein bisschen auf ihre Sitzung vorbereitet. Was macht sie stattdessen? Sie beißt die Zähne zusammen, sie macht es – völlig freiwillig – sogar kompliziert. Das anspruchsvolle Thema ihrer Seminarsitzung lautet: „Welchen kulturellen Wert hat die Kunst heute?“ Stellen wir diese Frage Nazma Akter. Die Arbeiterführerin aus Bangladesh denkt nicht lange nach. „Kunst ist eine Beschäftigung für Töchter und Söhne aus besserem Hause“, rümpft sie die Nase. Von diesem Standpunkt würde sie erst abweichen, wenn sie besser den Nutzen der Kunst verstehen würde. Sie fragt: „Könnte das Theater den Näherinnen helfen, ihre eigenen Lebensbedingungen zu durchschauen? Lernen sie durch Tanz, sich besser bewegen zu können? Ich meine, weil sie den ganzen Tag dieselben Handgriffe in der gleichen Haltung ausführen.“ Wenn Kunst „ein nützliches Produkt“ wäre, das „nicht zu teuer“ sein dürfte, da Arbeiterinnen so viel Geld nicht verdienen, dann fände sie Kunst sogar ganz okay.

Genau dasselbe Argument

benutzt die öffentliche Hand. Im Prinzip denkt sie exakt wie die Arbeiterführerin. Tanz etwa als ein probates Mittel zur Verbesserung der Gesundheit und der Disziplin von Kindern einzusetzen, ist Common Sense in unserer Wertegemeinschaft. Natürlich sollen Jugendliche, statt Drogen auszuprobieren, ihre Pubertät körperlich kreativer durchlaufen. Tanz verbessert zudem das Lernvermögen, das Hirn wird besser koordiniert. Tanzende machen weniger Unsinn. Wenn es aber um die Förderung des Tanzes als eine eigenständige Kunstform geht, stößt sie auf Bedingungen, die allein von der Seite des Marktes und des Nutzens her betrachtet werden. Wo immer sich ein touristischer, pädagogischer oder wenigstens politisch korrekter Wert zeigt, neigt die westliche „Wertegemeinschaft“ dazu, solche Kultur mit unternehmerischem Herzen zu unterstützen: Bei künstlerischen Risiken schlägt es schneller, bei eventuellen Nebenwirkungen schlägt es über die Strenge. So begab es sich auch im hessischen Städtchen Bad Hersfeld, als die öffentliche Hand, angeführt von ihrem Bürgermeister Thomas Fehling, die Zuwendungen für das älteste Festspieltheater in Deutschland um 400.000 Euro kürzte – ein Vorgang, den man auch aus der Textilbranche kennt. Man muss als Politiker, als wäre er ein Textilhändler, für das gewohnt Gleiche nicht dauernd mehr bezahlen. Im Gegenteil. Ein guter Kunde hat immer etwas Skonto verdient. Ein Fabrikant muss mit dem Preis runtergehen, will er den Händler bei der Stange halten. Genauso wurde der von der Gemeinde und dem Land gut kontrollierte Theaterfabrikant Holk Freytag als Intendant der Bad Hersfelder Festspiele aufgefordert, die von seinen Auftraggebern beschlossene Kürzung in seinen neuen Spiel- und Wirtschaftsplan einzuarbeiten und dem Magistrat, also den Prüfern seiner Fabrik, zur Genehmigung vorzulegen. Es kam hinzu, dass Freytag schon in der vergangenen Spielzeit 300.000 Euro weniger Einnahmen erwirtschaftet hatte und somit unter den in ihn gesetzten Erwartungen geblieben war. Dieser Theaterverwalter, dessen Auftraggeber von Bangladesh so gut gelernt hatte, war beleidigt und hat gekündigt. Zitat aus der örtlichen Zeitung: „Einen neuen Intendanten hat der Bürgermeister noch nicht gefunden, aber bereits Gespräche geführt. Zudem gingen jetzt viele Bewerbungen ein. (Der Bürgermeister) ist daher zuversichtlich, zeitnah einen Nachfolger präsentieren zu können.“

Wie viel Stück Hemd wird pro Reihe und pro Stunde produziert? Das Ergebnis steht jeder Arbeiterin jederzeit vor Augen

Nafis Ahmed

Auch in Bangladesh

ist es einfach, in einer der zahllosen Textilfabriken seinen Job zu verlieren. Nur ist es hier auch kein Problem, einen neuen zu bekommen. Die Nachfrage nach Helfern reißt nie ab, wenn diese nur die zwei Lagen einer Hosentasche exakt genug übereinander legen können, damit ein anderer sie zusammennäht. Wenn der Helfer bereits in wenigen Tagen oder Wochen das Bedienen einer Nähmaschine lernt, braucht er einen Nachfolger. Diese Art von Qualifikation in Bangladesh funktioniert viel schneller und billiger, als bei uns, zu einem Niedrigstlohn, von dem ein Helfer auch nicht leben kann. Also möchte der Hilfsarbeiter an der Nähmaschine aufrücken, darf die fertige Hosentasche bald selbst neben den Schritt vernähen, wird sich sodann in die Tücken des Reißverschlusses vertiefen oder dem Kollegen Nähroboter assistieren, der die Knöpfe im Sekundentakt anflanschen kann. Aus dem Helfer wird ein Arbeiter, dann ein Vorarbeiter, dann ein Manager eines Stockwerks und durch Erfahrung irgendwann selbst zum Experten der Rationalisierung. Er lernt früh, dass er die Schutzkappe neben der Nähnadel nur entfernen muss, um für zehn Stück vernähte Hemdsärmel eine halbe Sekunde schneller zu sein. Arbeit folgt hier nur einer Vorgabe: Wie viel Stück Hemd wird pro Reihe und pro Stunde produziert? Das Ergebnis steht jeder Arbeiterin jederzeit vor Augen. Stunde für Stunde wird es auf eine Kreidetafel notiert. Immer weiß die Näherin, wie schnell ihre Reihe im Vergleich zu den anderen Reihen ist, die vom Rohschnitt über den Kragen bis zum fertig gebügelten Hemd die größtmögliche Geschwindigkeit herauskitzeln müssen. Bis zu zwanzig solcher Produktionslinien stehen miteinander im Wettbewerb. Die Ergebnisse an der Tafel erinnern nicht von ungefähr an Sportergebnisse. Es gibt auch kleinere Tafeln, die den Ausschuss schlecht genähter Hemden melden, oder defekte Maschinen auflisten. All das sieht aus wie ein Eintrag ins Klassenbuch. Die schlechten Schüler werden daraufhin aussortiert.

Interessant

an dieser Organisation ist der Stumpfsinn, der ihr zugrunde liegt. Interessant ist auch, wie wenig Überbau in dieser hierarchischen Struktur nötig ist. Die meisten, die hier Prozesse kontrollieren oder rationalisieren, stehen gemeinsam mit den Arbeiterinnen in der Produktionslinie. Jede hat jemanden über sich. Jede hat jemanden unter sich. Die Ordnung ist „objektiv“. Sie resultiert aus einem Koeffizienten aus messbarer Leistung und überprüfbarem Ergebnis. Optimierung und Kontrolle finden unmittelbar im Prozess der Herstellung selber statt. Die Schicht ist zu Ende, wenn ein bestimmtes Ergebnis erzielt worden ist. Was sich der Westen dem gegenüber zu Gute hält: Er hält diese Hierarchie scheinbar viel flacher. Hier optimiert und kontrolliert ein Team die Prozesse. Dieses Team arbeitet nicht in der Konkurrenz mehrerer hierarchisch strukturierter Nählinien. Der Gegner ist das Team selbst. Weil in einem Team alle eine möglichst ähnliche Kompetenz aufweisen, treten alle untereinander in Konkurrenz. Keine traut sich mehr, das Büro vor 19 Uhr zu verlassen. Jeder simuliert dem anderen gegenüber größtmögliche Wichtigkeit. Wo Elternteilzeit und Home-Office diese Konkurrenz abzumildern scheinen, arbeiten flache Hierarchien dennoch arbeitsintensiver vor allem gegeneinander, im Ringen um beste Argumente, gegen ewige Bedenkenträgerei und die allzu bekannten Schwächen der Kollegen.
Hinter Begriffen wie „Mitarbeitermotivation“ verbergen sich durchaus harte Bandagen, die so zeitgenössische „Krankheiten“ wie Mobbing und Burn-Out hervorbringen. Teams erzeugen einen Druck nicht von außen, sondern von innen. Sie halten nicht Schritt mit Ergebnissen oder Maschinen, sie simulieren ihre eigene Effizienz, überbieten sich in langen Sitzungen mit schönen Verpackungen für immer härtere Einschnitte in ihre eigenen Strukturen. So neigen westliche Konzerne, Universitäten und auch Theater dazu, jede Kontrolle immer noch einer weiteren Kontrolle zu unterwerfen, um ein Missmanagement zu entdecken und so zu rechtfertigen, dass sich nach Parkinsons Gesetzen immer neue Abteilungen bilden, um immer neue Wege der Kommunikation zwischen einander längst entfremdeten Abteilungen zu suchen, auf dass sich Unternehmensberater, Juristen, Buchhalter oder – wie im Theater – Techniker, Dramaturgen und Betriebsbüros überhaupt noch verstehen. Die Arbeit in Bangladesh dagegen funktioniert archaisch. Man schuftet im Akkord, ohne Mitbestimmung und Urlaubsanspruch. Man ist, schlicht und ergreifend, anti-kreativ.

