Auf kalten Füßen

Der dänische Polarforscher Andreas Kornerup vermisst einen grönländischen Gletscher (ca 1889-1891)

Jens Erik Carl Rasmussen

Dieses große, weite, weiße Land ist der Brückenkopf zwischen Kanada und Skandinavien. Und Europas größte Kolonie. Berühmt für Eisberge und eine Kultur, errichtet auf dem Land der Inuit, lockt Grönland zu Break Dance und Polka auf schmelzenden Eisschollen

Grönland von oben ist weiß und faltig wie ein Betttuch. Es ist die größte Insel der Welt. Aus dem Flugzeug heraus möchte man sich bloß nicht vorstellen, je einsam und verloren in der Weite dieser so unberechenbaren Landschaft wandern zu müssen. Der legendäre Whiteout, ein Sturm, der mit dem Schnee spielt und ihn kilometerweit in den Himmel hebt, verhüllt alles und löst Konturen und Schatten restlos auf. Da ist „mehr oder weniger Nichts“ mehr, wie es Christoph Marthaler nannte.

Zünftig auf Grönland eingestellt: das Theaterexpeditions-Team um Christoph Marthaler

Allen Naylor

Der Schweizer Regisseur unternahm 2011 mit seinem Ensemble eine Expedition nach Grönland. Es  entstand in Grönlands Hauptstadt Nuuk ein Stück namens „+-0“, in dem alles und alle unterschiedslos gleich wurden. Selbst wenn der Sturm sich wieder legt, wird alles die eine gleißend weiße Wüste aus Schnee sein – eine Oberfläche, die keine Orientierung bietet. So weit wie das Meer.

Der runde Horizont ist überall zu sehen und nichts würde ihn unterbrechen, nichts eine feste Landmarke bilden. Aus dieser Erfahrung der Nichtorientierung entwickelte der polnische Architekt Lech Tomaszewski für die Kunstzeitschrift „The Situationist Times“ 1963 seine „Geometrie der vierten Dimension“ – die Idee eines zeitlos leeren Raums, einer Bühne ohne Rahmen. Ein Theater ohne Bühne. Ein solches Theater als grenzenlose Landschaft lässt sich nur in Grönland vorstellen.

Knut Ove Arntzen im Ballettstudio

Knut Ove Arntzen, der norwegische Theaterwissenschaftler erzählt mir das. Er ist emeritierter Professor in Bergen und widmet sein Leben der Erforschung des Theaters im arktischen Raum. Seine Kenntnisse über das Theater in der Finnmark (im Norden Skandinaviens), des Theaters der Inuit in Grönland und Kanada, seine Neugier auf die sibirische Kultur, die Theaterästhetik in Island und selbst auf Spitzbergen: All das verbindet sich für ihn mit dieser Landschaft. Wie prägt sie den Menschen in dieser Weite, anders als eine Großstadt? Dort weichen der Blick und der Körper immerzu der Architektur aus und folgen vorgegebenen Pfaden oder Straßen. In einer leeren Landschaft wie Grönland gibt so etwas nicht.

Das Siedlungsgebiet der Inuit erstreckt sich von den Aleuten bis in den Süden Grönlands

Grönlands Ortschaften sind nicht durch Straßen verbunden. Knut Ove Arntzen weiß, dass man sich in diesem baumfreien, zirkumpolaren Raum in einer anderen Form bewegt und vermutet, dass man entsprechend anders denkt. Jede sichtbare Grenze, sonst ein Straßenrand, eine Hauswand, ein Waldrand, scheint hier immer wie selbst auf Distanz zu gehen, auf die Distanzen, wie sie Rentiere zurücklegen, denen die Sami in der Finnmark folgen. Aber auch die Küstenlinie kann eine Grenze der endlosen Distanz sein. Auf dieser Grenze bewegen sich die Insulaner im Sitzen fort, mit dem Kajak, wie es die Inuit in Grönland seit jeher taten, bei der Jagd auf Robben, Wale und Eisbären.

