Ivo Dimchev

Ivo Dimchev
Ivo Dimchev als Lili Handel

Katko

Er ist Provokateur, Risikoträger, Heiler, Aktivist, Performer, und vergessen Sie bloß nicht, Bargeld mitzunehmen, wenn Sie Ivo Dimchev sehen wollen. Denn es geht um den Wert der Kunst.

Tanzjournalistin aus Sofia, Herausgeberin von dancemag.eu und dramaturgynew.eu

Ich erinnere mich noch lebhaft an den Abend im Spätherbst 2004, als in Sofia die Premiere von „Lili Handel“ stattfand, dem ersten Solo des Ausnahmekünstlers Ivo Dimchev. Sie war der Auftakt des gerade neu eröffneten Red House Centre for Culture and Debate, als es dieses Theater noch geben durfte, der wichtigste Veranstaltungsort für unabhängige Kunst und Kultur in Bulgariens Hauptstadt. Heute ist es geschlossen. Damals war Ivo Dimchev bekannt nur unter Insidern, die nach neuen Formen im Theater und Tanz suchten. Er machte mit seiner ungewöhnlichen, stets zum Exzess neigenden Präsenz gleich in mehreren wegweisenden Tanz- und Theateraufführungen zu Beginn dieses Jahrtausends auf sich aufmerksam.

Masaki Iwana

La Maison du Butoh Blanc

Eine Performance war „Sleeping Dog“ (2001), die er nach einem Workshop bei der Butoh-Ikone Masaki Iwana an der damaligen Sommerakademie für darstellende Kunst in der Nähe von Sofia kreiert hat.

Ivo Dimchev in “The Garden of the Singing Ficuses” (links) und “Sleeping Dog”

Archiv Ivo Dimchev

In seinem ersten eigenen Werk, dem Gruppenstück „The Garden of the Singing Ficuses“ (2002), bot Ivo erneut eine Interpretation des Butoh. In „Lili Handel (Blut, Poesie und Musik aus dem Boudoir der weißen Hure)“ zeigte sich dann sein ganzes Potenzial.

Viele Momente in diesen intensiven 50 Minuten seines Solos haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Das Lied „Mona Lisa“ zu Beginn begleitet den Auftritt der androgyn wirkenden Diva. Sie schreitet unsicher in kleinen Schritten auf hohen Absätzen herein, nur mit einem perlenverzierten String und einem Pelzmantel bekleidet. Der Körper ist weiß gepudert, das Gesicht stark geschminkt. Die Diva singt Nat King Cole mit opernhafter Stimme. Die Hände folgen der Stimme, als würden Körper und Klang zu einer Einheit verschmelzen. Aber sie sieht alt aus, als hätte ihr Körper sie  gerade verraten. Lili Handel strahlt Erotik und Anziehungskraft aus und zugleich tragisch die Spuren der Vergänglichkeit. „Lili Handel“ hat in ihrer Exzessivität und Extravaganz etwas so Dekadentes, dass es an Selbstparodie grenzt.

Ivo Dimchev in “Lili Handel”

Katko

Ivo Dimchev sitzt auf einem abgenutzten roten Sessel, der zu seinem „Boudoir der weißen Hure“ gehört, schüttelt seinen Oberkörper und eine Kakophonie von Stimmen scheint aus ihm herauszuplatzen; Stimmen, wie aus anderen Körpern, aus Theaterrollen, Köpfen, die er mitbewohnt. Im Lauf der Performance verlässt Dimchevs das Territorium des als so menschlich definierten Rationalen und entfesselt eine rohe, fast animalische Energie. Am Ende kündigt er eine Versteigerung seines live abgezapften Blutes an und verkauft das Glas an Meistbietende.

Für viele von uns war zu AIDS-Zeiten, 2004, bevor Ivo Dimchev zur Sensation wurde, „Lili Handel“ die erste Begegnung mit Live Art überhaupt. Wir wussten vielleicht nicht, was Live Art ist, aber mit Sicherheit wussten wir, dass wir Zeuge des Aufstiegs eines außergewöhnlichen Künstlers geworden waren.  Mit „Lili Handel“ schuf Ivo Dimchev einen Charakter, der ihn bis heute begleitet, eine Manifestation dessen, was er „den performativen Körper“ nennt: ein Wesen ohne eindeutiges Geschlecht, ohne feste Identität. Er befindet sich in einem ständigen Prozess der Verwandlung. Seine Person bringt „vor Augen, was lange, lange Zeit in deinem Hinterkopf gelebt hat“, wie es in einer seiner Performances heißt.

