Tanz der Zeitalter: Kyomai

Die Geisha: Bewahrerin der klassischen japanischen Tanzkunst

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Eine japanische Geisha oder Geiko ist eine hervorragende Künstlerin und Bewahrerin der klassischen Kultur. Um dieses Können zu erlangen, besucht sie über Jahre eine Schule, deren Absolventinnen großartige Kennerinnen des klassischen Repertoires sind. Inoue Yachiyo V lenkt als Künstlerin, die auf der Bühne ihr Publikum sprachlos macht, ihre Schule in Kyoto durch alle Fährnisse der Moderne. Mit ihr ein Gespräch über den Tanzstil Kyomai führen zu dürfen, ist großes Glück und vermittelt einen tiefen Einblick in die japanische Tanzkunst.

Kulturforscher und Übersetzer aus dem Japanischen

Jetzt, wo die Scheune
in Flammen aufgegangen ist
kann ich den Mond sehen

Haiku des Samurai Mizuta Matsuhide aus dem 17. Jahrhundert

Die Inoue-Schule des Kyoto-Tanzes Kyomai (Inoue-Ryu Kyomai) wurde während der Edo-Periode (1603-1867) von Inoue Sato (1767-1854) gegründet und wird seither in einer Linie von der jeweiligen Meisterin weitergeführt. Kyomai ist eine Kombination aus den Kanjis für 京(Kyo), das auf den Ursprungsort – den kaiserlichen Hof in Kyoto – anspielt, und 舞(Mai), einer choreografisch zurückhaltenden Form. Das Wort bezeichnet ein Tanzgenre, das ausschließlich von Frauen aufgeführt wird. Jedes aufeinander folgende Oberhaupt der Inoue-Ryu trägt den Titel Inoue Yachiyo. Obwohl sie alle den Namen Inoue tragen, wie ein Clan, sind sie nicht notwendigerweise miteinander verwandt. Inoue Yachiyo V (1956 geboren), die aktuelle Inkarnation und Enkelin von Inoue Yachiyo IV (1905-2004), ist die vierte Nachfolgerin in dieser mehrere Jahrhunderte umspannenden Dynastie der Tanzmeisterinnen. Sie übernahm die Leitung der Inoue-Schule, als Yachiyo IV. im Jahr 2000 in den Ruhestand ging und wurde so zur lebendigen Bewahrerin der Tradition der Schule des Kyomai und betraut, deren Überleben zu sichern.

Obwohl die jüngste Pandemie ernsthaft am Überleben der Tanzschule zweifeln ließ, hat Inoue Yachiyo V. sie vorbildlich weitergeführt. Dank ihrer Entschlossenheit hat sie diese Zeiten unbeschadet überstanden. Ein Geheimnis des Durchhaltevermögens der Schule in der Krise ist das Sendungsbewusstsein von Inoue Yachiyo V., das sie seit ihrem Amtsantritt nie verloren und ihre Talente und ihre unermüdliche Energie in den Dienst einer Kunst gestellt hat, die ihre Familientradition seit Jahrhunderten nährt.

Das Wahrzeichen der Inoue-Schule des Kyomai ist nicht umsonst die Kamelienblüte als ihr Wahrzeichen. Der Kamelie wird nachgesagt, dass sie genug Lebenskraft besitzt, um achttausend Jahre zu überleben. Den Tänzerinnen, die ein professionelles Niveau erreichen und eine Natori (eine akkreditierter Lehrerin) im Inoue-Stil werden, wird zum Abschluss ihre Ausbildung ein Fächer mit einer weißen Kamelienblüte auf rotem Hintergrund überreicht. Die vier vorangegangenen Damen in der Linie Inoue Yachiyo waren alle dafür bekannt, mehr als neunzig Jahre alt zu werden und bis in den Winter ihres Lebens zu tanzen.

Die Hundertjährige: Yashiko III (1838-1938)

七つ子

Inoue Yachiyo III (1838-1938) stand noch im hohen Alter auf der Bühne und war für ihre Vorliebe für Spaghetti bekannt – zu ihrer Zeit eine seltene Spezialität. Das Bier bezeichnete sie als ihre “Medizin”, an dem sie nippte, bevor sie ihren Unterricht gab. Sie war eine unerschöpfliche Kraftquelle und ihre Bühnenpräsenz war so gewaltig, das ihre Erscheinung mit der Kraft eines Sumo-Ringers assoziierte. Ihre Stärke trug dazu bei, das Überleben des Kyomai als Tanzform während der beschwerlichen Weltkriegsjahre im Pazifik und darüber hinaus zu sichern. Das Alter haben all die ehrwürdigen Tänzerinnen nie als ein Hindernis betrachtet, nur als eine weitere Facette der menschlichen Existenz, die gleichermaßen mit Schönheit, Freude und Schmerz ausgestattet ist, wie sie auch dazu in der Lage sind, eine fast unendliche Palette kreativer Ausdrucksmöglichkeiten in ihren Körper zu integrieren. Wer an der Vitalität von Japans Heerscharen über 80- und 90-jährigen Künstler:innen zweifelt, braucht sich nur Daniel Schmids Dokumentarfilm „The Written Face“ von 1995 anzusehen, in der die legendäre Jiutamai-Tänzerin Han Takehara und der berühmte Buto-ka Ohno Kazuo zu sehen sind, um zu verstehen, wie diese alternden Persönlichkeiten so lebendig und erfolgreich bleiben konnten.

Generationen überspringen

Die heutige Titelträgerin Inoue Yachiyo V lernte den Tanz von ihrem dritten Lebensjahr an und wurde mehr als vierzig Jahre lang unter dem prüfenden Blick ihrer Großmutter Yachiyo IV. unterrichtet, einer strengen Lehrmeisterin, die von ihrem Schützling völlige Hingabe verlangte. Der kleinste Fehler zog scharfe Zurechtweisungen nach sich. Sie musste nicht nur die äußeren Formen des Tanzes (Kata) beherrschen, sondern auch den Geist des Kyomai annehmen. Bevor die Großmutter 1960 den Stab an ihre Enkelin weiterreichte, ließ Yachiyo IV. die Jüngere, die heute amtierende Inoue Yachiyo V in einem Übergangsritus die Choreografie des „Mushi no Ne“ (Klang der Insekten) erlernen.

Inoue Yachiyo IV

地唄虫の音

Inoue Yashiko III

Inoue Yachiyo IV

Inoue Yashiyo V

Inoue Yasuko (rechts)

Die Tochter von Inoue Yachiyo V, Inoue Yasuko, wurde früh ausgewählt, um die Nachfolge anzutreten. Wie alle früheren Meisterinnen der Schule auch wurde sie von ihrem dritten Lebensjahr an zur Tänzerin ausgebildet

鐘ヶ岬 高画質

Die alternde Meisterin war bei der Amtsübergabe an ihre Nachfolgerin der Meinung, dass ihrer hochbegabten Schülerin zu diesem Zeitpunkt noch immer die nötige Bühnenreife fehlte, um dieses anspruchsvolle Repertoirestück in Angriff zu nehmen. Es handelt von einem einsamen Mann, der allein in den Herbstfeldern steht und dem Gesang der Insekten lauscht. Da Yachiyo IV erkennen musste, dass ihre Zeit nicht mehr reicht, sah sie sich gezwungen, ihrer Nachfolgerin diesen Tanz früher als sonst beizubringen. In einem gefilmten Interview aus dieser Zeit wird sie gefragt, wie viel sie der zukünftigen Schulleiterin noch zu vermitteln habe. Yachiyo IV antwortet lakonisch. “Sieben Zehntel.” Da es in der Aufnahme so scheint, der Interviewer würde glauben, dass der Jüngeren nur noch 30 Prozent zu übermitteln wären, wird er sofort korrigiert. Sie entgegnet ihm todernst: “Es ist genau andersherum …”

Das Noh-Theaterstück “Aoinoue”

Yoshihiro Maejima

Kyogen

Thomas Hahn

Anerkennungen

Seit Generationen ist die Inoue-Schule des Kyomai untrennbar mit anderen traditionellen Kunstformen Japans verbunden, insbesondere mit dem Noh-Theater und dem volkstümlicheren Komödiengenre des Kyogen. Sowohl Yachiyo III als auch Yachiyo IV waren mit Meistern der Kanze-Schule des Noh verheiratet. Der Ehemann von Yachiyo V ist der Noh-Spieler Tetsunojou Kanze IX.