Den Unkreativen

definiert die Opferrolle. Sie lässt sich nur durch Geld kompensieren. Der Kreative, der Ideengeber, der Optimierer, ein Künstler hingegen macht sich selbst zum Opfer – aus freien Stücken. Ob ihm sein Werk gelingt oder nicht, das ist sein eigenes gleichsam unternehmerisches Risiko. Darum wirkt der Künstler so sympathisch, „auch in seinem Scheitern“, wie die Leiterin des Forum Freies Theater in Düsseldorf findet, Kathrin Tiedemann. In ihren beiden kleinen Spielstätten, die ihr lange zur Verfügung standen, kannte sie das Lied von der Kontrolle gut. Kontrolle greift, sobald die Stadt 50.000 Euro weniger überweist. Was macht sie in so einem Fall? Dann mache sie, was ein Fabrikbesitzer auch macht: „beim Personal sparen. Oder jede und jeder hätte auf einen Teil des Gehalts verzichten müssen, damit alle ihren Job behalten können. Aber zum Glück war es gelungen, den Kürzungsbeschluss rückgängig zu machen. Tatsächlich ist mir von der Politik mehrfach vorgeschlagen worden, einfach weniger Vorstellungen zu geben. Nach dem Motto: So viel Theater braucht kein Mensch. Aber das ist gar nicht so einfach. Auch im freien Theater steckt ein industrieller Mechanismus. Ein Künstler stellt bei diversen Stellen diverse Anträge. Manchmal kommt dabei sogar das Budget für eine richtig professionelle Produktion zustande. Von diesen Koproduktionen leben Theater wie das Forum Freies Theater, mit ihnen gestalten wir den Spielplan. Unser eigenes künstlerisches Budget ist zwar extrem knapp, aber wenn jeder Künstler zusätzliche Gelder einwirbt, greifen seine Produktion und unser Theater ineinander wie ein geöltes Getriebe. So wird fast automatisch ein jährlicher Output von rund 300 Veranstaltungen produziert. Auch wenn ich ihn nicht anstrebe, ist es genau das Resultat, das die Förderpolitik erst ermöglicht.“

Und was passiert,

wenn die Politik noch einmal 100.000 Euro weniger überweist? „Dann müsste das Forum Freies Theater eines seiner beiden Spielstätten schließen. Nur wie erklärt man das bei einem Umsatz von 1,4 Millionen Euro im Jahr? Da ist immer noch ein bisschen Luft, bevor man sagt, das geht nicht. Es gibt immer einen Künstler, der sagt, ich mache das zu einem kleineren Preis. Und umgekehrt vermeiden es die Kulturverwaltungen gern, über eine angemessene Höhe des Budgets zu diskutieren. Dabei wird die Zuweisung für die Kunst allein von der Politik gesteuert und sie versetzt dich im Zweifel auch in Panik. Sie zeigt dir, wie sehr du von ihren Entscheidungen abhängig bist. Wird mit einer Kürzung gedroht, fühlt man sich selbst wie eine freie Unternehmerin mit vielen Angestellten, deren Rechnungen nicht bezahlt wurden und der nun das Geld ausgeht. Die Macht der Politik besteht aber auch darin, dass sie bei Defiziten wie zuletzt beim Wiener Burgtheater einfach einspringen und Millionen locker machen kann, als sei sie die Bank. Das erhöht die Macht der Politik über die Kunst ins Unermessliche.“

Ihre Macht gespürt

hat auch Florian Malzacher. Dem ehemaligen Leiter des „Impulse“-Festival für freies Theater in Köln, Düsseldorf und Mühlheim an der Ruhr drohte im 25. Jahr seines Bestehens die Streichung von 200.000 Euro. Die nach Privatrecht organisierte öffentliche Kunststiftung NRW war kurzfristig ausgestiegen. In so einem Moment will man seinem Ärger Luft machen, anstatt sich artig für die bisher geleistete Unterstützung zu bedanken. So wäre es üblich. Wenn Malzacher heute, wo die Gelder wieder zugesagt scheinen, noch immer grollt, so wegen „der Gutsherrlichkeit derjenigen, die öffentliche Gelder so verwalten, als wären sie ihr eigenes Geld und nicht das der Bürger. Als würden öffentlicher Gelder an eine Privatperson gehen, nicht an jemanden, der eine Institution verwaltet. Wer verwaltet sie denn? Ein Intendant zum Beispiel. Er wird nicht gewählt, es gibt dafür oft nicht mal eine echte Ausschreibung geschweige denn eine Expertenjury. Stattdessen bekommt man, wenn man Glück hat, einen Anruf und soll dankbar sein, dass man überhaupt in Erwägung gezogen wurde.“ Sagt man den Posten des Intendanten zu, folgen nicht etwa Verhandlungen über das Budget; es ist bereits vorgeschrieben – ohne das Einwerben von Drittmitteln ist nichts zu machen. Es gehört zum Grundprinzip aller Festivals und Theater, nie genug Geld zu haben, um das zu produzieren, was öffentlich erwartet wird. Der Mangel ist ein Teil der Bedingungen, aber er heißt hier nicht Mangel, sondern Zuwendung, für die man zu danken hat. Ein kluger Intendant meckert nicht wie Holk Freytag, sondern hält still, bis sein Weg offen ist für einen finanziell besser ausgestatteten Kulturbetrieb anderswo. Als Intendant oder Festivalleiter denkst du, jetzt hättest du wenigstens freie Hand, dein eigenes Programm zu gestalten. Auch das geht nicht. Du bist abhängig von den Geldern, die die Künstler mitbringen. Und die leben von positiv beschiedenen Anträgen, die wiederum ein Gremium absegnet. Auch diese Anträge werden gekürzt, obwohl ausdrücklich für alle Beteiligten ein Mindestlohn kalkuliert sein muss. Dann werden halt weniger Künstler beteiligt, zumal man an den tariflich fixierten Techniker-Kosten nicht sparen darf.“

Ist das Jammern auf hohem Niveau?

„Wenn damit das geistige Niveau gemeint ist, ja. Einen Kulturbetrieb zu leiten oder Künstler zu sein, bedeutet immer, bereits einer indirekten, strukturellen Zensur ausgesetzt zu sein, lange bevor man überhaupt angefangen hat zu arbeiten. Künstler schreiben Konzepte, von denen sie erwarten, das sie kompatibel zu den Vorstellungen der Intendanten oder Kuratoren sind, und diese wiederum formulieren ihre Programme in Antizipation zu den Erwartungen der Stadt. Einerseits wollen alle die Spielräume möglichst weit ausloten, auf der anderen Seite herrscht ein oft voreilender Gehorsam: „immer schon eine Vorstellung davon zu haben, was man machen muss, um ‘erfolgreich’ zu sein“, so Malzacher.

Demnach wäre

die freie Szene nicht frei? Kathrin Tiedemann sagt: „Die freie Szene ist sehr effizient, effizienter als ein von festen Ensembles bespieltes Haus. Das gefällt dem Geldgeber. Die Freien sind billiger. Aber der Politiker denkt auch: Um möglichst viele Bürger an einem Theater zu beteiligen, muss das Theater schon eine gewisse Qualität vorweisen.“ Es ist wieder wie beim Textilhändler: Er will die beste Ware zum kleinstmöglichen Preis. Er weiß: Jeder Preis lässt sich drücken. Dazu muss man nur die festen Ensembles verkleinern und sie mit billigeren Künstlern aus der freien Szene wieder auffüllen. „Ich glaube, der Preis fällt auch deshalb gerade so stark, weil es immer mehr Künstler gibt, weil Kinder heute vom Kindergarten über die Vorschule zur Schule ständig musische Erziehungsprogramme genießen müssen und sich von früh auf als ‘Künstler’ verstehen. Man kann das dem künstlerischen Nachwuchs nicht vorwerfen. Er stellt eine ‘Army of Artists’ dar, wie es der niederländische Theatermacher Jan Ritsema nennt, während auf der anderen Seite das steuerzahlende Publikum zunehmend misstrauischer wird. Von dort heißt es immer öfter, im Theater werden unsere Steuergelder verbrannt. Das stärkt nicht gerade die Position des Theaters, zumal, wenn es kein Produkt sein will, sondern ein Fest für den Augenblick, ein Live-Event. Man misst ihm dennoch einen Wert bei und misst ihn an Zuschauerzahlen oder an Eintrittsgeldern, simuliert also ein Produkt und nicht ein Ereignis. Das zielt am Kern des Theaters vorbei: Immer wird so getan, als wäre Wirtschaftlichkeit genau sein Zweck.“