Das alte Nuuk und sein Kolonialhafen wird überragt von Hochhäusern, vor fünfzig Jahren errichtet zur Ansiedlung der Inuit

In Nuuk, der Hauptstadt auf Grönland, in der sich Knut Ove Arntzen und ich uns treffen, will man, ehrlich gesagt, nur wenig wissen von der Wildnis der Weite. Die Hauptstadt ist genau genommen ein Dorf mit gut 20.000 Bewohner:innen. Mittendrin die Samuel Kleinschmidtip Aqqutaa, eine kleine Querstraße. In ihr befindet sich die “Garagen”, das ehemalige „Manhattan“, der einzige Club im Ort. Eine Tanzinsel. Das Zentrum des Urban Dance von Grönland. Natürlich gibt es hier Breaker. Immerhin ist es die Hauptstadt. Vor dem Straßenschild frage ich, wer Samuel Kleinschmidt war: Ein Grönländer deutscher Abstammung, ein Missionar des 19. Jahrhunderts. Kleinschmidt ergründete die Grammatik der grönländischen Sprache: Kalaallisut heißt sie. Kalaallisut sprechen alle, außer den Dänen, Norwegern, Filipinos und Thais, die hier leben, um die 20.000 Menschen unter dänischer Verwaltung zu versorgen. Samuel Kleinschmidt übersetzte Kalaalisut einst ins Dänische. Auch das Wort „Eqqumiitsuliorneq“. Es entspricht dem grönländischen Wort für Kunst. Wörtlich meint es: „etwas Merkwürdiges machen“. Tanzen zum Beispiel.

Die Fischfabrik und dahinter das Arktische Kommando zu Landesverteidigung, der Bauboom in Nuuk und sein schweres Gerät, der Trockenfischmarkt der Inuit vor einem Einkaufszentrum

Knut Ove Arntzen wuchs im norwegischen Tromsø und in Honningsvåg auf, nördlich des Polarkreises. Er fühlt sich heimisch hier in Nuuk – ohne Baum und Strauch. Und ohne jeden Anflug von Empörung angesichts des Wachstums, eher doch: Baubooms in dieser kleinen Stadt. Überall entstehen neue Wohnblöcke neben alten Plattenbauten aus den 1970er Jahren, die zuvor mehrstöckigen Holzbauten Platz machten und nun ergänzt werden um immer modernere Mehrstöcker. Auch Nuuk kennt Armut, schon seit den 1960er Jahren, als die dänische Regierung die weit verstreuten Menschen im Land hierher umsiedeln ließ, um sie besser zu versorgen. Die Zwangsurbanisierung veränderte die Kultur, Familien wurden getrennt, die autarke Lebensgrundlage ging verloren. Heute gibt es Obdachlose bei minus zehn Grad Celsius in den Eingangsbereichen der beiden Einkaufszentren. Die Quadratmeterpreise haben sich in den letzten Jahren verdoppelt.

Der Hafen von Nuuk: Jede Ware wird von hier an Land gebracht

Nuuk wird ausschließlich durch Importe ernährt. Große Containerschiffe unter der Aufsicht grauer Fregatten der dänischen Marine schaffen jedes Stück Butter, jeden Käse, jedes Huhn und trotz der wenigen Straßen auch jedes Auto heran, das nötig ist, um in die weit auseinander liegenden Stadtteile von Nuuk zu gelangen: Es kostet viel, die wenigen Menschen zu verwalten, sich um ihren Müll, ihren Energiebedarf, um das Gesundheitssystem zu kümmern und hier eine Universität zu unterhalten.

Grönland ist das Land der Inuit. Ihre Lebensweise, die Jagd, steht für Autarkie, die Selbstversorgung. Ihre einstige Freiheit vom Handel haben sie verloren. Trotzdem sei Grönland keine Kolonie, sagt Dänemark. Nur Außen- und Verteidigungspolitik sind noch immer fest in dänischer Hand. Grönland wurde im Kalten Krieg zum nördlichen Brückenkopf gegen die Sowjetunion. Und zu einem Ort, der in sonderbaren Tänzen die Ahnen wieder anrief: mit Maskentänzen, wie sie vor allem die Grönländerin Elisabeth Heilmann Blind interpretiert. Aufgewachsen in Grönlands zweitgrößter Stadt, in Sisimiut, schloss sie sich in den 1980er Jahren einer Bewegung auf der Suche nach den Wurzeln der grönländischen Kultur an. Angestoßen vom dänischen Tûkak Theater, schiebt sich in ihren Performances Elisabeth Heilmann Blind heute einen Holzstock zwischen die Wangen, trägt um den geschwärzten Kopf gebundene Lederbänder und verleiht ihrer Maske den mythischen Charakter des „Meqqu – Angasoloq“, eines Wanderers zwischen der Vergangenheit der Vorfahren und den Nöten der Einheimischen heute.