Zeremonie für die Maiko, die als Debütantinnen einen besonderen Fächer von der Meisterin des Kyomai, Inoue Yachiyo (zweite von links), überreicht bekommen

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Die japanische Regierung hat Yachiyo V. und ihre Großmutter Yachiyo IV. in Anerkennung ihrer herausragenden Beiträge zum kulturellen Erbe des Landes zu lebenden Nationalschätzen ernannt. Nicht als Monumente aus Stein, sondern als Künstlerinnen, die offiziell als die Hüterinnen wichtiger immaterieller Kulturgüter geehrt werden. Bis heute, im Jahr 2023, sind rund 1400 Persönlichkeiten mit diesem auf Lebenszeit verliehenen Titel ausgezeichnet worden. Die Geehrten erhalten ein Stipendium von der japanischen Regierung, um sich ganz auf ihre Kunst konzentrieren können. Mit ihrer Auszeichnung will die Regierung die heimischen Kunstformen bewahren und an künftige Generationen weitergeben. Als Nationalschatz bezeichnet, werden die Künstler:innen als Bewahrer:innen eines kulturellem Wissen verehrt, das andernfalls aussterben würde.

Zurückhaltung

Kyomai ist seit jeher in das kommunale Gefüge Kyotos eingebettet und dort vor allem mit dem Viertel Gion verbunden, dem Epizentrum des pulsierenden Nachtlebens der Stadt. Seit der Edo-Zeit ist Gion ein farbenfrohes Vergnügungsviertel, in dem sich die Kyotoer versammeln, um lokale Köstlichkeiten und alkoholische Getränke zu genießen und sich von einer Geiko, dem Begriff für Geisha im Kyotoer Dialekt, unterhalten zu lassen. Wie die Bewohnerinnen der einstigen Hauptstadt Japans legt auch die Kunstform des Kyomai keinen Wert auf Eindeutigkeiten. Vielmehr neigt die Geiko dazu, ihre Gefühle so auszudrücken, dass sie gleichzeitig weibliche Zähigkeit und weibliche Zärtlichkeit verkörpert. Mit einfachen, unprätentiösen Bewegungen wirkt ihr Tanz subtil und suggestiv zugleich. Im Wesentlichen geht es darum, dass sie die Kraft ihres Unterleibs richtig einsetzt und den Schwerpunkt des Körpers so verankert, dass ihr Oberkörper in die Lage versetzt wird, wohlgeformte, beredte Linien durch die Luft zu ziehen. Während eine Kyomai-Tänzerin die Bewegungen ihrer Arme, Hände, Füße und ihres Nackens harmonisch aufeinander abstimmt, besteht die Kunst vor allem darin, tiefsten Gedanken und Gefühle mit einem Minimum an Mitteln und ohne klischeehafte Mimik oder stereotype Gesten oder Posen darzustellen.

Urban myths

Der hartnäckig sich haltende Mythos, dass die Geisha mit der Sexindustrie in Verbindung stehen, wurde durch die Verwendung des Begriffs “Geesha Girl” genährt, der in den Nachkriegsjahren in Mode kam, als alliierte Seeleute und Militärangehörige erstmals mit dem japanischen Leben in Berührung kamen. Seitdem verallgemeinert dieser Begriff pauschal sämtliche weibliche Beschäftigte im japanischen Nachtleben und wurde fälschlicherweise zum Synonym für eine Prostituierte oder Cabaret-Hostess.

Mit den Kanjis für Kunst 芸 (gei) und Person者 (sha) geschrieben, bedeutet der zusammengesetzte Begriff Geisha jedoch wörtlich eine Person mit künstlerischen Fähigkeiten. So wird der Begriff noch heute in Japan verstanden und verwendet. Er bezeichnet eine hochqualifizierte, professionelle weibliche Darstellerin, die in einem breiten Spektrum traditioneller japanischer Künste sowie in der Kunst der geselligen Unterhaltung ausgebildet ist. Interessanterweise beziehen sich einige der frühesten bekannten Aufzeichnungen über die Geishas – aus dem frühen 17. Jahrhundert – auf due taiko-mochi (wörtlich: Trommelträger), auf Männer also. Vergleichbar waren sie etwa Hofnarren, Musiker und Anekdotenerzähler, die den Adel unterhielten. Nur wenig später traten die ersten weiblichen Geishas auf, und noch vor Ende des Jahrhunderts sollten sie den Beruf dominieren. Es würde den Rahmen bei weitem sprengen, die komplizierte Geschichte der Geishas und Kurtisanen in den folgenden Jahrhunderten darzustellen. Ihre Hauptaufgabe besteht seither allein darin, ihre Kunden bzw. ihr Publikum durch ihre Kunst und ihren Witz zu begeistern.

Mühsame Lehrzeit

Es heißt, die Zahl der jungen Japanerinnen, die sich für den Beruf der Geisha interessieren, sei seit einiger Zeit rückläufig. Ungeachtet ihrer enormen kulturellen Bedeutung steht die Zukunft dieses hoch angesehenen Berufs in Frage. Um als eine vollwertige Geisha zu gelten, ist eine jahrelange, anstrengende Ausbildung nötig. Jede junge Frau, die eine Geisha werden möchte, muss zunächst eine etwa fünfjährige Ausbildung absolvieren, in der sie alle für die Rolle erforderlichen Fähigkeiten erwirbt, u. a. Gesang, Tanz, Musikbegleitung, Konversationskunst und die in einem gesellschaftlichen Umfeld geforderte Feinfühligkeit. Die angehende Geisha, als Maiko [wörtlich: als ein tanzendes Kind] muss sich zunächst bei einer okiya [Herberge] bewerben, die von einer als oka-san [Mutter] genannten matriarchalischen Figur – oft selbst eine Geisha im Ruhestand – geleitet wird, die den Neuling unter ihre Fittiche nimmt und in den vielfältigen Fertigkeiten unterrichtet, die für die Unterhaltung ihrer Gäste erforderlich sind. Dazu gehören die Feinheiten der richtigen Etikette. Die Maiko wohnt auch in der Okiya wohnen, mit der sie verbunden ist. Die Oka-san kümmert sich um alle Verpflichtungen ihrer Schülerin, übernimmt alle Kosten für ihre Unterkunft und ihren täglichen Bedarf und versorgt sie mit Kimonos und anderen Kleidungsstücken. Mit Ausnahme eines kleinen monatlichen Zuschusses gehen danach alle Einkünfte der Maiko direkt an den Besitzer der Okiya. Die Maiko kann erst dann ein eigenes Einkommen erzielen, wenn alle ihre Schulden bei der Okiya beglichen sind. Die Oka-san ihrerseits finanziert die Ausbildung der Maiko in den traditionellen Künsten.

Früher wurde das Honorar einer Geisha nach der Zeit berechnet, die ein Räucherstäbchen zum Brennen brauchte. Die Geishas gingen jedoch mit der Zeit und werden jetzt einfach nach Stunden bezahlt. Der Verdienst einer Geisha hängt von ihrer Beliebtheit ab ,und davon, wie oft sie in dem Ochaya [Teehaus], in dem sie auftritt, ihre Gäste unterhält. Gelegentlich treten sie auch auf der Bühne vor die breite Öffentlichkeit oder bei den saisonalen Festen in Kyoto auf. Sobald eine Geisha sich etabliert hat, darf sie aus dem Okiya ausziehen und allein zu leben. Geishas können bis ins hohe und höchste Alter auftreten und tun dies auch, solange sie regelmäßig trainieren.