Der Null-Euro-Künstler

darf zusehen, wie sich die Preisspirale in freien Kreativberufen rückwärts dreht. Zugleich kämpfen die Kulturinstitutionen, auch die Universitäten, um so erbitterter darum, jeden Anschein ökonomischer Abhängigkeit zu vermeiden. Allerdings zum Preis höherer Abhängigkeit vom politischen Willen. Es gilt in der Kunst der paradoxe Grundsatz: Erst wenn trotz allen Vermeidens ökonomischer Absichten ein Erfolg eintritt, dann erst ist es Kunst. Sogar dann, wenn dieser Erfolg an ein industrielles Schema erinnert: Wenn der Künstler das immer Gleiche in immer ähnlichen Varianten produziert, wenn ein Choreograf seinen ersten Erfolg bis zum sicheren Wiedererkennungswert verlängert, damit der Käufer sich auf den Namen des Künstlers verlassen kann, er also von vornherein weiß, was er kauft. Der Künstler darf dieses Schema, seine „künstlerische“ Methode bis zur Selbstverleugnung nie wirklich verändern. Das gilt für hehre Künstlerinnen wie die Belgierin Anne Teresa de Keersmaeker ebenso wie für Unterhaltungsware vom Schlag einer Weihnachtsrevue. An diesem Punkt muss allerdings für Distinktion gesorgt werden. Dann müsse geklärt werden, warum eine der Moderne verpflichtete und mit den Ideologien der Makrobiotik aufgeladene Tanzveranstaltung viel mehr Kunst sei, als das für den Bustouristen geeignete Unterhaltsame, das mit derselben Mühe hergestellt, nur verächtlich Kommerz genannt wird. Tatsächlich ist eine ganze Hoffnungsindustrie für sehr billiges Geld damit beschäftigt, die Kunst vor dem Geschäftsmäßigen zu retten. Und das, obwohl man weiß, dass der Verdienst einer Tänzerin etwa am Berliner Revue-Theater Friedrichstadtpalast im Schnitt dreifach höher liegt als das Einkommen einer Tänzerin, die in der freien Szene auf Tournee geht.

Die Avantgarde

ist schon einen Schritt weiter. Sie spart nicht nur an Jobs, sie spart auch an ihren teuren Kunsträumen. Florian Malzacher findet „in diesem Milieu ist eine Entwicklung besonders interessant: die Residenz. Ein Künstler ist zu Gast in einem kleinen Studio und wird gebeten, gleichsam als Gegenleistung, ein kostenfreies ‘Work in progress’ zu zeigen. Dieses ‘Lab’, eigentlich dazu gedacht, dass die Kunstschaffenden ihren eigenen Weg durch Probieren und Experimentieren finden, ist als Veranstaltungsformat derart in Mode, dass längst ein eigenes, erfolgreiches Genre wurde. Damit wurde das Lab genau zu dem Billig-Produkt, gegen das es sich eigentlich zur Wehr hat setzen wollen: um ein Freiraum zu sein, in dem es eben mal nicht um öffentliche Aufmerksamkeit und Marktwert geht.“

Die freie Szene

denkt darum, sie selbst sei ein Produkt der Marktliberalisierung. Sie sei sogar ihre Vorhut. Ihre Mitglieder wurden Billiglöhner, als sie gegen die behördlichen Strukturen der Stadttheater zu rebellieren begannen, und dann doch nur ein erweiterter Teil jenes sogenannten Ordoliberalismus wurden, Untertanen der souveränen, staatlichen Gewalt. Vor einem halben Jahrhundert hatte sich die freie Szene dem Stadttheater entgegen geworfen, der Operette, dem Schwank, dem gut abgehangenen Dramenerbe. Dass ihre damalige Alternative heute ausgerechnet von der Ökonomie dominiert sein würde, ahnte sie damals nicht. Natürlich wollen Künstler Erfolg. An ihren Akademien lernten sie aber, dass diesen Erfolg nie sie selbst, sondern stets andere bestimmen. Wie ein Handelspreis durch Angebot und Nachfrage, wie ein Preis der Arbeit durch Tarifrunden gejagt wird, entsteht der Preis für die Kunst einerseits durch Zuschauermasse und Kasseneinnahme, andererseits auch durch etwas, was man ihre Distinktionsindustrie nennen könnte: zu ihr gehören Kritikerinnen, die etwas wertschätzen sollen; da sind akademische Würdenträger, die Kunstschaffende zum Gegenstand ihrer Wissenschaft erklären; es sind von der öffentlichen Hand finanzierte Kuratoren, die den einen Künstler in ihr Theater einladen, die andere Künstlerin nicht; es sind die Jurys, die bei der Entscheidung für eine zu magere Zuwendung den einen Künstler gegen den anderen Künstler ausspielen müssen. Sie alle bestimmen dessen jeweiligen Marktpreis, und das, ohne selbst davon zu profitieren. Genau das macht sie unangreifbar. Sie mögen ein intellektuelles Interesse an den Kunstschaffenden haben, aber es schlägt sich kaum je im eigenen Geldbeutel nieder. Sie sind Gönner, denn am Markterfolg partizipieren sie nie. In Wahrheit hilft also keiner keinem. Keine Kritikerin lässt sich die Freiheit nehmen, ihre Meinung zu ändern. Dasselbe gilt für Akademiker, Intendantinnen und Juroren. Es gibt kein Geschäft auf gegenseitigem Vertrauen. Es herrscht Willkür, Zeitgeist oder Mode.

Die Kunst ist zu Markte getragen

und zerbricht – aber nicht am Markt, sondern an der Distinktion. Ein Ölmaler lässt sich nicht mit einem Grafiker vergleichen. Eine Lyrikerin hat nichts von einem Romancier. Ein Trompeter ist keine Klarinettistin. Wo einzelne Sparten ihre eigenen Räume verteidigen, damit das Ballett sich nicht mit der Oper vergleichen muss, werden alle unvergleichlich. Sie halten so nicht nur Abstand zu den anderen. Sie können sich auch nicht solidarisieren, es sei denn, sie arbeiten am selben Werk. Das ist so gewollt. Darum ist der Künstler schwach.

Grundsätzlich

muss man darum das Bild von der Künstlerin noch einmal in Frage stellen. Sagt Kathrin Tiedemann vom Forum Freies Theater in Düsseldorf: „Vielleicht gibt es längst gar keine Künstler mehr. Vielleicht gibt es nur noch Arbeiter.“ Vielleicht wr der Künstler das Gegenbild zum Arbeiter, zumindest war es eine Idee von Paul Lafargue und seinem „Recht auf Faulheit“. Diese Streitschrift aus dem 19. Jahrhundert ist wieder hoch aktuell. Warum betrachtet man den Künstler überhaupt als einen Arbeiter, der rund um die Uhr für seine Kunst leben und permanent Ergebnisse vorweisen muss? „Warum behauptet der kroatische Konzeptkünstler Mladen Stilinovic in seiner Streitschrift ‘The Praise of Laziness“, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft keine Kunst (mehr) geben kann?“, fragt Kathrin Tiedemann: „Warum darf der Künstler nicht sagen: ‘I would prefer not to …’, wie Herman Melvilles Bartleby? Warum gehen sie nicht in Opposition zu unserem Begriff von Arbeit?“ Künstler können es nicht, wie man schon an der Sprache erkennt: Der Künstler schafft ein „Werk“, er zeigt seine neueste „Arbeit“. Er „produziert“ ein Stück. Gegen diese Ökonomisierung seiner Kunst müsste er konsequenterweise aufstehen. Das macht er auch, sagt Florian Malzacher vom Festival „Impulse“ und verortet den Künstler als Teil der politischen Bewegungen. „Der Künstler wirkt als Opponent der offiziellen Politik, wie Ahmed Ögüt mit seiner Silent University, wie Jonas Staal mit dem New World Summit oder in Berlin das Zentrum für politische Schönheit, und viele andere, die Kunst und Aktivismus, Tanz und politische Bewegung, Schauspiel und öffentliche Rede zusammen denken. So wie umgekehrt auch politische Aktivisten längst zu künstlerischen, zumindest kreativen Mitteln greifen. Sie erklären eine Theaterbesetzung zum performativen Akt, wie im Teatro Valle in Rom oder nutzen theatrale Mittel bei Demonstrationen.“ Um sich der Ökonomie entgegenzuwerfen: „Offiziell machen sie politische Kunst, tatsächlich vegetieren sie in einer Schattenwirtschaft, weil die Kunst sie nicht ernährt.“