Traditionell versorgen die Großeltern die Kinder der Inuit

Christine Eichmann (1869-1945)

Elisabeth Heilmann Blind als „Meqqu – Angasoloq“

Hans-Olog Utsi

Der französische Choreograf Daniel Larrieu: “Icedream”, Tanz auf einer ostgrönländischen Eisscholle

Christian Merlhiot

Mit dem 2007 in der Arktis abrupt einsetzenden Klimawandel rückte Grönland erneut in den Fokus. Unvergessen der Tanz auf der Eisscholle des französischen Choreografen Daniel Larrieu in der Videoinstallation „Icedream“, die 2010 an der eisreichen Ostküste entstand. Andere Interessen sehen: Es werde bei steigenden Temperaturen nun einfacher, Grönlands reiche Bodenschätze, etwa seltene Erden, abzubauen. Und es lockt die arktische Seidenstraße, die es China ermöglichen soll, künftig seine Handelswege auch entlang der russischen Nordküste oder über Alaska und Kanada zu führen, um direkt an Nuuk vorbei die Häfen von Churchill in Kanada oder New York anzulaufen. Die Spekulation über einen solchen Zuwachs an Interesse ist in Nuuk deutlich spürbar – auch wenn dieser einst hübsche Ort, gelegen an der Spitze einer Halbinsel vor einem System atemberaubend schöner Fjorde, vor allem den Tourismus locken soll.

Nuuk, das koloniale Dorf. Die Skulptur des Kolonialisten Hans Egede steht so weit im HIntergrund wie möglich

Der Professor und ich stellen fest: Das Dorf duckt sich weg vor der gewaltigen Landschaft hinter ihm. Es schaut zum Meer. Die alte, gut erhaltene Kolonie am Ufer mit dem grönländischen Nationalmuseum und dem alten kirchlichen Lehrerseminar ist genauso ausgerichtet – den Blick gen Westen. In Sichtweite zum alten Dorf steht die Skulptur von Hans Egede – wie ein Leuchtturm. Auch der steinerne Mann auf dem Felsen starrt beharrlich in den Ozean. Hans Egede war Norweger, ein Missionar, der in die Kälte kam. Nuuk gründete er 1721. Damals wurde der Ort unter dem dänischen Namen Godthåb (Gute Hoffnung) geführt. Egede war ein Kolonialist wie aus dem Bilderbuch, ein Missionar mit dem Auftrag der Kaufleute aus dem norwegischen Bergen, eine Handelsstation zu errichten – für Pelze und später den Tran aus dem Robben- und Walfang. Dieser Tran illuminierte vor Aufkommen des Mineralöls die Stadtbeleuchtung von London und Amsterdam. Die Wirtschaft trieb den Kolonialismus an, und der Ehrgeiz der Protestanten, jeden Inuit zu Gott zu bekehren, damit sie dem aus Sibirien stammenden, über Kanada eingewanderten Schamanismus abschwören. Dieser Ehrgeiz wirkt noch heute: Ein gutes Geschäft sei nur dann gut, wenn die Gesinnung stimmt. Was einst das Christentum war, heißt heute Demokratie. Wer diese nicht beherrscht, gilt im Welthandel als schlechter Partner.

Der norwegische Regisseur Tormod Carlsen und die Schlussszene des von ihm inszenierten Rockmusicals “Palasi”

Zur 300-Jahr-Feier der Ortschaft, mit pandemiebedingt zweijähriger Verspätung, hat das Städtchen Nuuk seinen Gründer Hans Egede soeben in Stücke geschlagen. Natürlich ist Grönland eine Kolonie, sagt der Regisseur Tormod Carlsen, selbst Norweger, und hier lange auf der Suche nach den Spuren seines grönländischen Großvaters. Er hat den zu Stein gewordenen Eindringling und Landsmann Hans Egede in einer Rockoper demontiert. „Palasi“ („Priester“) heißt die Produktion des Grönländischen Nationaltheaters.

Susanne Andreasen, die Produzentin und Chefin des Grönländischen Nationaltheaters mit Sitz in einem Industriegebiet (Bild unten)

Angu Motzfeldt

Ja, auch das gibt es hier: ein, so wörtlich, „Theater unseres Landes“, samt aufwändig mit Propellermaschinen zu absolvierender Tourneen in die kleineren Ortschaften entlang der langen Küste. Noch bis zum Sommer 2023 wird das Nationaltheater von Susanne Andreasen geleitet, einer Dänin. Ihr folgt nun die grönländische Schauspielerin Vivi Sørensen.