Geiko und ihre Lehrlinge, Maiko genannt, bei einer zeremoniellen Kymono-Anprobe in Kyoto anlässlich der jährlichen “Miyako Odori”-Aufführungen

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Die Flamme entfachen

Die Yasaka Nyokoba Gakuen (Die Mädchenkunstschule von Gion), das Institut, in dem Inoue Yachiyo V. und ihre Tochter Inoue Yasuko Unterricht erteilen, wurde während der Meiji-Ära (1868-1912) im Kyotoer Stadtteil Gion gegründet. Die Schule wurde mehrfach umgestaltet und ist bis heute ununterbrochen in Betrieb. Sie bildet nicht nur angehende Maiko aus, sondern ermöglicht es auch den Geiko, ihre Studien der traditionellen Künste zu vertiefen. Nachdem sie ihre Fähigkeiten verfeinert und den anspruchsvollen Prozess des Erwerbs einer Reihe von darstellerischen Fähigkeiten durchlaufen haben, die aus dem großen Fundus der japanischen szenischen Künste stammen, wird die Maiko zur Geiko. Gegenwärtig gibt es im Gion-Viertel etwa achtzig Maiko und, so schätzt man, 180 Geiko, professionelle Geishas, die ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben und in einem breiten Spektrum der traditionellen Künste auch in der hohen Kunst der Kommunikation mit ihren Gästen ausgebildet werden.

Maiko im Straßenbild von Kyoto

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Neben dem Unterricht im Inoue-Ryu Kyomai  werden die Maiko in verschiedene Genres der traditionellen japanischen Musik wie Nagauta und Jiuta eingeführt. Neben verschiedenen Tanztechniken lernen sie auch Chado (die Teezeremonie) und Ikebana (Blumenschmuck). Wer sich für bildenden Künste interessiert, studiert traditionelle japanische Malerei und Shodo (Kalligrafie).

Shamisen-Spielerin

Osaze Cuomo

Proberaum der Stiftung zur Bewahrung des Katayama Noh und Kyomai

John Barrett

Unterhaltungen

Mit Inoue Yachiyo V. und ihrer Tochter Inoue Yasuko konnte ich an einem späten Nachmittag Mitte Februar 2023 im Proberaum der “Stiftung zur Bewahrung des Katayama Noh und Kyomai” in Kyotos Stadtteil Gion Kobu ein langes Interview führen, das ich im Folgenden in Auszügen wiedergebe. Da ich zu früh ankam, suchte ich bis zur verabredeten Stunde Schutz im Innenhof hinter dem hölzernen Eingang, der sich in einer ruhigen Wohnstraße im traditionellen Geisha-Viertel der Stadt befindet. Ich genoss das Rumpeln des fernen Verkehrs und konnte beobachten, wie sich die einsetzende Dunkelheit über den Ausschnitt des Himmels schlich, der von niedrigen, gewellten Dächern gerahmt wurde.

Kyomai-Plakate vor dem Tanzstudio

John Barrett

Es war ein langer Reisetag gewesen, mit mehrfachen Umstiegen und immer neue Blicke auf Landschaften, die man aus dem fest verkapselten Inneren eines Hochgeschwindigkeitszugs aus Hiroshima sah.

Hinter den hölzernen Schiebetüren war nun das Treiben zu hören, das immer nach einer Probe entsteht: lebhafte Stimmen, Schritte, die die getäfelten Gänge auf und ab liefen, Möbel, die hin- und hergeschoben wurden.

Zur verabredeten Zeit erschien Inoue Yasuko, um mich zu begrüßen und ins Haus zu winken. Nachdem ich meine Schuhe am Genkan, dem erhöhten Eingang des Holzgebäudes, ausgezogen und in den Geta-bako (wörtlich: Holzschuhkasten) gelegt hatte, führte sie mich in ein geräumiges Tatami-Zimmer, das an einen Proberaum angrenzte. Ich warf einen Blick hinein. Die Zypressendielen waren dank jahrzehntelanger Tanznutzung glatt poliert. Die Patina bestand aus Schweiß und Tränen, die das harte Training über Generationen begleitet hat. Während ich mich orientierte und das Aufnahmegerät auf einem kurzbeinigen Tisch stellte, unter den stählernen Blicken schwarz-weißen Fotoporträts, deren Identität ich erst im Lauf der nächsten neunzig Minuten erfahren sollte, öffnete sich eine Fusama-Schiebetür, und eine in Kimono gekleidete Person trat ein.

Die korrekte Sitzposition

Dach Chan

Lächelnd begrüßte mich die ehrwürdige Inoue Yachiyo V. mit einer tiefen Verbeugung. Nach einem freundlichen Austausch von Höflichkeiten bestanden Mutter und Tochter darauf, dass ich mich in den Rattansessel setze, den sie eigens für meinen Komfort aufgestellt hatten. Das hätte mich in die heikle Lage gebracht, oberhalb der Augenhöhe meiner Gastgeberinnen zu sitzen. Was folgte, war ein mikrokulturelles Kräftemessen in Sachen Anstand. Schließlich überredete ich sie – unter dem gesichtswahrenden Vorwand, in der Nähe des Mikrofons sitzen zu müssen –, dass ich mich zu ihnen an den niedrigen Tisch auf der Tatami-Matte setzen würde. Sie saßen in der Seiza-Position, in einer sehr aufrechten, korrekten Haltung: die Beine ordentlich gefaltet, die Wirbelsäule kerzengerade, beide Füße parallel unter den Körper geklemmt. Ich riskierte dieses gewisse Maß an Qual. Unter den gegebenen Umständen war das bisschen Schmerz angenehmer als Scham. Nachdem eine ältere Dame uns diskret den Tee serviert hatte, eröffnete Inoue Yachiyo V das Gespräch mit einer entwaffnenden Kombination aus Charme und Offenheit, so dass unsere Konversation mühelos ihren Lauf nehmen konnte und ich die Fragen, die ich im Voraus vorbereitet hatte, über Bord werfen durfte.

Im Gespräch mit Inoue Yachiyo V und Inoue Yasuko.

Wie viele Jahre Unterricht braucht eine Maiko, um ihre Ausbildung abzuschließen und eine Geiko zu werden?

Yachiyo V: Im Prinzip rechnen wir mit fünf oder sechs Jahren. Aber es geht gar nicht so sehr um den Zeitraum, über den eine Maiko unterrichtet wird, sondern darum, dass sie zu einer Frau heranreift und zu einer vollwertigen Erwachsenen wird.

Erfolgt der Unterricht individuell oder lernen die Schüler in einer Gruppe?

Yachiyo V: Wenn die Schülerin ein bestimmtes Stück als Solo vortragen soll, erhält sie Einzelunterricht. Ansonsten werden die Schülerinnen je nach ihrem Leistungsstand selbstverständlich in Gruppen eingeteilt. Wir folgen dem Gebot des Lernens mit den Augen: Die Schülerinnen erlernen den Tanz durch Nachahmung. Während des Unterrichts schaue ich den Schülerinnen direkt in die Augen, sobald ich eine bestimmte Geste oder Bewegungsfolge unterrichte. Wenn ich z. B. diese Hand bewege, machen die Schülerinnen meine Bewegung nach, als ob sie sich selbst in einem Spiegel betrachten. (Yachiyo V. hebt langsam ihre linke Hand. Als sie den Nacken erreicht, beginnen die Finger sich so zu entfalten, wie eine Blume auf das morgendliche Sonnenlicht reagiert, ihre Finger strecken sich und ihr Kopf neigt sich leicht). Das Eins-zu-eins-System ist natürlich effektiv, aber es ist nicht immer die praktikabelste Option. Manchmal ist es besser, in einer Gruppe so zu arbeiten, dass sich die Schülerinnen gegenseitig helfen. Ein solcher Ansatz hat den zusätzlichen Vorteil, dass er ein Element der Rivalität enthält. Die Einführung eines solchen Wettbewerbsaspekts kann für das Vorankommen der Schülerinnen von Vorteil sein.

Welche Karrieremöglichkeiten stehen einer Maiko nach ihrer Qualifikation als Geiko offen?

Yachiyo V: Eine Geiko zu werden bedeutet nicht nur, zu tanzen oder auf der Bühne vor einem Publikum aufzutreten. Eine wichtige Facette ihres Berufs sind ihre Auftritte bei Banketten oder anderen gesellschaftlichen Anlässen. Hier übernimmt sie die gesellschaftliche Funktion der vollendeten Erzählerin. Angenommen, die Stimmung bei einer solchen Veranstaltung ist etwas gedämpft, dann kann die Geiko die Stimmung auflockern, indem sie Sake serviert, Gespräche führt und die Gäste mit ihrem Witz und ihrer Schlagfertigkeit erfreut. Ich persönlich bin jedoch in keiner Weise mit der geschäftlichen Seite der Dinge befasst.