Das Stück zeigt ihn als perfekten Verführer, als Konsumobjekt, als Kunstwerk und die Bühne dient ihm als Ort der Verausgabung, wo Ruhm geerntet und man selbst geopfert wird. „Lila Handel“ war die Geburtsstunde der Kunst von Ivo Dimchev. Sie enthielt bereits alle wesentlichen Elemente, die er in seinen nächsten Kreationen energisch weiterentwickelte.

in “Lili Handel”

Ivo Dimchev

Der Körper als Musikinstrument, der performative Körper als zu bewunderndes Kunstwerk, der Körper der vielen Geschlechter, seine Fragen zum Wert der Kunst, das Kunstwerk als Ware, der Körper als Ware, die Partnerschaft mit dem Publikum … „All diese Ideen begannen mit ‘Lili Handel’, und entwickelten sich  weiter“, sagt Ivo in einem Interview, das ich zuletzt zwischen all seinen Flügen und Tourneen mit ihm führen konnte. Bis heute hat er mehr vierzig 40 Solo- und Gruppenstücke in ganz Europa und in den USA entwickelt und zahlreiche internationale Preise erhalten. Er ist schwer zu erreichen, sein Terminkalender randvoll. Ich traf ihn kurz vor seinem Auftritt beim Glastonbury Festival, dem größten Musikfestival der Welt, wo er Tage vor dem Auftritt von Marina Abramovic ein Konzert gab.

in “Begeraz Top40”

Ivo Dimchev

Sein Körpers scheint keine Grenzen zu kennen. Nicht innerhalb eines Genres. Er ist nicht Tänzer, Musiker, Schauspieler. Er ist alles zusammen, auch Philosoph, Kritiker, Aktivist. Es gibt für ihn keinen Zaun zwischen diesem und jenem. Seine Figuren sind hyper-theatralisch, beherrschen Bewegung, Gesang, Sprache und die bildende Kunst. Zwischen physical theatre, zeitgenössischer Choreografie, Performance und Installation schwimmt er seit Jahren und hat es sogar geschafft, sich erfolgreich in der Musikszene zu etablieren. „Ich interessiere mich für die Körperlichkeit der Musik und die Melodie meiner Muskeln“, so Ivo. Für ihn ist Singen eine Erweiterung seines Körpers.

in “Avoiding deLIFEath”

Ivo Dimchev

Sein Hang zur exzessiven Körperlichkeit trifft auf einen klugen Singer-Songwriter, der wie mühelos die Register aller Künste zieht und sich nicht scheut, Elitäres und Populäres, Kunst und Thrash miteinander zu verbinden. Im September 2018 war er zu Gast bei der britischen TV-Talent-Show „X-Factor“. Er präsentierte eine Choreografie und einen Song, der in diesem Kontext wie ein noch nie gesehenes Kunstwerk wirkte und die Jury dazu brachte, bei den Kriterien zur Beurteilung seiner Leistung und Interpretation heftig aufeinander loszugehen. Natürlich stand dahinter das Interesse, sich auf dem Musikmarkt zu profilieren, aber es entsprach auch seiner Mission, zeitgenössische Kunst etwas populärer zu machen.

Dass er dazu die komfortable Position der Szene verließ und sich als Ikone der Live Art im Fernsehen präsentiert hat, sich also mit den Gesetzen eines völlig anderen Marktes konfrontierte, war sicher riskant. Ivo Dimchev ging es mutig an – konzeptionell, gewagt, unverblümt – und provozierte die öffentliche Reaktion. Wie abgeschlossen ist die zeitgenössische Kunstszene? Welche Barrieren stehen zwischen ihr und dem breiten Publikum? Ist Unterhaltung in der Kunst ein Tabu?

in “Som Faves”