Die Bewegung

als Ausdruck von Protest wird nicht von der unsichtbaren, öffentlichen Hand ernährt. Nicht direkt jedenfalls. Indirekt aber macht der Protest einer Bewegung Eindruck. Diese Aufmerksamkeit animiert auch Turnschuhhersteller und T-Shirt-Industrien dazu, es den Künstler-Rebellen gleichzutun. Sie biuten widerspenstige T-Shirt-Drucke feil für die politisch engagierte Bürgerschaft und verleihen ihr so den Anschein des Widerstands, heften ihr eine antikapitalistische Geste an und loben ihren Boykott minderwertiger Ware auf T-Shirts „Made in Bangladesh“. Den selben Weg gehen auch öffentliche Institutionen, auch das Theater. Es beäugt neugierig das engagierte Bürgerpublikum und will es dort „abholen“, wo es sich viel lieber aufhält als im Theater. Im Sommer gibt es kostenfreie Open-Air-Spektakel gegen freiwillige Spenden in den Klingelbeutel. Das Publikum im Stadtraum wird zum Mitmachen aufgefordert und in Flash Mobs animiert, selbst wenn diese eher an liturgische Gottesdienste erinnern. Es darf, wie etwa in Bielefeld, nach der Theatervorstellung das Stück, das es eben sah, auch selber tanzen. So erscheint das Theater engagiert, und zugleich durch das Mittun auch konsumkritisch und darin irgendwie politisch zu sein. Wenn dieses Theater sein Publikum zu Stadtspaziergängen in Flüchtlingsheime, in Gefängnisse oder zu Aktionärsversammlungen abholt, dann braucht es aber erst recht ein tüchtiges Heer von unbezahlten Freiwilligen, die all das organisieren und den Zuschauer pädagogisch an die Hand nehmen. So erzählt sich das Theater, wie bürgernah es sei, ohne recht selbst zu merken, dass es sein Publikum bemuttert wie Altenpfleger oder Kindergärtner, es unterrichtet wie Volkshochschullehrer oder Seminarleiterinnen, es bespaßt wie Jongleure oder Comedians, es auf Themen stößt, die man sonst in einer Waldorfschule auf Exkursion erkundet. Das Theater will aber nur sagen: Auch Künstler sind engagierte Bürger. Vielleicht sagt es sogar: Jeder engagierte Bürger ist ein Künstler. Aber hinter vorgehaltener Hand sagt die überforderte Organisatorin, wie sehr sie solche Aktionen für ihr „Marketing“ benötigt, damit sie alle noch weiterhin ins Theater gehen.

Das Theater krümmt sich

vor der Ökonomie und schaut nach England, ins Mutterland des Gemeinwohls und des Commonwealth. Dort hatte 1833 im „Government of India Act“ die Befugnisse der East India Company als Importeur das Musselin aus Bengalen staatlich so stark beschnitten, dass das Kartell pleite ging. Denn echtes Musselin war eine Konkurrenz für die neue heimische Maschinenproduktion, die billigere Imitationen und andere Webstoffe herstellte. Die Dampfwebereien in England stellten Tuche acht mal schneller her als die Asiaten. Dieses Jahr, an dem die Konkurrenz und damit die Erwerbsmöglichkeiten in Bangladesh zusammenbrachen, steht heute für den Begriff des „Manchester-Kapitalismus“. An diesem Inbegriff des Raubtierkapitalismus wird gern übersehen, wie sehr der Staat selbst durch Zuweisung und Entzug von Monopolen das Heft in der Hand hatte. Noch heute. England griff in der Ära von Margret Thatcher nicht minder gründlich bei der Kunst durch, wieder nach Maßgaben eines „Common Wealth“. Das bedeutet, ins Gesetz gegossen, dass das Theater den Bürger mit einbinden muss, dass muss sich ihm gegenüber nützlich zeigen soll und die sozial Benachteiligten, die Schulkinder und auch die Behinderten mitnehmen müsse. Dem Theater wurde aufgetragen, einen gewaltigen Inklusionsbetrieb darzustellen, mit Bürgerchören, Bürgerorchestern, notfalls mit einem von Bürgern demokratisch ermittelten Spielplan. Dieser Spaß ist längst auch aufs europäische Festland geschwappt und wird gefeiert – nicht etwa als Sparwahn, sondern als Triumph sozialer Gerechtigkeit und als Traum einer von Marktverhältnissen befreiten Gemeinschaft.
Möge die „Community“ nun selbst über ihr Theater bestimmen. Aus dieser Gemeinschaft wird nur ausgeschlossen, wer nicht mitmacht. Keine Förderung erhält, wer sich nicht freiwillig engagiert. Man liebäugelt mit dem Zusatznutzen der Künstler als Pädagogen, Event-Manager oder Kinderbetreuer. Er soll sich als gutes Mitglied der Gemeinschaft erweisen, er darf dafür auf lokale Anerkennung hoffen. Eine engagierte Künstlerin ist immer eine gute Künstlerin. Für die anderen bleiben Bühnenshows wie die West-End-Musicals oder touristische Kulturevents, Rockfestivals oder Fernsehanstalten. Dort werden ihnen die Flügel ihres „Oppositional Defiant Desease“, wie man es heute nennt, ganz sicher gestutzt.

Von der Politik verordnet

ist ein Leberecht des Theaters nur noch dann garantiert, wenn es sozial oder sozial engagiert ist. Intern dürfen dafür weiterhin Bedingungen herrschen wie in einer Freihandelszone. Die hierarchische Struktur der Theater bleibt unangetastet, gerade durch ökonomische Prämissen wie Platzausnutzung und Eigeneinnahmen. Bereits 2013 erschien in der Fachzeitschrift „Theater heute“ dieser Leserbrief eines Chefarztes an der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie in Bad Mergentheim. Christoph Eingartner, der zugleich ärztlicher Direktor der Gesundheitsholding Tauberfranken mit rund 2000 Mitarbeitern ist, zuständig also für eine mittelständische GmbH. Er weiß, wie ein öffentliches Krankenhaus in ökonomischer Hand funktioniert: immer noch anders als ein von der Politik dominiertes Theater, das so tut, als würde es auf soziale Bedürfnisse eingehen: „Das Theater als Betrieb, als Unternehmen und seine Unternehmenskultur“, schreibt er, „scheint mir im Wesentlichen autoritäre Führung durch einen Intendanten zu sein, der für den Zeitraum seines Vertrages temporäre Unfehlbarkeit erhält. Selbstverständlich sieht man sich politisch links, jedenfalls gesellschaftskritisch, will die Fragen der Zeit aufgreifen, will politisch relevantes Theater machen, so oder so ähnlich liest man es in jedem Spielzeitheft. Man reckt die virtuelle Arbeiterfaust, aber für die Führung des eigenen Unternehmens hat die politische Grundhaltung keine Relevanz.
Da wird in bester CEO-Manier die Produktivität gesteigert, mehr Vorstellungen und Produktionen mit bestenfalls gleichbleibender Ensemblestärke: Wenn es letzte Spielzeit ging, dass ein Schauspieler zehn Stücke parallel macht, dann wird es in der nächsten Spielzeit doch auch mit zwölf Stücken gehen. Da lässt man sich als Intendant gerne feiern (oder tut es im Zweifelsfalle gleich selbst), dass man noch nie so viele Vorstellungen wie in der abgelaufenen Spielzeit hatte und noch nie so viele Zuschauer erreichen konnte und gelobt ‘Kostendisziplin’ bei weiter steigender Produktivität. Kapitalistische Ausbeutung ist das nur, wenn es die anderen tun.
Die Schere öffnet sich immer weiter. Auf der einen Seite ist das Prekariat der Schauspieler, die von Vertragsverlängerung zu Vertragsverlängerung hoffen (sofern sie nicht ohnedies ‘frei arbeiten’, ein netter Ausdruck für die aparte Mischung aus Hartz IV, berufsfremden Gelegenheitsjobs und gelegentlichen Stückverträgen). Und auf der anderen Seite die Riege der Jet-Set-Regisseure, denen an allen Häusern der rote Teppich ausgerollt wird und deren üppige Gagenforderungen gerne bedient werden. Das kann man ja alles akzeptieren, das Theater als Spiegelbild der Gesellschaft, aber dann muss man das auch sagen und sich nicht in heuchlerischer Verlogenheit als Kapitalismuskritiker stilisieren.
Technik, Maske, Verwaltung, da wird fleißig gearbeitet und zumeist schlecht verdient, aber hier gelten die Regeln eines normalen Betriebes, Arbeitsverträge, Kündigungsschutz, Arbeitszeitgesetz und all diese Rand- und Rahmenbedingungen, die für Unternehmen eben ganz selbstverständlich sind. Für Schauspieler gilt das alles nicht. Verträge werden so geschlossen, dass der nachfolgende Intendant das bestehende Ensemble möglichst rückstandsfrei entsorgen kann. Bevor Unkündbarkeit – nach 15 Jahren – droht, wird ein Vertrag flugs gekündigt oder zumindest unterbrochen, aus ‘künstlerischen Gründen’ selbstverständlich. Ensembles werden immer jünger, um mit Anfängergagen Geld zu sparen. Wenn man tatsächlich mal eine ‘alte Frau’ jenseits der 40 braucht, kann man die ja als Gast zukaufen, der Markt an frei arbeitenden Schauspielern ist riesig, die Bedingungen können fast beliebig diktiert werden (gerne: Bezahlung pro Aufführung, Proben unbezahlt). Die Grundlagen abendländischer Kultur und Höflichkeit dürfen hintangestellt werden, wenn es um den Umgang mit Schauspielern geht. Das Ignorieren von Gesprächswünschen, Regieren nach Gutsherrenart, der Besetzungszettel kommt per Mail und ohne Kommentar. Die Drohung mit der Nichtverlängerung, es sei denn, die Schauspielerin jenseits der 35, zu der einem nach jahrelanger Zusammenarbeit urplötzlich ‘künstlerisch nichts mehr einfällt’, sei bereit, wieder auf die Mindestgage zurückzugehen. Das schamlose Bedrohen und Verunglimpfen von Darstellern, wenn diese auf ihre ohnedies spärlichen Rechten bestehen. Die Frechheit, einer schwanger gewordenen Schauspielerin hinzuwerfen, sie mache jetzt wohl ‘einen auf Sozialfall’. Die Kultur der Zuträgerschaft, das Ermuntern von Denunziantentum in schöner Tradition vergangen geglaubter Stasi-Zeiten. Einhalten vereinbarter Probezeiten? Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Nicht so wichtig, denn wer kann von einem Schauspielergehalt schon eine Familie ernähren? Es zeugt von hoher Kunst des Doppeldenkens, gleichzeitig Kapitalismuskritik zu üben und seinen eigenen Laden in so entspannter Frühkapitalisten-Manier zu führen, wie es in anderen Unternehmen schon lange nicht mehr möglich und üblich ist. Das Unternehmen, für das ich Verantwortung trage, wäre schon längst pleite, würden wir unsere Leistungsträger so behandeln, wie das die Theater mit den ihren tun.“