Welche Eigenschaften erwarten Sie von einer Maiko?

Yachiyo V: Zuallererst muss sie sich gewissenhaft engagieren und eine gesunde Einstellung zum Lernen haben. Wenn es ihr an Selbstdisziplin und dem Wunsch, sich zu verbessern, mangelt oder sie nicht bereit ist, in die Verbesserung ihrer Technik und Fähigkeiten zu investieren, wird sie keine Fortschritte machen. Denn wenn die Schülerin selbst das, was sie lernt, nicht zu schätzen weiß, können wir nicht viel tun, um ihr zu helfen.

Haben Sie einen Instinkt dafür, welche Maiko eine gute Tänzerin werden wird?

Yachiyo V: Ja, bis zu einem gewissen Grad. Ihre körperlichen Eigenschaften werden immer mit ins Spiel kommen. Wenn man zum Beispiel beobachtet, wie eine Schülerin mit einem Musikinstrument, das sie begleitet, umgeht, kann man sofort erkennen, ob sie in dieser Hinsicht begabt ist. Und auch beim Tanzen ist ein gewisses Maß an Geschicklichkeit gefragt. Ob eine Maiko wirklich für den Tanz geeignet ist oder nicht, hängt letztlich von ihrer körperlichen Verfassung und ihrem Maß an eigener Disziplin ab. Deshalb möchte ich, dass diejenigen, die eine Maiko werden wollen und zu diesem Zweck nach Gion kommen, ein gewisses Maß an Geschicklichkeit auch dann erwerben, wenn sie ihre Ausbildung nicht abschließen können. Ich muss aber zugeben, dass ich manchmal Maikos begegnet bin, von denen ich anfangs dachte, dass sie das Zeug zu einer guten Tänzerin hätten, und überraschend erfolglos waren. Vielleicht konnte sie sich nicht mit dem Leben hier im Gion-Viertel arrangieren, oder es hinderten sie andere Dinge, die nicht direkt mit dem Tanz zu tun hatten. Auch wenn eine Maiko ihr Bestes gibt, muss sie doch lernen, eine gewisse Hierarchie  zu ertragen. Ein Lehrling, der von einem Tag zum anderen zur Maiko wird, erlangt den höheren Rang einer Onee-san (wörtlich: eine ältere Schwester). Manche mögen dies als ein vertikal strukturiertes, auf dem Rang basierendes System betrachten, aber ich halte es dennoch für besser, dass mehrere Maiko statt einer in der Okiya (Herberge), der sie angehören, zusammenleben. Einige angehende Geiko haben Schwierigkeiten, sich an die Zwänge dieser gemeinschaftlichen Lebensform anzupassen. Es gibt diejenigen, die, auch wenn sie sich ihrer tänzerischen Fähigkeiten nicht sicher sind, von Tag zu Tag besser werden. Und es gibt andere, die, obwohl sie denken, dass sie stetig Fortschritte machen, ihren Tiefpunkt erreichen, sobald sie mit den Vorbereitungen für ihren nächsten Auftritt beginnen. Ich kann nicht vorhersagen, was die Zukunft für jede einzelne Maiko bereithält. Eines ist aber sicher: Der Grad ihrer körperlichen Vorbereitung spielt eine wichtige Rolle dabei, wie sie sich entwickeln. Seltsamerweise erweisen sich diejenigen, die viel Zeit und Mühe investieren müssen, um ihre Fähigkeiten zu verfeinern, manchmal als die bessere Künstlerinnen als diejenigen, die schnell und ohne offensichtliche Schwierigkeiten lernen.

Haben Sie noch die Möglichkeit zu unterrichten?

Yachiyo V: Ja. Weil das Yasaka Nyokoba Gakuen nur sieben Tage im Monat Unterricht anbietet, muss ich nicht täglich unterrichten. Im Allgemeinen ist der Unterricht eine ziemliche Herausforderung vor allem, wenn man es mit einer Debütantin oder einem Kind zu tun hat, das noch nie zuvor Tabi (traditionelle Zungensocken) getragen hat. Außerdem ist es im Gegensatz zum Einzelunterricht für eine Schülerin körperlich eine ziemlich anstrengende Herausforderung. Wie beim Unterrichten von Neulingen muss ich auch beim Unterricht vor Kindern das Spannungsniveau etwas anheben, da sie sonst nicht aufmerksam sind.

Inoue Yasuko: Auch ich finde es ziemlich schwierig, Kinder zu unterrichten. Wenn ich ihnen heute einen traditionellen Tanz beibringen soll, bei dem es darum geht, Spiele und Zeitvertreibe vergangener Zeiten zu simulieren, muss ich ihnen erklären, wie man Spiele wie Hanetsuki spielt, damit sie lernen, wie man einen Federball schlägt. Weil einige von ihnen noch nie einen Hagoita (ein hölzernes Paddel, mit dem der Federball geschlagen wird) gesehen haben, muss ich sie von Grund auf unterrichten, und wir verlieren den Anschluss zum eigentlichen Tanz. Früher oder später verlieren sie das Interesse und beginnen sich zu langweilen. Es ist wirklich eine große Herausforderung, sie bei der Stange zu halten.

Ab wann fangen Kinder an, Tanzunterricht zu nehmen?

Inoue Yasuko, die Tochter von Ihoue Yashiyo V, zusammen mit ihrem Bühnenpartner Shigeyama Chuzaboro

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Inoue Yasuko: In Kyoto ist es üblich, dass die angehenden Schülerinnen am sechsten Tag des sechsten Monats im sechsten Jahr des Mondkalenders ihre Ausbildung beginnen. Es heißt, dass eine Anfängerin nur an einem solchen Datum die von ihr gewählte Kunstform oder das von ihr gewählte Studienfach wirklich vollenden wird. Erwachsene und nicht-professionelle Tänzerinnen können dagegen in jedem Alter mit dem Unterricht beginnen.

Yachiyo V: In meinem Fall bin ich nicht ganz dieser Tradition gefolgt, denn ich habe in einem noch früheren Alter angefangen. Ich halte es dennoch für besser zu warten, bis sich zumindest der Knochenbau des Kindes gefestigt hat und es sich körperlich zu entwickeln beginnt, also etwa im Alter von fünf Jahren oder so. Wenn man Kinder wirklich zum Tanzen motivieren und ihnen helfen will, sich von Grund auf zu entwickeln, muss man schon in jungen Jahren damit beginnen und sie ständig fördern und ermutigen. Diejenigen, die Maiko werden und ihre Kunst in Gion ausüben wollen, können sich erst dann am Yasaka Nyokoba Gakuen einschreiben, wenn sie ihre Schulpflicht erfüllt haben. Sie müssen mindestens fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein, bevor sie mit dem Unterricht an der Gakuen beginnen können. Ich habe gehört, dass bei Kindern, die mit dem Ballettunterricht beginnen, sich sogar nach dem Körperbau ihrer Mutter erkundigt wird. Nebenbei: im traditionellen japanischen Tanz gibt es keine solchen Anforderungen, auch wenn manche Leute bemerken, dass “die Note nicht in die Tonleiter passt”, sozusagen. Wenn es darum geht, die Grundlagen zu lehren, bin ich in letzter Zeit zu dem Schluss gekommen, dass es von größter Bedeutung ist, mit einer normalen Stehhaltung zu beginnen und die Schülerinnen dann lernen zu lassen, wie sie ihren Körper senken und eine Sitzposition einnehmen können. Früher habe ich mich darauf konzentriert, den Schülerinnen beizubringen, wie sie ihre Knie nach vorne bringen und andere grundlegende Tanzbewegungen ausführen, aber heute möchte ich ihnen zuallererst beibringen, wie sie sich richtig aufrecht halten. Wenn es mir gelungen ist, ihre Haltung zu korrigieren, werde ich ihnen zeigen, wie sie ihre Hüften senken und sitzen können. Da ich für Frauen unterrichte, möchte ich, dass sie ihre angeborene Weiblichkeit schätzen und ihre unverwechselbare weibliche Note kultivieren.

In Anbetracht der Veränderungen des Lebensstils in den letzten Jahrzehnten, die durch die Einführung amerikanischer Essgewohnheiten und westlicher Möbel in japanische Haushalte verursacht wurden, stellt sich die Frage, welche Herausforderungen sich daraus ergeben, wenn man versucht, die heutigen Anfängerinnen zu unterrichten, da sich ihre Körper von der Gewohnheit her betrachtet von dem der japanischen Mädchen früherer Generationen unterscheidet?