Plakat des Tûkak Theaters – der Urzelle des grönländichen Nationaltheaters

Ihre Bühne ist eine Gründung der Theatergruppe Silamiut. Auf Grönländisch bedeutet der Name: „Die, die im Freien leben“. Die Kompanie hatte sich mit einer Handvoll Schauspieler:innen aus dem Tukâk Teatret aus dem dänischen Fjaltring geformt. Sie kam 1984 nach Nuuk. Es blieb zeitlebens mangels Personal ein reines Projekttheater ohne festes Ensemble. So wurde es 2011 auch zum Nationaltheater. Hier probt und spielt man nun – sobald sich Theaterleute finden – Adaptionen arktischer Erzählungen und Maskenspiele wie „Aari“ 1989 oder die „Eskimunngooq“, die „Eskimo-Geschichten“ mit der Grande Dame des grönländischen Theaters, Makka Kleist (1992), der Grande Dame des grönländischen Theaters.

Das Studio des Nationalen Theaterschule ist, mit Halterungen an der Wand und hoher Decke, für Proben zu einem Aerial Dance geeignet

1997 zog das Theater vom alten Priesterseminar am Kolonialhafen, das auf Hans Egedes Missionarskünste zurückging, ins frisch errichtete Katuaq-Kulturzentrum. Erstmals gab es auch Modernen Tanz, so das Stück „Arsernerit“ (Nordlicht) der norwegischen Choreografin Indra Lorentzen. Bekannt wurde das Theater aber vor allem durch seine liebevollen Satiren, etwa über die ersten 25 Jahre der Selbstverwaltung Grönlands (1979-2004). Auch die aktuelle Produktion „Palasi“ reiht sich ein in dieses Theaterkonzept, das kritisch mit der hiesigen Geschichte umgeht und um die grönländische Identität ringt. Denn Grönlands Kinder, kaum flügge, suchen nichts dringender als die Ferne: Es zieht sie vor allem nach Dänemark.

Mit Babyphone ausgestattete Kinderwagen samt ungestört schlummerdem Inhalt von der Kulturzentrum Katuaq

Nicht das repräsentative Kulturzentrum Katuaq mit seinem beliebten Café, vor dem die Mütter tagsüber ihre mit Babyphone ausgestatteten Kinderwagen samt Inhalt vor der Glasfront parken, um in Ruhe miteinander zu plaudern, sondern eine ehemalige Lagerhalle in einem Industriegebiet ist heute Sitz des Nationaltheaters und seiner kleinen Theaterschule. Auch die Schule wurde von einer Grönländerin gegründet: Makka Kleist. Es gibt ein riesiges Studio mit fast zehn Meter hohen Wänden, auch erschaffen für Tänze in der Landschaft, eine Probebühne für Aerial-Choreografien – für von Seilen gehaltene, synchron schwingende Körper. Es gab mal eine solche Produktion. Heute nicht mehr. Susanne Andreasen, die Leiterin, führt durch die schlichten Räume wie durch ein Museum.

Historische Fotografien traditioneller Maskentänze der Inuit und Schmuckstücke der Schamamen in den Beständen des Grönländischen Nationaltheaters

Überall Plakate von früher und Fotodokumente, die grönländische Trommel- und Maskentänze aus einem anderen Jahrhundert zeigen. Knut Ove Arntzen deutet diese Memorabilien als typisch für die Entwicklung – allerdings des europäischen Theaters. Denn in den 1980er Jahren gab es, erzählt er – dank Jerzy Grotowsky, Eugenio Barba und Richard Schechner –, eine Bewegung der Theateranthropologie, die zurück wollte zu den Ursprüngen des Theaters, zu Kult und Körper. Wo besser als in Grönland konnte man solche Traditionen studieren, die hier in Reinform erhalten waren? Das war auch das Ansinnen der Schauspieler:innen von Silamiut. Fündig geworden wären sie nur im dank langen Eisstands schwer zugänglichen Osten der Insel. Der Maskentanz der Inuit etwa – „500 Euro kostet es, wenn du diesen Tanz sehen willst“, sagt Susanne Andreasen und lauert. Beiße ich an? Ist es mir die Summe wert? Ich zögere. „Der Tänzer muss auch leben“, erklärt sie mir den hohen Preis. Und lacht.

