Vom Verschwinden

Mexico - tanz.dance
Im Spinnennetz:. „Lemniskata“ von Lukas Avendaño

Jaime Martin

Mexiko ist das Land, das die Toten feiert. Da wundert es nicht, wenn Kartelle sie wie am Fließband produzieren, all die Verschwundenen und Ermordeten. Was keiner glaubt: In diesem Land sorgt der Tanz dafür, dass sich dieses Blatt auch wieder wenden kann

Kulturvermittler und Journalist aus Guadalajara

Tanzen macht Spaß. Auch wenn alle sagen: Es ist harte Arbeit. Tanzen macht Arbeit nicht nur, um sich immerfort selbst zu perfektionieren. Arbeit ist es vor allem, einen Unterschied zu machen, sich abzusetzen, aufzufallen, weil es in der Tanzkunst nicht reicht, nur einen Einfall zu haben. Es braucht eine Idee. Eine Überzeugung. Und die entsteht oft nur durch Druck von außen. Lukas Avendaño hat diesen Druck immer gespürt.

Mario Patino Sanchez

Wer sich schminkt wie Lukas Avendaño, Frauenkleider trägt und in Mexiko unterwegs ist, kann nur eine Tunte sein, die bestens untertauchen sollte in die Subkulturen von Mexiko City. Lukas Avendaño ging den umgekehrten Weg, raus aufs Land, nach Tehuantepec in den Süden des Landes, in eine Provinz, die arm ist und in der niemand das Wort „Transgender“ in den Mund nehmen würde. Nicht, weil man nicht wüsste, was das sein soll, sondern weil der Mann, der weibliche Ambitionen hat, gut zu gebrauchen ist für das, was man weibliche Arbeit nennt: Pflegen, Kochen, Unterrichten, gern auch Tanzen.

Aber täuscht euch nicht. Es gibt keine „weibliche“ Arbeit – selbst im vom Machismo so geprägten Mexiko nicht.

desaparecer

Wer je mein Land besucht hat und bereit war, der sozialen Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, wird schnell feststellen, dass ein Wort immer wieder fällt: „desaparecer“ – verschwinden. Menschen verschwinden, angeblich spurlos. Auch die alten Kulturen verschwinden: alles verschwindet.

Jaime Martin

Den Choreografen Lukas Avendaño hat das „Verschwinden“ ergriffen, gepackt, es lässt ihn nicht mehr los. Warum verschwindet der einst übliche Begriff eines „dritten Geschlechts“? Wieso verschwand sein Bruder? „Spurlos“ sei er angeblich verschwunden, damit niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann für das, was nicht mehr da ist, was fehlt. Auch die Geschichte der Indios verschwindet, ihre Vielfalt, deren Spuren Lukas Avendaño nachspürt, nicht nur als Choreograf seines aktuellen Stücks, „Lemniskata“, das gerade auf Tournee ist. Er ist von Beruf auch Anthropologe. Ja, das gibt es: einen Anthropologen, der Choreograf geworden ist, oder umgekehrt. Seine Geschichte ist voller Dringlichkeit. Sie aufzuschreiben, hat beides gemacht: Arbeit und Spaß.

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Der Mann im Rock

3,16

Lukas Avendaño ist ein Indigener, ein Mexikaner, frei genug, anders zu denken und zu handeln, als es westliche Normen vorschreiben. Als Künstler leistet er Widerstand, durch Tanz, mit politischen Inszenierungen und seinem nackten männlichen Körper. Das ruft Bewunderung, Wut und Ablehnung hervor – als hätte die Welt Angst davor, in Frieden und Freiheit unterzugehen

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