Yachiyo V: Viele Neulinge leiden unter einer schlechten Körperhaltung. Für uns ist es absolut wichtig, dass sie lernen, wie man richtig sitzt und sich verbeugt. Manche Schülerinnen können nicht einmal ihren Rücken während der Verbeugung gerade halten. (Hierzu führt Yasuko einen Zarei aus, die Verbeugung im Knien. Ohne den Rücken zu krümmen, dreht sie mühelos den Oberkörper in der Taille, senkt den Kopf in Richtung Boden, während sie gleichzeitig beide Hände sanft auf der Tatami-Matte nach vorn gleiten lässt und mit Daumen und Zeigefingern ein Dreieck bildet, während sich ihre Hände treffen und ihr Gesicht fast den Boden berührt).
Viele junge Menschen verbringen heute ihre Zeit damit, ständig über den Bildschirm ihres Smartphones zu streichen. Wir müssen sie immer wieder daran erinnern, darauf zu achten, dass sie ihren Nacken nicht verrenken. (Yachiyo reckt ihren Nacken nach vorne, was eine sichtbare Anspannung bewirkt). Diese schlechte Haltung haben sie sich durch jahrelanges Computerspielen während der Fahrt im Zug angeeignet. Die ständige Nutzung von Smartphones, der so genannte “Tech-Nacken”, hat sich sehr nachteilig auf ihre Körperhaltung ausgewirkt. Für einige Jugendliche ist es aufgrund ihrer Körpergröße sehr schwierig, richtig zu sitzen. Einige von ihnen sind sogar so groß und haben so lange Beine, dass man den Blick heben muss, um sie zu betrachten.

Inoue Yasuko: Manche Schülerinnen sind zunächst nicht in der Lage, unsere Sitzposition richtig einzunehmen. (Yasuko zeigt auf ihre Knöchel.) Stattdessen bewegen sie ihre Beine in den Knien auseinander und setzten ihr Gesäß auf den Boden. Ihre Knöchelbänder sind so unterentwickelt, dass sie nicht in der Lage sind, richtig auf ihren Waden zu sitzen. Bei manchen Kindern kann es bis zu einem Jahr dauern, bis sie richtig sitzen und sich verbeugen können, oder bis sie lernen, die Muskelspannung im Nackenbereich zu verringern, damit sie ihren Nacken flexibler bewegen können. Was wir den Schülerinnen ebenfalls von Anfang an beibringen, ist der Umgang mit dem Mai-ogi (dem Tanzfächer). Für uns ist der Fächer, ähnlich wie anderswo die Ballettschuhe ein unverzichtbares Hilfsmittel sind. Am allerersten Tag, an dem eine Maiko in die Gakuen aufgenommen wird, überreichen wir ihr einen Fächer und sagen ihr, dass er ihr ein Leben lang gehört. Sie lernen, wie man ihn geschickt handhabt, wie man ihn mit dem Daumen öffnet oder auf den Kopf stellt und wie man ihn mühelos faltet. So wie Ballettneulinge vor Beginn einer Unterrichtsstunde grundlegende Dehnübungen machen, lernen unsere Auszubildenden von Anfang an, wie man einen Fächer biegt und handhabt. Auch wenn es ihnen recht schwierig erscheint, machen wir sie gleich zu Beginn des Unterrichts damit vertraut.

Yachiyo V: Anhand der Körpersprache der Tänzerin soll das Publikum mit einem einzigen Blick erkennen können, wer sie sein soll oder welche Rolle sie darstellt. Wenn sie eine Geisha darstellt, ist es wichtig, dass sie in der Lage ist, die Eigenheiten der Geisha zu vermitteln. Als Requisite hat der Fächer mehrere Verwendungszwecke und erfüllt verschiedene Funktionen. Er ist das Requisit schlechthin, das das Publikum am besten zu schätzen weiß: Er kann schwankende Wellen oder ein im Wind wehendes Blatt symbolisieren. Ein Fächer kann sich zum Beispiel in eine Kiseru (traditionelle japanische Tabakpfeife) verwandeln. (Yachiyo V. streckt elegant ihren Arm aus, als ob sie einen imaginären Pfeifenstiel halten würde). Sie könnte damit sogar den Hammer des Daikokuten, der Gottheit des Reichtums und des Glücks, darstellen.

Yachiyo V auf der Bühne

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Ich persönlich halte gerne einen Fächer in der Hand und bewege ihn. Er kann dem Publikum meine Gefühle vermitteln oder eine bestimmte Stimmung ausdrücken. Er kann signalisieren, dass sich etwas anbahnt oder dazu beitragen, eine Atmosphäre zu verändern. Mehr als jedes andere Requisit neige ich dazu, mich mit dem Fächer auszudrücken.

Großmütter und Mütter

Wie war es für Sie, von Ihrer Großmutter Yachiyo IV unterrichtet zu werden?

Yachiyo V: Ursprünglich habe ich nur zum Spaß mit dem Tanzen angefangen. Als meine Großmutter begann, mir im Alter von drei bis zehn Jahren Unterricht zu geben, hat sie mich mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche verwöhnt. Aber als ich mit etwa zwölf Jahren in die Oberstufe der Grundschule kam, änderte sich der Tonfall deutlich und sie wurde richtig streng. Ich begann, mich vor ihr zu fürchten. Sie war die Lehrmeisterin, sobald es um Konzentration und Disziplin ging und wurde furchtbar wütend, wenn ich im Unterricht abschweifte. An diesem Punkt wurde mir klar, dass die Welt des Tanzes eine harte sein würde. Aber war sie mit den anderen Schülerinnen genauso streng wie mit mir? Und sie war nicht nur zu allen anderen streng, sondern auch zu sich selbst. Immer wenn ich mich daran erinnere, wie streng sie mit sich selbst war, habe ich das Gefühl, dass ich in dieser Hinsicht zu kurz komme. Da ich eine Frau bin, muss ich auf meine Gefühle aufpassen. Erst gestern wies mich mein jüngerer Bruder darauf hin, dass ich auf der Hut sein muss und mich nicht so sehr von meinen Gefühlen leiten lassen darf, wenn ich übe. In diesem Sinne kann man gar nicht unterrichten, wenn man nicht auch ein gewisses Maß an Gelassenheit an den Tag legt. (Yachiyo V. lacht). Dennoch, ja, es ist ein gewisses Maß an Strenge erforderlich. Im Gegensatz zu dem aktuellen Trend im japanischen Bildungswesen, Kinder im Unterricht zu loben, war das Bildungssystem damals drakonisch. Heutzutage würde man ein solches Vorgehen als Schikane empfinden.

Tanzperformance in einem traditionellen Teehaus

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Ihre Tochter Yasuko ist zufällig auch eine Künstlerin. Wie unterscheidet sich Ihre Beziehung zu ihr von der zu Yachiyo IV?

Yachiyo V: Da gibt es keinen Vergleich. Auch wenn meine Großmutter eine Person war, für die unser Familienleben sehr wichtig war, gab es einen großen Generationsunterschied. Auf beruflicher Ebene war unsere Beziehung so, dass sie aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens verehrt werden musste. Im Privatleben war sie eine nette alte Dame. Meine Tochter und ich sind nur eine Generation auseinander und unser Leben ist viel enger miteinander verbunden, sogar ein bisschen zu eng, fürchte ich. Aber sie wird selbst entscheiden müssen, welchen Weg sie einschlagen wird.

Inoue Yasuko: Mein Verhältnis zu meiner Mutter unterscheidet sich völlig von anderer Eltern, deren Kinder Tänzer sind. Ob es nun um mein Privatleben oder meinen Tanz geht, sie ist ständig an mir dran. (Yasuko lacht) Und wenn es um meine Auftritte geht, verwandelt sie sich in eine richtige Bühnenmutti.

Glauben Sie, dass einige Repertoirestücke eine gewisse Reife erfordern, um aufgeführt zu werden?