Teil 3

Fairkeleien

Boykottiert

irgend jemand ein Theater, das sich bis hinab zur letzten Tänzerin solch unfaire Arbeitsbedingungen erlaubt? Nein. Niemand käme auf die Idee, jene Theater zu meiden, die eine ständig wachsende Menge unbezahlter und schlecht bezahlter Menschen beschäftigen. Denn das Theater wird von öffentlicher Hand getragen. Boykottiert irgendjemand jene Läden, die Shirts, Hosen und Kleider mit dem Label „Made in Bangladesh führen“? Hier könne man doch wirkungsvoll Konsumkritik betreiben. Man denkt: Die arme Arbeiterin in Bangladesh, die für so wenig Geld so viel schuften muss, ohne Altersversorgung, ohne Sozialleistungen, ohne sich in einer Gewerkschaft organisieren zu können – ihr würde man ihr Shirt besser selbst abkaufen. Man kann ihr aber kein Shirt abkaufen, schlicht, weil es nicht ihr Shirt ist. Also möchte man die Handelskette bestrafen, die dieses Hemd, das in Dhaka zehn Cent kostet, mit 300 Prozent Aufschlag in die Läden bringt.

Erregt

wurde darüber debattiert, wie man diesen Kapitalisten endlich das Handwerk legen könne, wie man sie zu Fair Trade zwingen könnte, zu Zwangsabgaben, die sie in einen Opferstock für Näherinnen überweisen müssten. Überhaupt solle die Industrie endlich die fälligen Entschädigungen zahlen nach dem Einsturz von Rana Plaza und dem Brand von Tazreen. Erzählt man, dass in Bangladesh mehr Familien um Entschädigung klagen als es Opfer gab, dass sich der bürokratische Schimmel entsprechend mühsam in Trab setzt und dabei immer vom Willen gelenkt wird, das Land so schnell wie möglich aus den Schlagzeilen zu ziehen, dann denkt man mindestens: Dort wird sicher mehr vertuscht als aufgeklärt – es sind eben schmutzige Geschäfte. Bangladesh muss die Hölle sein. Die Hölle sollte man boykottieren.

Das Theater

ist hell. Es ist ein Ort der Aufklärung. Nicht umsonst entstand es als bürgerliche Institution im gleichen Atemzug wie unser Wissen um den Kapitalismus. Heute reicht aber auch nur eine dumme Behauptung, um diesen hellen Ort des Theaters zur Hölle fahren zu lassen. Etwa: Alle Theater sind, zumindest unterm Strich, hochpreisige Veranstalter mit manchmal zweifelhaftem Programm. Deren Ausgaben immerhin lassen sich durch auswärtige Unternehmensberater kontrollieren. Kommen nun die Controller ins Theater, dann heißt es gleich: Das Theater ist ein Opfer der unsichtbaren Hand der Wirtschaft. Darf der Staat – als unsichtbare öffentliche Hand – es sich gefallen lassen, dass seine Institution durch Unternehmensberatungen kontrolliert und rationalisiert wird? Ja, sagt der Staat: Um den anfallenden Schmutz, die feuchten Ecken und drohenden Schimmel in seinen Behörden auszukehren, muss das sein. Er lässt schrubben, wischen und erwischt immer zuerst die Kleinstförderung. Sollte für das Theater im Gegenzug doch mal ein größerer Betrag fällig werden, dann handelt es sich meist um eine Baumaßnahme, um etwas Haltbares, um den Denkmalschutz. Inzwischen überlegt man sogar, das ganze Stadt- und Staatstheatersystem unter Denkmalschutz zu stellen.

So geprüft

das Theater ist, niemand käme auf die Idee, es zu boykottieren, auch dann nicht, wenn man in seinen Fluren Künstlerinnen begegnet, die für wenig Geld viel schuften, die nach dreißig Jahren als Tänzerin auf eine Rente von 447 Euro monatlich hoffen, die ihr Tun noch nie in Stundenlöhnen ausdrücken konnten, die bei einem Unfall sofort als berufsunfähig abgeschoben werden und sich auch noch nie wirkungsvoll haben organisieren können. Theater sind eben keine Fabriken. Ein Künstler ist sicher alles mögliche, aber eins ist er nicht: ein Arbeiter. Einem Künstler kann man, wenn auch kein Hemd, so immerhin sein Künstlertum abkaufen. Er freut sich, wenn man es ihm abkauft, indem er uns etwas vormacht. Im Gegenzug täuscht er jeden Abend vor, dass das Theater tatsächlich keine Fabrik ist, sondern ein Traum, dem es gelingt, über seine Herkunft aus der fabrikhaften Produktion ganz wundervoll hinwegzutäuschen – trotz oder wegen des kulissenhaften Scheins, der großartigen Stimme, der akrobatischen Leistung, dem freien Spiel. Und selbst, wenn all das keine Kunst wäre, gehört das Theater noch immer zu unserer Kultur. Wenigstens gehört es dem Bürger.

Auch der Staat

fragt, wozu das Theater da ist. Er fragt sogar, ob das Theater nicht erst dadurch zu seiner Institution wurde, weil er dem Theater eine andere Aufgabe als die der Wirtschaftlichkeit verordnet hatte. Dient das Theater denn nicht dazu, dass das Publikum, das eine Vorstellung sieht, immer zugleich auch eine Vorstellung davon erhält, wie es wäre, einmal nicht mit den Wölfen zu heulen? So hat man es zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg gesehen. Als in Deutschland die Landestheater noch über Land zogen, waren Demokratisierung und Entnazifizierung ihre oberste Aufgabe: Mit Heinrich von Kleist wurde das Recht diskutiert, mit Georg Büchner der Sinn fürs Müßige, mit Bertolt Brecht das Soziale und das Asoziale, mit Samuel Beckett der Nullpunkt der Nachkriegszeit gesucht. Es waren kulturkritisch eingestellte Autoren, wie sie damals genannt wurden. Was ihre Kunst einte, war die Feststellung: Wer mit den Wölfen heult, heult nicht mit der Kunst, er heult dann halt mit der Kultur. Der größte Heuler, erinnert sich Barbara Gstaltmayr, die zu jener Zeit beim Landestheater Tübingen arbeitete, hieß „Harald Juhnke. Ihn und all die anderen Entertainer ließ man nicht ins Theater. So baute man ihnen Stadthallen, die sie bis zum letzten Sitz füllten. Das Theater war allein noch der Ort für die Kunst, die Hallen gehörten einer Kultur für alle.“

Kultur

war das Gegenteil von Kunst. Kunst war, was die Theater-, Kunst-, Musik- und Literaturkritik verteidigten, bis ihr niemand mehr zuhörte. Kultur war nun, was per Quote sich als populär erwies. Im Theater saß man wie im Maßanzug, die Kultur trug legere Stangenware. Kunst rang um ihren Sinn ab dem Moment, als die Politik ihr den Sinn nicht mehr verordnete und so auch die Kunst nicht mehr gegen die Politik opponieren konnte. Dafür wurde Kultur alles genannt, was die Politik in ihren Kreisämtern mit Bildung und Sport in einen Topf warf, auch Familie, Kinder und Jugend. Tanz etwa erschien ihr gleich wert wie körperliche Bildung und sportliche Ordnung. Kultur interessiert sich für musische Erziehung und eine kreative Gemeinschaft. Es geht ihr um solidarischen Zusammenhalt, nicht um eine Kritik dieses Zusammenhalts. Für die Kultur ist die Kunst eher ein Erbe aus der Vergangenheit, eine Inspirationsquelle, in der sie wildern darf, indem sie das Erfolgreiche kopiert oder in modisch geleiteten Retrospektiven wiederholt. Kultur ist, ohne eine ihr kritisch begegnende Kunst, das Selfie unserer Gesellschaft.

Ein Künstler ist frei.