Die grönländische Theatergruppe Silamiut war vor vierzig Jahren die Vorhut eines anthropologischen Theaters. Und geriet schnell in eine Sackgasse: Überall auf der Welt wollen Touristen eine authentische Fremde erleben, auf Bali, in Afrika, auch hier in Grönland: Sie wollten Tänze der Inuit, wenigstens aber die einst von holländischen Seefahrern importierte grönländischen Polka zu Violine und Harmonika zu sehen bekommen. „Das ist ein Problem“, gibt Knut Ove Arntzen zu, „obwohl die ernsthafte theateranthropologische Forschung im letzten Jahrhundert den Dialog mit den Kulturen suchte und dabei so berühmte Regisseure wie Peter Brook, Ariane Mnouchkine oder Robert Lepage hervorgebracht hat,“ lauter weltreisende Abenteurer, die von Kambodscha bis Alaska immer dicht auf den Spuren der indigenen Theaterkunst blieben. In Kanada und Europa schien auch bei ihnen das Publikum aber nur träumen zu wollen von den Mythen und der exotischen Buntheit der Welt. Heute gelten Theateranthropologen als koloniale Helfershelfer. Arntzen verachtet sie nicht, denn sie fragen, welche Rolle das Theater in ursprünglichen Gesellschaften besessen hat mit ihren rauschhaften Dionysien und Tänzen, die kollektive Ekstasen auslösten. Heute gibt es gibt es nur noch eine lapidare Antwort: Es sei kulturelle Aneignung. So etwas gehört verboten, obwohl grönländische Tänze, grönländische Mythen, grönländische Musik unter dem Label „Weltmusik“ längst nahtlos in den Bestand westlicher Kultur übergegangen sind.

Maskentanz des Gründungsensembles, des Silamiut Theaters, 1990

Hans Peter Kleemann in “Palasi”

Aber umgekehrt ist ein Schuh daraus geworden. Es war die Idee des grönländischen Gitarristen Hans Peter Kleemann und des Schriftstellers und Politikers Aqqaluk Lynge, das Rockmusical „Palasi“ auf ihrem Lebenswerk zu errichten. Kleemann war Mitglied der legendären grönländischen Band Piitsukkut („Die Armen“), die sich 1980 das Recht herausnahm, westlichen Punk, Hard Rock und was sonst noch nach Grönland drang, in einen Song namens „Unterdrückte aller Länder, vereinigt Euch!“ zu stecken. Oder den Song „Our Own Clothes“ zu komponieren: Darin heißt es: „Wir müssen uns warm anziehen. Aber womit? Mit den Kleidern der Dänen? Nein!“ Damit war die Band  so erfolgreich, dass sie prompt nach Dänemark eingeladen wurde. Hier entstand der Song „The Sun“ (Seqineq):

Du siehst die aufgehende Sonne
du siehst den schmelzenden Schnee
du siehst das zurückweichende Eis
du siehst, es wird bald Sommer
deine Augen sehen
sehen die Eisberge
die Eisberge im Meer
deine Augen sehen
das glitzernde Meer
es ist dein, dein eigenes
und mein – es ist unser Land
schöner,
lieblicher
als alles andere

Da Grönland bereits zwei Nationalhymnen hat, gilt dieser Song nun als die inoffiziell dritte. Nur die Band Piitsukkut gibt es nicht mehr. Für das Rockmusical „Palasi“ wird sie von einer jüngeren Generation gecovert. Das Publikum springt schnell von den Sitzen. In Karaoke-Manier wird der Song von der aufgehenden Sonne an die Wand projiziert. Und während das Publikum – etwa zur Hälfte (die andere Hälfte versteht und spricht nicht Grönlands Sprache Kalaalisut) – inbrünstig mitsingt, kommt auch er auf die Bühne: Hans Peter Kleemann. Unverkennbar seine langen Haare in Regenbogenfarben, traditionelle Inuit-Tattoos, Gitarre – das letzte noch verbliebene Bandmitglied, Jahrgang 1956 und überzeugter Großvater zweier Enkelinnen: „Ich sage immer, die Großeltern sollen die Kinder verwöhnen, die Eltern sollen sie erziehen. Auch er ist ein Kind seiner Großeltern. Er wuchs im Elternhaus der Mutter auf, auf einer Insel im Nordwesten Grönlands. Die Großmutter braute Schnaps: „Nachts, wenn wir einen lauten Knall hörten, wussten wir, dass die Flasche zum Trinken bereit war“, erinnert er sich. Und der Bruder des Großvaters brachte ihm bei, dass man auf Eisschollen nicht spielen soll, und stieß ihn von der Scholle ins eiskalte Wasser. In der Schule war er der einzige Grönländer unter lauter Dänen, wurde gemobbt, ging auf die Sekundarschule ins Städtchen Asiaat und lernte dort auf einer Party den älteren Musiker Maasi Lynge kennen, später der Leadsänger der Band Piitsukkut. „Abends war in der Sekundarschule Ausgangssperre. Wenn die Band spielte, sprang ich vom Fenster herunter und rannte zum Gemeindezentrum, um sie spielen zu hören“, erzählt er. Und er folgte Maasi Lynge, seinem neuen Idol, nach Qaqortoq, ganz in den Süden von Grönland. Hier war immer Partytime. Auch die maoistisch geprägte Partei Inuit Ataqatigiit war gerade gegründet und organisierte mit dem heutígen Mastermind hinter der „Palasi“-Produktion, Aqqaluk Lynge, das Sommercamp in Aasivik. Auch der Musikproduzent Karsten Sommer, gebürtig in Straßburg, vom Pass her Däne, stieß dazu. Seine ULO Records führten die Band Piitsukkut zum Erfolg. Karsten Sommer erzählt gern von diesem legendären Sommercamp, dem traditionellen Sammelplatz der Inuit, der dazu diente, ihre Wintervorräte anzulegen. 1979 wurde daraus ein Ort, um auch „Wintervorräte für den Kopf” anzulegen, sagt er. Mit Musik, die politisch und vor allem wütend genug war, um das Land nicht länger den Dänen zu überlassen.