Yachiyo V: Es wird oft gesagt, dass man ein bestimmtes Alter erreichen muss, bevor man überhaupt versuchen sollte, bestimmte Noh-Stücke aufzuführen, und auch dies erst nach langen Jahren der Übung. Zum Beispiel braucht es eine gewisse Lebenserfahrung, um das Repertoirestück „Ono no Komachi“ aufzuführen, in dem die Dichterin Komachi aus der Heian-Zeit als mittellose, alte Frau dargestellt wird. Damit sie nicht nur als oberflächliche Geste so erscheint, benötigt man ein bestimmtes Alter, irgendwann nach dem fünfzigsten Lebensjahr, in dem sich die natürliche Form des Alters einstellt. Wenn ein Stück verlangt, dass eine Frau ihre tiefe Sehnsucht zum Ausdruck bringt, ist es wahrscheinlich besser, wenn man es in jüngeren Jahren und in einer geradlinigen Form vorträgt, um dieses Gefühl von “Wie ich mich nach dir sehne” tatsächlich vermitteln zu können. Wenn man älter wird, denke ich, wird man dieses Gefühl der Sehnsucht etwas anders ausdrücker,  nuancierter. Und es ihr vielleicht glauben. Denn in der japanischen Gesellschaft wurden ältere Menschen früher geschätzt und respektiert, aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob man das heute auch noch sagen kann.

Inoue Yasuko: Glücklicherweise haben wir im Laufe unserer Karriere immer wieder die Gelegenheit, Repertoirestücke aufzuführen. Wenn wir ein Stück zum ersten Mal tanzen, sind wir so sehr damit beschäftigt, seine Ausführung überhaupt zu meistern. Aber wenn wir allmählich älter werden, können wir unsere eigenen Lebenserfahrungen und Gefühle stärker in das Stück einbringen. Es kommt aber auch vor, dass ich zu viel über das Stück nachdenke und am Ende völlig verwirrt bin. (Yasuko lacht).

In den Archivaufnahmen, die ich gesehen habe, tanzt Yachiyo III mit 96 Jahren „Mushi no Ne“
und Yachiyo IV im Alter war im selben Stück 87 Jahren alt. Ich war von ihrer Vitalität tief beeindruckt. Was ist das Geheimnis dieser bemerkenswerten Langlebigkeit? Gibt es vielleicht einen genetischen Faktor für ihr Durchhaltevermögen?

Yachiyo V: Yachiyo III und Yachiyo IV waren nicht blutsverwandt. Es gibt also keine genetische Komponente, die ihre lebenslange Hingabe an Kyomai erklären könnte. Nach allem, was man hört, und nach den Archivbildern, die ich gesehen habe, war Yachiyo III eine robuste Figur, deren Auftritte auf der Bühne oft mit denen eines Yokozuna (ranghöchsten Sumo-Ringers) verglichen wurden, wenn dieser den Ring betritt. Im Gegensatz dazu war die Yachiyo IV, die ich als meine Mentorin sehr gut kannte, als Frau zarter und hübscher. Und doch dämmerte mir allmählich, wie eine Frau oder ein Mann, wenn sie in ihre Neunzigerjahre kommen, nicht mehr die Eigenschaften aufweisen, die man mit einem Mann oder einer Frau in Verbindung bringt, sondern eher geschlechtslos werden. In ihren letzten Lebensjahren hatte ich das Gefühl, dass meine Großmutter endlich befreit von diesen Rollen war, dass sie nicht mehr an irgendwelche Zwänge gebunden war.

Maiko im historischen Gion-Viertel in Kyoto

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Der Ausblick

Welche Maßnahmen können Sie ergreifen, um das Überleben der Kyomai-Tradition in dieser sich schnell verändernden Welt zu sichern?

Yachiyo V: Konkret würde ich mir wünschen, dass die Kinder bereits in der Schule mit dem traditionellen japanischen Tanz in Berührung kommen, sei es in der Grundschule oder in der Sekundarstufe. So wie die Dinge stehen, muss es unsere Priorität sein, Kinder für den traditionellen Tanz des Kyomai zu begeistern und sie aus erster Hand damit vertraut zu machen. Wir müssen sie auf den Geschmack bringen und den Tanz selbst erleben lassen. Wenn sie das tun, wird sich der Tanz unbewusst in ihrem Gedächtnis verankern. Dann haben sie einen Bezugsrahmen und können ihn später wieder abrufen. Positiv ist, dass traditionelle japanische Tänze heute in Schulen aufgeführt werden. Es ist ein zweigleisiger Ansatz erforderlich: weiterhin landesweit auf Tournee zu gehen und solche Vorführungen zu geben und die Kinder den Tanz auch selbst erleben zu lassen.
Es gibt etwas, das wir als den Geist des japanischen Volkes bezeichnen, einen tröstlichen Geist, in dem wir das Leben aller anderen Lebewesen wertschätzen. Irgendwie sind wir in der Lage, genauso dieses Gefühl der Einheit durch unseren Tanz auszudrücken. Kyomai ist nicht etwas, das sich willkürlich verändert, sondern von einer universellen Qualität durchdrungen ist. Angesichts dieser universellen Qualität glaube ich, dass sie auch dem Publikum in anderen Ländern vermittelt werden kann. Auch  wenn ich älter werde, möchte ich weiter kreieren und auftreten, aber ich bin mir nicht sicher, ob die jüngere Generation das, was wir tun, leicht versteht. In Repertoirestücken werden oft Persönlichkeiten dargestellt, für die es keinen Bezugsrahmen gibt. Es gibt es zum Beispiel den Beruf des Straßenhändlers nicht mehr, so dass sie sich vielleicht nicht mit einem solchen Tanz identifizieren können.

Wie sieht die Zukunft des traditionellen japanischen Tanzes aus?

Inoue Yasuko: Ich spüre ein schreckliches Gefühl der drohenden Gefahr, aber ich bin mir nicht sicher, wie wir unsere Tradition am besten weitergeben können. Was den Kyomai betrifft, so nimmt die Zahl der Praktizierenden definitiv ab. Ich frage mich ständig, ob und wie wir mehr Möglichkeiten schaffen können, um unsere Arbeit einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Sollten wir mehr Workshops für Kinder veranstalten, um sie für den Tanz zu begeistern, und sei es nur zum Einstieg? Und was die Erwachsenen betrifft, so habe ich bei meiner Lehrtätigkeit an den Universitäten beobachtet, dass sich die Studentinnen oft damit begnügen, ein Jahr lang traditionellen Tanz zu studieren, um diese Erfahrungen zu sammeln und es dann sein lassen. Die Frage, die ich mir stelle, ist, wie wir ihr Interesse aufrechterhalten und sie dazu bringen können, ihr Studium des traditionellen japanischen Tanzes fortzusetzen.

Yachiyo V: Wir stecken in einem Engpass fest. Ich frage mich, ob die breite Öffentlichkeit die Nüchternheit unserer Arbeit wirklich zu schätzen weiß, denn das, was wir tun, besitzt nicht die Attraktivität, die einige andere Tanzschulen vorleben. Ich möchte wirklich, dass das Publikum Kyomai am eigenen Leib erlebt. Die Leute haben vielleicht Kabuki gesehen und denken, dass der traditionelle japanische Tanz irgendwie damit verbunden ist. Die Tatsache, dass sie noch nie die Gelegenheit hatten, Kyomai zu sehen, macht einen großen Unterschied. Auch wenn der Inoue-Ryu des Kyomai im Großen und Ganzen eine eher unbedeutende Tanzform ist, fühle ich mich dennoch verpflichtet, unsere Tradition an künftige Generationen weiterzugeben. Ich bin darauf vorbereitet, meine Kräfte  zu verdoppeln, mit aller Entschlossenheit.

Das Nationaltheater in Tokio

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Irgendwie sind Sonntage überall Sonntage

Ich hatte Lust danach, mir die Beine zu vertreten. Zurück in Tokio beschloss ich, an der belebten Shimbashi-Station aus der Yamanoto-Ringlinie auszusteigen und zum Kokuritsu Gekijo zu laufen, dem etwa drei Kilometer entfernten Nationaltheater Japans. Dieser Sonntagnachmittagsspaziergang hin zu dieser Bastion der traditionellen darstellenden Künste führt durch das verschlafene Regierungsviertel, vorbei am Kaiserpalast, der durch eine Reihe von Wassergräben sicher vom Trubel der Hauptstadt getrennt sein scheint und in regelmäßigen Abständen von sonderbaren, schlagstockschwingenden Polizisten bewacht wird.