Er ist nicht weisungsgebunden. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist er ein freier Unternehmer, der seine Ware feilbietet. Hat er Erfolg, hat er ihn verdient. Aber ein Künstler am Theater? Er ist – unter der kulturpolitischen Fuchtel – verdammt, ein Zwitter zu sein. Künstler möchten uns glauben machen, dass sie selbstbestimmte Genie seinen, Professionelle und Solisten in Reinkultur. Doch im Orchestergraben der städtischen Bühnen ist demselben Musiker zugleich aufgetragen, zu einem bestimmten Zeitpunkt in bestimmten, vertraglich festgelegten Diensten mit einer bestimmten, von der Dirigentin vorgegebenen Intonation einen ganz bestimmten Sound zu produzieren. Damit ihm das gelingt, hat er eine lange, zähe Ausbildung hinter sich. Sollte es ihm nicht gelingen, ist er draußen. Der Musiker ist Teil eines in sechs Gehaltsstufen hierarchisch organisierten Orchesters. Als solcher Teil ist er sogar eine Macht. Diese Macht darf angesichts 2122 verlorener Planstellen in deutschen Orchestern seit 1992 auch streiken. Aber was hilft ihm dieses Recht? „In den vergangenen 15 Jahren ist ein enormer Spardruck an den deutschen Bühnen entstanden“, sagt der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Bühnenvereins, Klaus Zehelein: „In allen Sparten zusammen wurden rund 6000 Arbeitsplätze abgebaut, die Zahl der Stellen sank von 45.000 auf etwa 39.000. Dafür hat sich die Zahl der freien Verträge von etwa 8000 auf etwa 22.000 fast verdreifacht.“ Solche Zahlen bewirken, dass sie im Orchestermusiker die „totale Unterordnung bei gleichzeitig hundertprozentigem seelischem und körperlichem Einsatz“ nur noch mehr befolgen (so Milan Turkovi in seinem lesenswerten Buch: „Was Musiker tagsüber tun“). Der Musiker als Künstler im öffentlichen Dienst zum Gehalt eines Grundschullehrers ist genau so weisungsgebunden wie eine Näherin am Fließband. Dafür genießt er in der Kantine den Neid der Kollegen vom Tanz und vom Schauspiel. Er ist gewerkschaftlich etwas besser organisiert. Er ist kein Unternehmer, er ist ein pädagogisch wertvoller Arbeiter.

Er ist ein Kulturarbeiter.

Er fiedelt auf Kommando. Er sitzt bei 146 Dezibel im Orchestergraben und intoniert Richard Strauss’ „Elektra“; seine Kollegen in Dhaka halten auf einer beliebigen Kreuzung 147 Dezibel aus; 90 Dezibel gelten in Fabriken als oberster Grenzwert. Tatsächlich: Der Aufenthalt in den Nählinien im achten Stock einer Fabrik in Bangladesh ist um einiges angenehmer als draußen vor der Tür. Ventilatoren mahlen leise die Luft. Sie dringt an fliegenden Vorhängen vorbei in kleine Hallen. Maschinen summen, tackern, klopfen, rasseln. Der Vertreter von H&M schließt genüsslich die Augen, wandelt durch die Fabrikgassen. Jäh dreht er sich um, reißt die Augen auf, starrt in eine Richtung und schilt einen Vorarbeiter. „Für mich ist die Musik einer Fabrik sehr wichtig“, erklärt er sein Verhalten, „dann weiß ich sofort: Das Ding ist produktiv, das läuft, das funktioniert oder es funktioniert nicht. Da brauche ich nicht zu sehen, was in den Linien läuft. Ich höre es. Da hast du einen konstanten Lärmpegel, da hast du dieses ‘rumm rumm’ wie Wellen, wenn du durch die Fabrik durchläufst. Hier sind die Wellen so. Hier sind sie anders. Und dort hörst du nichts, weil die Linie lahm ist. Da kannst du wirklich blind durchgehen und nachher sagen, wo am meisten raus kommt. Da musst du nicht gucken. Das kann man mit einem Orchester vergleichen. Fabrik ist Musik.“

Kunst

ist in diesem bürgerlichen Verständnis etwas sehr Nützliches. Das kunstvolle Orchestrieren einer Sinfonie wird nicht zuletzt darum bewundert, weil es im Prinzip auf derselben Organisationsform beruht, die auch eine Fabrik am Laufen hält. Musik darf sogar eine Orchester-Maschine sein, die der Komponist Heiner Goebbels bereits 2007 in „Stifters Dinge“ mit selbsttätigen Klavierrobotern inszenierte. Auch der italienische Choreograf Romeo Castellucci kam 2014 in seiner „Sacre du printemps“-Choreografie für „40 Maschinen mit Musik von Igor Strawinsky“ ganz ohne einen einzigen Tanz- oder Musikarbeiter aus – stattdessen zermahlten die Maschinen tonnenweise Knochenstaub. Nur reale Arbeiter waren noch nötig, um das weiße Opfermehl zu entsorgen. Der Musiker ist so wegrationalisiert, wie es sich unsere Kultur wünscht, wenn sie sich selbst als eine Maschine träumt ohne den entfremdeten Arbeiter oder Musiker. Kultur träumt sich das T-Shirt ohne die vielen übermüdeten und unterbezahlten Näherinnen. Kultur träumt gern von einem Nähroboter, der ohne weitere Transportkosten das immer Gleiche an jedem Ort der Welt produzieren kann. Zugleich träumt die Kultur von einer souveränen Kunsthandwerkerin, die ohne jede Entfremdung in der Lage ist, aus ihrer tiefen Tradition heraus einen sündhaft teuren Mantel von Hand zu nähen, der ein Leben lang hält und allen modischen Schwankungen standhält. Diese Kunsthandwerkerin ist es, die das Theater in aller Regel heute bestallt. Es ist der virtuose Tänzer, die souveräne Schauspielerin, die selbstbewusste Sängerin, um den Rotbart, den Hamlet, den Don Carlos wieder herzustellen. Das Alte wird wiederholt. Dafür sind Künstler angestellt, um allabendlich gleichsam den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses zu feiern: zum geringstmöglichen Preis, den das Prunkwerk nur kosten darf, zum geringstmöglichen Aufwand, den die Kultur uns heute erlaubt, um ihre alte Klassik in ihre aktuelle Kultur der Rationalisierung hinüber zu retten.

Black Swan

hieß 2010 ein Film, der meisterhaft zeigte, wie eine Tänzerin ihre Odile/Odette aus dem „Schwanensee“, aus diesem Schatzkämmerlein der romantischen Kunst empor holte und dabei alle Maßnahmen der Rationalisierung an sich selbst zur Anwendung brachte. Tapfer ging sie den kulturellen Gang zur Selbstperfektion. Natalie Portman zeichnete eine Balletttänzerin, die strengste Disziplin, eisernen Willen und vollkommene Kontrolle über ihr Leben zu erlangen schien, und in Paranoia verendete. Darren Aronofskys Psychodrill-Thriller hatte auf den ersten Blick eine eindrückliche Kritik des Ballettbetriebs formuliert – und deutsche Ballettdirektoren von Hamburg über Berlin bis München waren sich schnell einig: Wenn es wirklich soviel Magersucht und Leiden an der Konkurrenz in ihrer eigenen, zementierten Balletthierarchie geben würde, dann wären ihre Kompanien „ein Fall für die Staatsanwaltschaft“. Diese Direktoren waren sich sogar sicher, dass sie die Justiz nicht fürchten müssen. Warum eigentlich, wenn sie Assistentinnen bis zu sechs Monate lang ohne Gage in Vollzeit beschäftigen können oder ihre Tanzenden in offenkundiger Konkurrenz zueinander niemals Schwäche und darum auch nie Solidarität zeigen dürfen? Eben. Weil so etwas legal ist. Für Darren Aronofsky hingegen war „die Ballettwelt mit ihrer Enge, ihrem starren Regelwerk und ihrer erdrückenden Tradition ein wunderbar atmosphärischer Abenteuerspielplatz“, um zu zeigen, was ein kultureller Imperativ wirklich ist: Nie darf man der Kulturware ansehen, zu welchen Produktionsbedingungen sie wirklich entsteht. Kunst aber wäre, für ihn, genau diese Bedingungen vorzuzeigen: den Ehrgeiz, die Kasteiung, die Arbeitsbedingungen von Hochleistungssportlern oder Ballerinen in einer Kultur, die in den Vereinigten Staaten unter „Arts + Hobbies“ firmiert – und sich durch die gemeinte Freiwilligkeit jeder arbeitsrechtlichen Kontrolle entzieht. Darum schreckten die Verwalter des Balletts so auf, als der Film in die Kinos kam. Sie beteuerten, gründlich missverstanden worden zu sein. Die tägliche Fron müsse umgedeutet werden. Nein, es sei nicht Ausbeutung, es ist Selbstbefreiung, was die Tänzerinnen da betreiben. Wie man es den Näherinnen in Bangladesh nachsagt.