Der alte Song der Band Piitsukkut, „Palasi“ (“Priester”), beginnt so: „Wir hörten einen, der unsere Sprache nicht sprach. Er streckte seine Hände aus und wartete auf unsere“. Der Rest des Lieds kritisiert schonungslos die Kirche für ihre Rolle bei der Kolonialisierung der Inuit: als ein Kampf der Kulturen. Dieser Kampf war noch nicht zu Ende. Auf der einen Seite standen Hans Peter Kleemann und seine rebellischen Mitmusiker, die ihre Kunst als „brand new political anti-colonialist art in Greenland“ bezeichneten. Auf der anderen Seite stand die Kirche, die heftig protestierte und der es mit Hilfe staatlichen Drucks gelang, dass die einzige Radiostation, KNR in Nuuk, das Lied zwei Jahre lang nicht spielen durfte. Jetzt ist dieses Lied der Titel eines ganzen Rockmusicals.

Dessen Handlung besteht wesentlich darin, das in Grönland sehr beliebte Motiv des Kampfes des Schamanen gegen den Prediger, des Naturglaubens gegen den Monotheismus, wie einen Glaubenskampf auf Augenhöhe zu verniedlichen.So macht es auch Grönlands große Schauspielerin und Dramatikerin Makka Kleist, deren Duo, „The Shaman and the Priest“, ebenfalls frei nach Hans Egedes Missions-Tagebüchern und persönlichen Erinnerungen der Inuit, von Hanne Trap Friis als Kammerspiel in Aarhus auf die Bühne kam. Hans Egede wirkt offenbar wie ein kollektives Trauma. In „Palasi“ tritt ein Chor der Inuit auf einer Videoleinwand auf, die das Orchester verdeckt. Das Orchester ist die eigens aus Tromsø angereiste Arktisk Filharmoni. In der Bühnenmitte steht als Nachbildung die Statue von Hans Egede – „Come to Daddy“ steht wie gesprayt auf ihrem Sockel. Nach der Errichtung des Monuments dieses protestantischen Missionsarbeiters aus Pappmaché folgt als Höhepunkt – zum oben zitierten Song „The Sun“ – die lichttechnische und akustische Sprengung des Denkmals.

“Palasi” – der Höhepunkt: die lichttechnische und akustische Sprengung des Denkmals des Kolonialisten Hans Egede

Unter Theaterwissenschaftlern denkt man: Jede Nation in Europa hat zuerst das Theater gekannt. Es stachelte unter permanenter Androhung von Zensur zur Revolution an, und erst mit Gründung der Nation gab es das Nationaltheater. In Grönland ist es genau umgekehrt: Erst kam das Nationaltheater, dann – vielleicht – die Gründung der Nation, und wann immer es hier eine Revolution geben wird: man weiß es nicht.

Auftritt von Aqqaluk Lynge in “Palasi” – des parlamentarische Kämpfers der ersten Stunde für die Unabhängigkeit Grönlands von Dänemark