Der Kaiserpalast

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Trotz des anhaltenden Nieselregens drängen sich Wochenendjogger jeden Alters und jeder Kondition sowie dreiköpfige Familien auf der Suche nach ihrer gemeinsamen Familienzeit auf den Fußwegen, die diesen historischen Graben flankieren. Erst als der Oberste Gerichtshof Japans in Sichtweite kommt, sehen die Straßen endlich  aus wie an einem Sonntag; menschenleer, abgesehen von gelegentlich vorbeifahrenden Taxis und dem Krächzen von Krähen, die diese Stille zerreißen. Der trübe, graue Nachmittag erhellt sich auf einmal dank einer langen Reihen rot leuchtender Laternen, die am düsteren Himmel schweben, und ich erblicke die einladende Anziehungskraft der bunten Kimonos, die sich am Eingang des Theaterkomplexes versammelt haben.

Nach einer dreijährigen pandemiebedingten Unterbrechung steht die 64. jährliche Galavorstellung der Nihon Buyo Kyokai (der japanischen Vereinigung für klassischen Tanz) zum ersten Mal wieder auf dem Kulturprogramm der Stadt. Dem 1955 gegründeten Nihon Buyo Kyokai gehören derzeit rund 3700 Tänzer:innen an, die in 107 Schulen und 26 Zweigstellen in ganz Japan aktiv sind. Die zweitägige Aufführungsserie mit dem Titel “Moments  to Move the Heart” (Momente, die das Herz berühren) stand für die spürbare Erleichterung, alte Freunde und Bekannte endlich und lang erseht wiedersehen zu dürfen – in  allgemein festlicher Atmosphäre.

Der klassische Tanz Onnagata – der Mann in einer Frauenrolle

Der weitläufige Theaterkomplex, der seit seiner Gründung im Jahr 1966 den traditionellen darstellenden Künsten gewidmet ist, beherbergt zwei Säle, von denen der größere Kabuki und Nihon Buyo (dem Sammelbegriff für traditionelle japanische Tänze) beherbergt, während der kleinere für Bunraku (Puppentheater), Gagaku (kaiserliche Hofmusik) und eine Reihe von Volkstheateraufführungen genutzt wird. Das Marathonprogramm an diesem Nachmittag umfasst sieben Darbietungen, die von Klassikern des Repertoires bis hin zu zeitgenössischen Meisterwerken reichen und mit einer hochkarätigen Besetzung aufwarten, um die Anziehungskraft des Nihon Buyo zu verdeutlichen von jungen Varietékünstlern bis hin zu den Meisterinnen und Meistern der verschiedenen Schulen. Das Publikum: überwiegend weiblich, von gewissem Alter und sozialem Status, die meisten in traditionelle Kimonos gekleidet, einige mit bunten Furoshiki, einem Tuch, das Geschenke enthält, oder der üblichen Bento-Lunchbox für die halbstündige Pause.

Inoue Yachiyo V tanzt “Zangetsu” im Tokioter Nationaltheater, 12. Februar 2023

The NIHONBUYO Association

Als man zuvor Inoue Yachiyo V. nach ihrer bevorstehenden Präsentation für diese jährliche Galavorstellung gefragt hat, beschrieb sie diese als ein “einfaches Jiutamai-Stück”, das sie vor etwa zehn Jahren uraufgeführt und seitdem nicht mehr gezeigt worden ist. Unter „Jiuta“ versteht man eine Form des raffinierten Tanzes, die auf engem Raum, manchmal nur auf einer einzigen Tatami-Matte aufgeführt wird, meist mit spärlicher musikalischer Begleitung und wenigen oder gar keinen Requisiten, abgesehen vom unverzichtbaren Mai-ogi (dem Tanzfächer). Zangetsu – das Musikstück, das Yachiyo V. für ihre Choreografie ausgewählt hatte – wird häufig eher bei Gedenkfeiern aufgeführt und ist im Wesentlichen ein Klagelied, das von dem angeblich blinden Musiker Minezaki Koto komponiert wurde, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts in der Region Osaka tätig war. Komponiert wurde es für eine Zeremonie, die am ersten Jahrestag des Todes einer seiner Lieblingsschülerinnen, einer jungen Frau aus aristokratischem Hause, aufgeführt werden sollte. Es gilt als eines der beredtsten Stücke des klassischen japanischen Repertoires und wurde ursprünglich für ein Trio-Ensemble von Musikern komponiert. Es kombiniert die auffallend kontrastierenden Klangfarben der Shakuhachi (Bambusflöte), der Koto (dreizehnsaitigen Zither) und der Sangen – der dreisaitige gezupfte Langhalslaute Shamisen, die zur Begleitung einer als Nagauta bekannten Ballade verwendet wird. Der klagende Text, der abwechselnd von den Streichern gesungen wird, spiegelt eine wehmütige Atmosphäre des Mondes in der Morgendämmerung am Meer, wobei die Erinnerungen an das verstorbene Mädchen wellenförmig aufsteigen, während die Zeit weiter ihren unaufhaltsamen Lauf nimmt und ein Gefühl von unbändiger Sehnsucht und Einsamkeit auslöst. Zwei klanglich unterschiedliche Saiteninstrumente, die Koto mit ihrem vibrierenden, harfenartigen Klang und das metallische Klirren der Sangen, spielen majestätisch gegeneinander an, als ob der durchdringende Herzschmerz des einen den bitteren Kummer des anderen widerspiegeln würde.

Auch wenn sie anfangs das Gefühl hatte, dass Minezakis „Zangetsu“ vielleicht besser zum Hören als zum Tanzen geeignet war, machte sich Yachiyo Inoue V daran, auf dieses Instrumentalstück zu choreografieren und es etwas zu kürzen, um es ihrem Tanz anpassen zu können. In ihrer Jugend hatte sie den Bericht des berühmten Autors Tanizaki Junichro über dieses Klagelied gelesen und war sofort beim ersten Hören von seiner eindringlichen Schönheit beeindruckt. „Zangetsu“ wurde noch nie als ein Tanz in  Begleitung eines Musikertrios aufgeführt. Inoue Yachiyo V. brachte einen tiefsinnigen Moment in einen ansonsten spektakulären Gala-Abend voller lebendiger und humorvoller Tänze und untermauerte mit ihrer Darbietung ihren Status als ein zeitgenössischer Schatz der Nation.

“Mushi no Ne” 2019, National Theatre

Japan Arts Council

Wenn das Licht knapp ist, dann ist das Licht knapp; wir werden in die Dunkelheit eintauchen und dort ihre eigene besondere Schönheit entdecken.

Tanizaki Junichiro, Lob des Schattens

Eine ehrfürchtige Stille zieht das Publikum in ihren Bann, sobald der Gobelin-Vorhang mit den typischen japanischen Jahreszeiten-Symbolen beiseite gezogen wird und die große Leere zum Vorschein kommt, in der links auf der Bühne ein Trio von Musikern sitzt, während rechts auf der Bühne eine einsame Tänzerin im Kimono in gedämpften Spätherbsttönen steht, kaum wahrnehmbar im Schatten. Vor einem Hintergrund aus Schiebetüren wird die Bühne nur von einem einzigen Paar Kerzen beleuchtet, die wie zwei weit entfernte Sterne in die Tiefe des Nachthimmels zu flackern scheinen. Der sich entfaltende Raum weitet sich wie ins Unendliche aus und setzte allein auf unsere Vorstellungskraft.

Wie jeder Anfang birgt auch diese Aufführung ein Versprechen, das über das Unmittelbare hinausgeht und gleichsam eine komplexere lebendige Realität andeutet. Je weniger auf der Bühne zu sehen ist, desto größer erscheint ihr Potenzial. Der Tanz von Yachiyo V  erwacht unmerklich zum Leben; ehe wir uns versehen, erscheint er lebendig und wie in Mondlicht getaucht. Mit jedem Schritt nach vorn verlöscht Yachiyos anfängliche Verlorenheit und lenkt uns allmählich von einer wie weit entfernt wirkenden Choreografie stimmungsvoller Wolkenlandschaften, die über die riesige leere Bühne zu ziehen scheinen, hin zu ihrer vollblütigen Präsenz, wie sie sich direkt vor unseren Augen aufbaut. Während dieser exquisiten Verbindung von Tanz und Gesang, die von Reibo Aoki auf der Shakuhachi, Tomiyama Kiyohito auf der Koto und Tomiyama Seikin auf dem Sangen so fein interpretiert wird, hören wir, wie ein Fluss in der Nacht sein ererbtes Lied summt und über seine melodischen Brücken eine trauernde Stille einwebt. Ich erlebe Wahrheit und Innovation, Vergangenheit und Gegenwart, zeitlose Gesten und uralten Gesang auf einmal.