Die Emanzipation der Frau

in Bangladesh von ihrer ländlichen Unterwürftigkeit kann eben nur in einer fabrikreichen Stadt geschehen, dort, wo ihr eigenes Geld, ihr eigener zur Schau gestellter Geschmack, ihre freie Wahl von Partnern und Freunden die Frau seit erst zwei Generationen unabhängig macht – würde sie nur nicht immerfort in einem soldatischen Kader mit ebenso emsigen Mitstreiterinnen arbeiten müssen. Jeden Tag dieselben 12-stündigen Prozeduren an der Nähmaschine, jeden Tag der gleiche Druck, um sich erneut das Leben zu verdienen. Unbezahlte Überstunden, nicht oder zu wenig ausgehändigter Lohn, Arbeit auch mit 39 Grad Fieber. Erzählt man von solchen Bedingungen, sind alle entsetzt.

Fragt man

nach den Bedingungen im Kulturbetrieb, ist dieselbe Frage ein Affront. Man kann die Frage aber auch anders stellen, als Darren Aronofsky es tat. Man muss nicht auf das Heute zeigen. Man kann den Kulturbetrieb und sein Repertoire genauso als ein Hort des Bewährten betrachten. Fragt man nach den Bedingungen von einst, unter denen Kunstwerke damals entstanden, hört man: einen gellenden Triumph des Heute über das Gestern. Einen Jubel über die kulturellen Fortschritte, die seither erzielt wurden. Heute tanzt man gesünder, auf einem besseren Tanzteppich, ist besser ernährt, die Eltern unterstützen diesen Beruf auch viel eher – finanziell. Und wenn damals ein Ballett für einen Skandal sorgte? Dann sorgte dieser Skandal genau dafür, dass heute seine Ursachen – kulturell – triumphal – überwunden sind. Der Skandal des Barfußtanzes, der Skandal, den ein Ballett wie „Sacre du printemps“ 1913 erzeugte, hängt heute wie ein Geburtsfoto der Moderne in der Vitrine. Unter Glas wird die Selbstbefreiung der Tänzerin gefeiert: Loie Fuller, Isadora Duncan oder Mary Wigman. Sie sind ins Repertoire der kulturellen Zeitgeschichte gehoben als der Gründungsmythos der Emanzipation. Nur wird darüber vergessen, wie sehr diese Frauen einst ihre Körper gegen die Zumutungen genau jener Kultur ins Spiel geworfen haben, die sie unterdrückte. Dass sie es waren, die die Kunst, als Kunst, zur kulturellen Veränderung gebraucht hatten.

Erschrocken

betrachten viele Künstler auch heute noch die Kultur, in der sie leben. Ein Künstler ist ein Arbeiter insofern er sich an seiner Kultur abarbeitet. Man will oder muss ihr Paroli bieten, anstatt sich ihr – für einen Minilohn – anzudienen. Niemand will gewissenhaft ihren Partituren die Werktreue halten. Auch die Kultur hat nichts dagegen, mal eine andere Interpretation einer Musik, eines Dramas, eines Romans auszuhalten. Sie mag es, wenn alte Mythen in einem originelleren Gewand erscheinen, falls nur das Schema weiter stimmt, die Harmonie und der Akkord. Selbst den alten Avantgarden, die sich diesen Zwängen widersetzten, huldigt die Kultur in eigens dafür erbauten Museen und bestellten Rekonstruktionen, Neuauflagen und Neuinterpretationen. Was aber, wenn die alte Wut, die einst ein Kunstwerk schuf, im jungen Körper einer Performerin wiederkehrt? Wenn deren Verausgabung sich nicht mehr auf die sture Wiederholung von Gesten reduziert? Wenn sich die Gewalt des Körpers Bahn bricht?

Dann muss man die Gewalt kontrollieren.

Dem Körper ist Einhalt zu gebieten. Man spürte es mit einem fast mittelalterlich empfundenen Schaudern, als dem Ballettchef des Moskauer Bolshoi-Theaters, Sergej Filin, am 17. Januar 2013 ein Glas Säure ins Gesicht geschleudert wurde, dem Chef jenes Hauses, an dem zehn Jahre zuvor der Ballerina Anatsasia Volochkova gekündigt wurde, weil sie – angeblich – zu dick war, und die im Filin-Prozess – heute als schlanke Politikerin – ihr ehemaliges Theater als „Bordell“ bezeichnet: Jeder Tänzer und jede Tänzerin wisse, dass die Einladung zu Abendessen bei Mäzenen und Oligarchen oft einen Körpereinsatz einschließe, der sich nicht auf das Künstlerische beschränke. Damit verglichen blieb Darren Aronofskys „Black Swan“ auf dem Niveau eines unterhaltsamen Kindermärchens. Wo die Hintergründe des Moskauer Attentats bis heute gut verschleiert sind, wird die Zielrichtung der Intrige umso sichtbarer. Es ist der Körper selbst, sei er zu dick, zu vernarbt oder zu blind für genau die Anstalt, die als Kulturorganisation allein das körperliche Ideal feiern soll. Wie ein Misston in der Oper, eine Lüge im Theater, so beschädigt das Hässliche das Ballett. Das war schon so, als ein junger Kölner Bürgermeister namens Konrad Adenauer 1926 Béla Bartóks Ballettwerk „Der wunderbare Mandarin“ aus „ästhetischen Gründen“ verbot. Man hatte etwas gegen das lustige Morden auf der Tanzbühne, den Grand Guignol, der die damalige Kriegserfahrung zur Perversion zu verstärken schien. Und heute? Ist die offizielle Tanzbühne kulturell ebenso reglementiert. Man betrachtet ihr „Material“, die Idealkörper, die sich kulturell gewandelt haben von der soldatenhaften Disziplin zur sportliche Athletik, und ohne eines der beiden Ideale je aufzugeben, zu Körpern mutieren, die strotzen vor Gesundheit, die stressfrei, verletzungsresistent und ausgewogen ernährt sind. Was unsere Kultur eben liebt: nahezu restlos optimierte Körper.

Besorgt

begutachten Arbeits- und Tanzmediziner die Kulturarbeiterinnen. Sie stellen fest angestellten Tänzerinnen Fragen nach „Lebensgewohnheiten, alltagsbedingten Problemen und berufsbedingten Erkrankungen“. Eine solche Studie der Berliner Charité benötigt dazu nicht einmal einen Anfangsverdacht. Der Leistungsdruck, der auf Tänzerinnen ebenso wie auf Akkordnäherinnen lastet, ist vorab bekannt. Die Latte, um bei einer professionellen Kompanie oder Kleiderfabrik anzuheuern, wird sowieso immer höher gelegt. In Bangladesh soll eine bessere Kontrolle für mehr Sicherheit, vor allem aber für mehr Effizienz in den Fabriken sorgen: „Controlling, Safety, Regulation“ heißen die drei Grundpfeiler, die üblicherweise mit „Corporate Social Responsibility“ übersetzt werden – ein höflicher Begriff für das eigentlich Gemeinte: die Normierung von Arbeitsbedingungen, um sie weiter optimieren und immer besser kontrollieren zu können. Zwar erinnern die Kameras über jeder Nähstraße in Bangladesh noch an die lustigen Monitore des Fabrikbesitzers in Charlie Chaplins Film „Modern Times“. Sie dienen noch nicht einmal er Überwachung, sondern sollen dem Kunden beim frisch servierten Tee im Büro-Fernseher zeigen, wie fleißig in den oberen Etagen gearbeitet wird. Der Westen ist mit seiner Überwachung der Körper da schon wesentlich weiter. Nicht nur misst der „Kollege Roboter“ die Pausenzeiten und Leistungsstärken des „Kollegen Mensch“ mit, nicht nur wird telematisch die Lenkung und Überwachung öffentlicher Räume voll automatisiert. Auch arbeitsmedizinische Kontrollen gehören dazu, deren Vorreiter aus der Sportmedizin und mittlerweile auch aus der Tanzmedizin stammen.