Grönland ist in der Tat keine Nation, trotz zweieinhalb Nationalhymnen, gigantischen Nationalparks, die zwanzig Mal so groß sind wie Dänemark, trotz Nationalblume (ein arktisches Weidenröschen), trotz weiß-roter Nationaltracht, Nationaltheater und Nationalmuseum. Ein eigenes grönländisches Parlament konnte erst 1979 zusammentreten. Damals bereits mit dabei war Aqqaluk Lynge, der Sprecher und Dichter von „Palasi“, ein Schriftsteller, vor allem ein Politiker im Parlament der ersten Stunde. Die Arbeit des Parlaments begann damit, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (die heutige EU) zu verlassen – was nichts daran änderte, das bis heute ausschließlich staatliche Unternehmen die Versorgung der Bevölkerung organisieren und von Dänemark bezahlt werden. Erst seit dem 21. Juni 2009 ist Grönland tatsächlich selbstverwaltet. Darum ist der 21. Juni der Nationalfeiertag. Selbstverwaltung heißt: Die Rohstoffe Grönlands gehören nun den Grönländern. Dennoch versuchte 2019 die Regierung Donald Trump die Rieseninsel der dänischen Regierung abzukaufen, um sie den Vereinigten Staaten einzuverleiben. Zwar vergebens, aber es zeigt: Auf internationaler Ebene bleibt Grönland das Land der Dänen.

Ballettunterricht im frisch eröffneten Tanzstudio von Nuuk, dem “NuQi”

Und die Invasion geht weiter: Auch die Tanzszene kommt ins schmelzende Land. Finanziell hilft ihr – ebenso wie der Produktion „Palasi“ – das Nordic Institute, die grönländische Kulturstiftung. Sie ist zu Hause im Verbund des Nordischen Ministerrats aller skandinavischen Länder, um den Kulturaustausch untereinander zu fördern. Darum kann ein ganzes Orchester aus Tromsø selbst für nur sehr wenige Vorstellungen nach Nuuk reisen. Und darum können Grönländer Anträge stellen – auf Studienplätze oder Künstlerresidenzen im gesamten Einflussbereich des Nordischen Ministerrats. Und all das funktioniert auch umgekehrt: Dänische, norwegische und andere skandinavische Künstler:innen jedweden Genres werden mit Stipendien versorgt, sollten sie in Grönland arbeiten wollen. Und das tun sie.

Sie tun es selten deshalb, weil die streng gefaltete Landschaft sie reizt, der endlose Winter unter dem Polarlicht oder weil der Sommer hier erträglicher erscheint als am Mittelmeer. Sie tun es, weil sie tanzen wollen, und nicht selten, weil sie Heimweh haben. In aller Regel – als wäre es ein Gesetz – sind Tänzer:innen in Nuuk oft durch ihre von hier stammenden Großeltern mit Grönland verbunden: nicht zwingend Inuit, auch die einst hier angeschwemmten Walfänger, Kaufleute und Lehrlinge des Pastorenhandwerks sind Grönländer – unterschiedslos durch den dänischen Pass.

Das Zuhause des “NuQi”: die Godthåbhallen. Links daneben ein nobles Karate-Dojo

Sarah Aviaja Hammeken hat als Künstlerin lange im Umfeld des Tanzhauses in Kopenhagen gearbeitet, der Dansehallerne. Als Tänzerin wurde sie in München und Stockholm ausgebildet. Längst produziert sie auch eigene Stücke. Und arbeitet mit den Kindern von Nuuk, gibt Ballettunterricht, lässt sie tänzerisch improvisieren – tagsüber treffen wir sie bei Proben im Studio der Theaterschule des Nationaltheaters, abends arbeitet sie in den Godthåbhallen, eigentlich eine riesige Sporthalle für tausend Zuschauer, die hier sonst Grönlands Handballnationalmannschaft erleben.

Im ersten Stock gibt Sarah Aviaja Hammeken ihre Tanzkurse in einem nagelneuen, im März 2023 feierlich eröffneten Tanzzentrum, dem NuQi. Gegründet hat es Ruth Montgomery-Andersen, Doktor der Gesundheitswissenschaften aus Austin, Texas. Nach Nuuk kam sie zur Jahrhundertwende der Liebe wegen, zusammen mit ihrem dänischen Mann. In Grönland fand sie schnell ein reiches Forschungsfeld. Im Hauptberuf arbeitet sie an der Grönländischen Universität, in der Fakultät für Gesundheitswesen. „Kultur und Gesundheit“, sagt sie, „haben ungemein viel miteinander zu tun.“ Das Grönländisches Institut für Gesundheitsforschung beschäftigt sich nicht nur mit Hygiene und Vorsorge, sondern wesentlich auch mit ökologischen, kulturellen und sozialen Fragen. „Tanzen ist nicht nur gesund, es ist ein sehr körperliches Mittel zur Integration und Konfliktbewältigung, ein Schlüssel zur Lösung dringender sozialer Probleme.“ Und die gibt es in Nuuk zuhauf.