Die Bewegungen von Yachiyo V lassen die Zeit verschwinden; diese steht still, während ihr Tanz über Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg durch eine Reihe von Frauenkörpern hallt und ihre menschliche Sehnsucht nach Liebe artikulieren. Die eindringliche Shakuhachi, die kristallklare Koto und die klirrenden Sangen fügen auf wundersame Weise Schicht um Schicht sich kontrastierender Tempi hinzu, über die die Stimmen der Sänger wallen.

“Zangetsu” 2009, National Theatre

Japan Arts Council

Als Performerin enthält Yachiyo Vs Körper weit mehr als nur das Sichtbare enthalten. Eine Art Alchemie verwandelt diesen intimen Moment in der Öffentlichkeit und verleiht der Stille eine Stimme und Ausdruck. Die völlige Konzentration von Yachiyo V. vereint sie mit ihrem Selbst zu einer metaphysischen Realität, für die alle Dinge identisch ist. Anstatt zu versuchen, Bedeutung zu vermitteln, strahlt sie einen Geist der Souveränität aus, der die Betrachtenden dazu bringt, sich an ihrer Suche nach Sinn, Trost und Vergnügen zu beteiligen. Die Langsamkeit ihrer Bewegungen mit diesem absoluten Minimum an Mimik ermöglicht es zugleich, eine notwendige ästhetische Distanz zu den persönlichen oder auch sozialen Aspekten unseres Lebens zu gewinnen, um an ihrer Darstellung von Leben, Liebe und Verlust teilhaben zu können.

Hier ist auch ein Titel nie nur ein Titel; Minezakis „Zangetsu“ bezieht sich auf Zangetsu Shinnyo, den posthumen verliehenen buddhistischen Namen des verstorbenen Mädchens. Von der ersten Phrase an, “Wenn der Mond in die Tiefen des weiten Meeres eintaucht”, werden wir verführt, werden wir Zeugen eines zitternden, hellen Himmels, der sich unterschwellig und mondgleich jin die Trauer ätzt. In einer unvergesslichen, geradezu transzendentalen Erfahrung strömt eine solche Anmut und Zärtlichkeit aus dem Körper von Yachiyo V., die sich allmählich von einem verlassenen Schatten, der sich von Glut ernährt, in ein kraftvolles, atmendes Wesen verwandelt, das selber glüht.
Wie die Lieder sind auch die Tänze in ihre Zeit und ihren Ort eingebettet und können ihren Spiritus Loci, ihren schöpferischen Ursprung, nicht verleugnen. Mit etwas Glück aber können sie beides überschreiten. So ist es auch mit Yachiyo Vs Interpretation dieses Klagelieds, dessen Darbietung einen aus dem plüschigen Komfort der Theatersitze tief ins Herz und noch weiter in die Gefilde der Erinnerung entführt. Yachiyo V verkörpert einen Grad an Integrität, der es ihr ermöglicht, das Streben nach psychischer Ganzheit tiefgründig darzustellen. Sie verkörpert einen Grad an Integrität, der es ihr ermöglicht, das Streben nach psychischer Ganzheit tiefgründig darzustellen. Der Stil ihrer Performance repräsentiert ein ultimative Stadium von Freiheit und Meisterschaft, in dem die Technik zur zweiten Natur geworden ist und überquillt von gelebter Erfahrung. Yachiyo V wird getragen von einer geradezu unheimlichen Sicherheit und sie besitzt die Fähigkeit, scheinbar spontan und doch völlig authentisch alten Themen einen ganz neuen Ausdruck zu verleihen.

Coda

Ich werde den Mond anblicken und mein Herz reinigen

Zeami Motokiyo Obasute

Tritt man wieder hinaus in die verregnete Sonntagnacht, ist der Aufprall der Gefühle, die vom Körper der Künstlerin auf das Publikum überging, noch immer spürbar.  Reichlich überwältigt von Dankbarkeit für das warme, pulsierende Herz und die mit Gesang gefüllten Kehlen mache ich mich auf den Weg zum nächsten Bahnhof und bin dankbar für diese phönixgleiche Atmosphäre, die ich erlebt habe, in der Zeitlosigkeit herrscht und all diejenigen, die vor uns gegangen sind, die an unserer Seite atmen, und die, die noch nicht geboren sind, miteinander verbunden scheinen.

Eine solche Darbietung von Inoue Yachiyo V eröffnet einem die Möglichkeit, die unveränderlichen Wahrheiten des Lebens mit dem Herzen zu verstehen. Es hat ein Zauber stattgefunden, der verändert und einem das Gefühl gibt, lebendiger zu sein als vorher. Obwohl es völlig sinnlos ist, all die schädlichen Veränderungen zu beklagen, denen unsere Welt ausgesetzt ist, schadet es nicht, in diesem Moment das wahre Ausmaß der noch bevorstehenden Verluste zu begreifen oder zu spüren. Es schadet kein bisschen.

Danksagung:

Wir von tanz.dance  möchten Inoue Yachiyo V. und ihrer Tochter Inoue Yasuko für ihre Großzügigkeit danken, dass sie uns erlaubt haben, einige ihrer Familienerbstücke zu verwenden, und dass sie so großzügig ihre Zeit geopfert haben. Wir möchten uns auch bei der Katayama Noh and Kyomai Preservation Foundation in Kyoto für ihre Zusammenarbeit bedanken.

Besonderer Dank geht an Jogo Ichiro von der Nihon Buyo Kyokai, der uns freundlicherweise die Verwendung eines Fotos von Inoue Yachiyo V. bei der Aufführung von Zangetsu gestattet hat.
Weitere Fotos aus der Nihon Buyo Kyokai-Fotogalerie können Sie durch Anklicken des folgenden Links ansehen.

https://nihonbuyou.or.jp/photogalleries?lang=en

Dank gebührt auch Tsuchiya Shizuko für ihre Hilfe bei der Transkription des Interviews mit Inoue Yachiyo V und Inoue Yasuko, Itoh Masaki und Murai Keitetsu für ihre Unterstützung bei der Recherche und Nakajima Nanako dafür, dass sie uns in die Welt des Kyomai eingeführt hat. Ein besonderer Dank geht an Hanasaki Tokijyo für ihre aufschlussreichen Einblicke in Jiutamai während eines Interviews mit ihr im Proberaum ihrer Schülerin Hanasaki Jiutamai in Hiroshima.

Ein Wort des Dankes auch an die Mitarbeiterin der Japan Foundation Library, die trotz der Covid-Beschränkungen bei meinen Recherchen sehr behilflich waren, sowie an die Mitarbeiterin des audiovisuellen Archivs des Kokuritsu Gekijyo, die Zugang zu den Archiven gewährte, um altes Filmmaterial von Yachiyo III und Yachiyo IV ansehen zu dürfen.

Über den Autor:

John Barrett hat in den 1980er Jahren in Japan gelebt, war als Dolmetscher bei den zweiwöchentlichen Workshops des Butoh-Tänzers Kazuo Ohno tätig und übersetzte einige der frühesten verfügbaren Texte über Butoh ins Englische, so “Shades of Darkness” (Shufunomoto, 1988). 2004 veröffentlichte Wesleyan University Press seine bahnbrechende englische Übersetzung von Kazuo Ohnos “World: From Within and Without”, die dessen philosophische Ideen einem weltweiten Publikum vorstellte. Später arbeitete er zusammen mit Mina und Toshio Mizohata im Ohno Dance Studio an englischen Übersetzungen seines Archivmaterials Er lebt in Irland und arbeitet weiterhin als freiberuflicher Übersetzer und Dolmetscher aus dem Japanischen, meist im musealen und audio-visuellen Bereich.