Die Medizin

erzeugt ein ganz besonders spezifisches Klima der Kontrolle. Denn sie übt eine Kritik des Körpers. Ihre Kritik, verpackt als eine Sorge um sich, potenziert noch einmal die Kritik, die an unseren Körpern durch die Modeindustrie geübt wird, in deren Minen die Näherinnen von Bangladesh arbeiten. Potenziert wird die Kritik auch von einer pharmazeutischen Gesundheitsindustrie, in deren Schaufenstern die athletischen Körper der Tänzerinnen mit Anmut und Mühelosigkeit das nahezu perfekte Ideal des Gesunden repräsentieren. Sie gehen voran, nicht nur mit Leibesertüchtigung, sie sind auch Role Models bei der Ernährung, sie sind gern gesehene Gäste in der Schlafforschung und ideale Prachtexemplare einer ausgewogenen Balance aus Training und Performativität, Vorbilder für die perfekte Waage zwischen konstanter Weiterbildung und sich stetig steigernder Leistung. Deshalb erscheint der Tanz auch so oft in der Werbung: als Metapher für Präzision (Luxusuhren), Effizienz (Luxusautos) und Mühelosigkeit (Spülschwämme) – ohne dass ein Werber dazu je auf die Bühne der Tanzkunst schauen müsste. Werbung benötigt nur das Bild der erfolgreichen Arbeit an sich selbst, am eigenen Körper. Diesen Körper repräsentiert der Tänzer. Dankend verzichtet man dafür auf alle rebellischen, kulturkritischen Anspielungen, die vom Tanztheater bis zum zeitgenössischen Tanz die Bühnen beherrschen. Im Spielfilm sieht man dazu noch Varianten etwa des Hip-Hop, des sportlichen Wettbewerbs, der Konkurrenz, die sich einen ebenso begehrenswerten Körper schuf wie das Ballett im 19. Jahrhundert. Emma Lew Thomas, einst Tänzerin bei Mary Wigman und emeritierte Professorin für Tanz an der UCLA in Kalifornien, konnte diese Entwicklung live beobachten. Noch um 1950, sagt die 81-Jährige, „gab es einen italienischen, einen deutschen, einen britischen Tänzerkörper. Heute ist es fast unmöglich zu sagen, woher ein Tänzer stammt. Der Italiener tanzt in den USA, der Amerikaner in Moskau, der Franzose in Deutschland. Das konnte nur gelingen, weil die Körper sich immer ähnlicher und irgendwann normiert wurden. Der Tanz ist eben eine Kulturform der Globalisierung. Wie die klassische Musik auch.“ Deren Interpretationen, gerade weil sie aus einem mehr oder minder überschaubaren Magazin von Partituren stammen, bieten eine hervorragend vergleichbare Basis, um sie in einen globalen Schein-Wettbewerb zu werfen. In Prunkbauten wie der Elbphilharmonie in Hamburg oder dem Opernhaus in Katar dürfen dafür sogar wieder Produktionsbedingungen und Gagenstrukturen herrschen, die sich kleinere Kommunen längst nicht mehr leisten wollen. Eine weltweit agierende Liga von Ingenieuren, Architekten, Händlern und Bankern schafft sich ihre eigene Kultur gemeinsam mit ihren internationalen Wettbewerbern. Sie bauen sich Arenen, die ein kulturell anerkanntes Repertoire nach den sportlichen Maßstäben des “Best of“ holen – nie aber eine sie kritisch spiegelnde Kunst.

“Made in Bangladesh”, die Tanzprofis aus Helena Waldmanns Inszenierung vor den versandfertigen Produkten mit dem gleichem Gütesiegel

Georgia Foulkes-Taylor

Munmun Ahmed (links) ist eine Instanz in der Tanzwelt von Dhaka. Sie hat Spaß daran, dass Arbeiterinnen in der Textilfabrik die Tanzkunst am eigenen Leib erfahren können

Georgia Foulkes-Taylor

Auch das Ballett

ist für sie ein Teil ihrer Kulturindustrie, die sich von anderen Industrien kaum weiter unterscheidet. Verpönt ist auch hier jede Form von Tarifpartnerschaft. Wo Näherinnen in Bangladesh auf die Hilfe der Internationalen Arbeiterorganisation hoffen und bislang sogar einmal eine Prüfung der Arbeitsbedingungen von Seiten einer Gewerkschaft verlangen durften, mussten sie bald aber einsehen, dass sie als freischaffende Arbeiterinnen einen solchen Vertretungsanspruch so wenig haben wie freischaffende Künstlerinnen auch. In Bangladesh einigte man sich immerhin darauf, dass von Gewerkschaftsseite ein Prüfer dann zugelassen ist, wenn er in der Industrie zehn Jahre oder mehr Erfahrung aufweisen kann (das reduziert die Auswahl in einer jugendlichen Gesellschaft enorm); ferner behält sich die Arbeitgeberseite vor, wann und in welchem Umfang überhaupt geprüft werden darf. Nicht anders verhält es sich bei der international agierenden Kulturwirtschaft, die vor ihren Kapitalgebern die Geige zupft, das Bein hebt, das Lied singt. Gewerkschaften gibt es hier kaum. Künstler müssen Agenturen anheuern, die von der Prüfung der tatsächlichen Arbeitsbedingungen bis hin zum Inkasso ausstehender Gagen in einem internationalen Rechtsfreiraum agieren, falls sie die auf dem Papier ausgehandelten Forderungen nicht zufriedenstellend eintreiben können. Über Ausfälle wird der Mantel des Schweigens so gelegt, wie über die Herkunft der Gagen. Eine Sängerin, die von Kriegsgewinnlern, Glücksspielunternehmern oder räuberischen Oligarchien eingeladen ist, hält bei kritischen Nachfragen besser den Mund, um sich nicht selbst zu beschädigen.

Was macht die Kultur?

Sie empört sich. Zumindest dann, wenn sie als Wertegemeinschaft sich im Zweifelsfall auf den Grundsatz der Fairness einigen kann. „Art but fair“ nennt sich seit Februar 2013 eine Initiative, die Betroffene auf Facebook von den „traurigsten & unverschämtesten Künstler-Gagen & Auditionerlebnissen“ erzählen lässt. Von einem Musical-Produzenten ins Leben gerufen, Johannes Maria Schatz, werden hier Praktiken wie unbezahlte Proben für Opernsänger durch den ehemaligen Salzburger Festspiel-Intendanten Alexander Pereira ans Licht gebracht. Die Presse hat sich gern auf die Website der neuen Künstler-Klagemauer gestürzt. Birgit Walter etwa stellte in der „Frankfurter Rundschau“ die bemerkenswerten Frage: „Klagt jemand, dass für einen Affen pro Drehtag 1000 bis 1500 Euro eingeplant werden, für einen ausgebildeten Darsteller aber nur 350 Euro? Nein. Die Menschen, die ihr Geld auf Bühnen und vor Kameras verdienen wollen, meckern nicht.“

Kultur muss die Künstler schützen.

Sie fordert also mehr Transparenz (und meint damit mehr Kontrolle), sie fordert bessere Vergütungen (und weiß sich da mit dem Finanzamt einig). Sie spricht von einer besseren Unternehmenskultur in den Theatern. Zwar fallen im Zusammenhang mit dem Theater nur selten Begriffe wie „Ausbeutung“ und „Entschädigungsopfer“. Aber „Kinderarbeit“, die im Theater nicht umsonst so streng wie in Bangladesh geregelt ist, oder „Billiglohn“, die gibt es auf beiden Seiten. In Bangladesh (oder China oder Afrika) aber können sie verbessern, was sie wollen. Das Image steht; gefestigt ist es von unserem selbstsam selbstgewissen Gefühl der moralischen Überlegenheit.

Als 1813

die Engländer aus dem Gebiet rings um Bangladesh abzogen, war Dhaka bald kaum mehr als ein Dorf mit nur noch 30.000 Einwohnern. Davor hat Dhaka noch heute eine Heidenangst. Hundert Jahre später geschah es in New York: Dort brach ein verheerendes Feuer in der Textilfabrik Triangle Waiste Company aus. Nach offiziellen Angaben starben 146 Arbeiter – 34 mehr als in der Tazreen-Fabrik in Bangladesh. Dieser Unfall von 1911 ließ die US-Gewerkschaften spontan erstarken. Noch einmal hundert Jahre später in Bangladesh wurde dieselbe Gefahr einer solchen Gründung sofort im Keim erstickt. Die Gewerkschaften sind dort ebenso schwach wie die wenigen Initiativen von Künstlern hierzulande, von ihrer „Koalition der freien Szene“ heute bis hin zurück zu ihrer 1946 gegründeten „Gewerkschaft der geistigen und kulturell Schaffenden“. Sie ging mit den Druckern, Publizisten und Musikerziehern solange immer neue Koalitionen ein, bis sie 2001 in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft verendete. Der Künstler als Dienstleister: Das war der finale Hohn einer Kultur, die den Künstler als ihren Kritiker bis zu ihrer restloser Entmachtung vereinnahmt. Nur deshalb bleiben viele Künstler tief in ihrem Herzen neoliberale Einzelgänger – und passen nicht zu unserer Kultur.

Seid fair,

heißt das Mantra unserer Kultur. Sie bedauert die Arbeiterin als ausgebeutetes Opfer. So sollen wir „fair traden“, wir sollen entschädigen, wir sollen mehr Sorge tragen für ein Land, das man nur vom Hörensagen kennt. Aber warum dieser missionarische Eifer? Was verschleiert er? Existiert vielleicht doch mehr Ähnlichkeit zwischen Europa und Bangladesh, nur, dass wir sie nicht sehen wollen? Wie unvergleichlich sind die Arbeitsbedingungen denn tatsächlich? Kann man die strikt organisierte Arbeitskultur in Dhaka wirklich nicht vergleichen mit dem durchschnittlichen Verhalten aller anderen Arbeitgeber, seien es Versandhändler, Logistikunternehmen, Banken, staatliche Firmen und also auch Theater? Eint nicht alle der Hang zur permanenten Rationalisierung? Über jeder Firma steht: „Besser optimieren“. Das ist in Bangladesh so, das ist bei Amazon so, das ist in den Theatern nicht anders. Es ist das Motto unserer Kultur. Sie selbst will sich immer weiter optimieren. Ob sie dazu wirklich Künstler braucht, zieht sie desto häufiger in Zweifel, je weniger Kritik sie gerade verträgt.

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