Ruth Mongomery-Andersen

Sarah Aviaja Hammeke

Ruth Montgomery-Andersens Tanzkompetenz ist beachtlich. In ihrer Zeit an der Southern Methodist University in Texas war sie Mitglied der dortigen Meadows Division of Dance – eine Erfahrung, die sie nicht nur als Ärztin prägte. Sie wurde Leiterin des Kulturprogramms bei den Arktischen Winterspielen 2016 in Nuuk, gleichzeitig kümmert sie sich um Frauen und darum, wie sie gesund ihre Kinder bekommen können in einem polaren Umfeld, in dem es kein enges Netz von Hebammen und Ärzten gibt. Vor allem eine Frage treibt sie um: wie deren Kinder aufwachsen, was sie anspornt: ohne die alte Inuit-Kultur, sondern durch eine verschulten Jugendbildung, die sie nur wenig konfrontiert mit Perspektiven und Chancen, um sich selbst ausprobieren. Die meisten sind einfach wild, kräftig und hungrig nach Leben. Und suchen mit dem Erreichen ihrer Volljährigkeit das Weite.

So wie Niels Berglund. In der jungen, aus einem Sozialfonds der dänischen Oak Foundation mitfinanzierten Tanzschule von Ruth Montgomery-Andersen hat er nun die B-Girls und B-Boys unter seinen Fittichen. Den Tanzwütigen zog es, kaum achtzehn, von Nuuk ins dänische Århus, um Automechaniker zu werden. Aber in der Werkstatt wollte es ihm schlicht nicht gelingen, sich selbst zu bändigen. Seine Kräfte forderten etwas anderes: Zehn Stunden und manchmal mehr hat er am Tag getanzt, erst Ballett, von dem er hoffte, es würde ihn bändigen und disziplinieren – auch wenn er noch tanzte, als alle anderen das Studio längst verlassen hatten. „Wenn die Pirouetten nicht reichen, lass mich noch den Headspin dazu nehmen“, dachte er. Aus dem Ballet Boy wurde ein Urban Dancer. Er wurde erwachsen als einer, der sich unablässig um sich selbst dreht. Wie ein König kehrte er nach Nuuk zurück, in den damaligen Club Manhattan, das Zentrum des Urban Dance in der Samuel Kleinschmidtip Aqqutaa. Er machte den Breakern dort jede Menge vor, organisierte Battles, tauchte tief ein in eine Szene, die er mit erschaffen hat. Dann verletzte er sich seine Hüfte schwer, musste anderthalb Jahre pausieren. Jetzt arbeitet er bei Ruth Montgomery-Andersen und ihrem Sohn Alexander, ebenfalls Tänzer, bei einer Familie, die im Tanz dem Ego wenigstens körperlich eine Perspektive verschaffen will.

Niels Berglund

Auch eine Demütigung; Nichts in diesem Kleidergeschäft wurde in Grönland produziert

„Es gibt ein soziales Problem, eins, das von der Tradition entfremdet ist und sich vom europäischen Blick gedemütigt fühlt. Da ist eine Wut, der kann man nicht einfach Herr werden. Man muss die Wut produktiv machen – durch Qualifikation und Networking“, sagt Ruth Montgomery-Andersen.

Die Frau ihres Sohnes, Madelaine Graadahl, ist Produzentin an der „Regional Arena for Samtidsdans“, einer Arena für zeitgenössischen Tanz im norwegischen Sandnes. Von hier aus ist es nicht weit zur Insel Finnøy mit einem Sommercamp für Tanzschaffende aus dem Norden, nicht unähnlich den Sommercamps, wie es auch sie bereits in den 1980er Jahren auf Grönland gab. Es sind die Ähnlichkeiten, die locken und zusammenbringen, die Insel, die raue Küste, das weite Meer. Natürlich, sagt Knut Ove Arntzen, ist es die Landschaft. Sei bedeutet den Menschen hier weitaus mehr, als man annimmt. „Den Inuit wie auch den Sami war über Jahrhunderte, Jahrtausende die genaue Kenntnis ihres nicht agrarisch nutzbaren Lands die einzige Lebensgrundlage. Nur deshalb konnten sie ohne Ackerbau überleben. Das bedeutet, dass man sich kulturell sehr deutlich unterscheidet von der bäuerlich-sesshaften Kultur des südlicheren Europas. Man kann auch nach noch so langer Zeit aus einem Inuit keinen Bauern machen, und aus einem Bauern keinen Nomaden. Das ist eben Kultur,“ sagt er und lädt in die Mutten ein, ins Gasthaus, in das volkstümlichste unter der vielen Kulturzentren von Nuuk.