Was auch immer Ivo unternimmt, man darf getrost auf Provokation hoffen. Auch wenn es ihm wesentlich um diese Frage geht: Welcher Wert steckt in der Kunst? Sie stellte er schon in „Lili Handel“, dann in „Som Faves“ (2009), in dem er kniend ein billiges Gemälde über sich hochhält und eindringlich „Respect art!“ ruft. Er steigert sich in dieser Szene in eine hysterische, fast sarkastische Wut hinein. Er balanciert das Gemälde auf dem Kopf und schwankt gefährlich. Ständig ändert sich die Beziehung des Publikums zur Leinwand und er bringt es dazu, die Gründe zu hinterfragen, warum der Kunst überhaupt mit Respekt zu begegnen sei. Was hat Wert und was hat keinen? Was hilft es, in der Kunst einen Wert zu erkennen? Was gibt uns das Recht, solche Werte zu definieren …? „Also kaufte ich ein furchtbar billiges Gemälde auf einem Amsterdamer Markt und versuchte, die Möglichkeiten der Manipulation des Wertes, den der Betrachter dem Bild beimisst, zu verändern. (…) Der Wert der Dinge bzw. ihr Preis, nicht nur in der Kunst, sondern auch im echten Leben ist ein Riesenthema. Man kann den Wert nicht ignorieren“, sagte Ivo in einem früheren Interview, das ich mit ihm nach der Präsentation von “Som Faves” führen konnte.

“P Project” in Berlin

Ivo Dimchev

Eines seiner extremsten Experimente zum Verhältnis von Wert und Preis in der Kunst ist sein interaktives Performance „P Project“ (2012), bei der er das Publikum zu Performern erklärt und es mit einbezieht. Ivo Dimchev hat diese Konzept-Performance als soziales Experiment und Reality-Show organisiert. Auf der kahl-weißen Bühne befinden sich ein Keyboard, ein Stuhl und ein Tisch mit einem Laptop. Dimchev tritt auf – diesmal fast nackt, nur mit einem roten durchsichtigen Schal, dem perlenbesetzten G-String, einer schwarzen Perücke und dem hinter starkem Make-up verborgenen Gesicht. Er inszeniert sich als totale Künstlichkeit, als Körper-Fiktion, und behauptet dies als eine Realität zweiter Ordnung. Er lädt das Publikum ein, sich freiwillig zu beteiligen und an die dramaturgische Konstruktion der Aufführung mit Inhalt zu füllen. Es gibt eine Reihe von Aufgaben, die willige Zuschauer auf der Bühne erfüllen werden. Das Besondere: Das Publikum wird für die geleistete Arbeit endlich mal auch mal selbst bezahlt.

Die Aufgaben, die Dimchev als Autor, Moderator und Zeremonienmeister stellt, sind zuweilen recht grenzwertig. Mitspielende sollen ein Gedicht schreiben, das Dimchev kurzzeitig in ein improvisiertes Lied verwandelt, oder einen Tanz aufführen, den er auf dem Klavier begleitet, so. wie es ähnlich später in seiner Performance „Begeraz“ (2023) geschehen ist.

“Begeraz Top 40”

Ivo Dimchev

Ein Paar gleich welchen Geschlechts küsst sich auf der Bühne, simuliert Sex. Andere Freiwillige können einfach nur tun und lassen, was sie wollen. Am Ende müssen zwei von ihnen einen positiven und einen negativen Bericht über das Geschehene schreiben und vorlesen. Ivo Dimchev macht es seinen Gelegenheitsjobbern auf der Bühne nicht leicht. Er provoziert sie ständig, indem er abwechselnd wie ein strenger Besitzer oder jovialer Gastgeber der Bühne, als Diktator-Regisseur, als ermutigender Mitarbeiter oder als Kunstschöpfer auftritt.

“The P Project”

Ivo Dimchev

Das „Projekt“ bei „P Project“ besteht vor allem darin, den vorgefassten Erwartungen an und den Vorstellungen von Kunst eine Falle zu stellen. Er will Grenzen auszutesten, indem die Kategorien, mit denen Menschen über Kunst urteilen, in Widersprüche verwickelt werden, seien die zwischen Meisterschaft oder den Amateuren, der zwischen Theaterrolle und Authentizität, zwischen Kunstfertigkeit und Ungeschicklichkeit, zwischen Erfolg und Misserfolg, zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und Inakzeptanz. Er will damit zeigen, wie sehr genau diese Kategorien abhängen von monetären Faktoren, den Kosten, dem Kapital, das in die Kunst investiert wird, dem Honorar für eine Sängerin, den Tantiemen für Musiker, den Kosten für ein Bühnenbild. All das weiß das Publikum in der Regel nicht. Es kennt allenfalls den Preis der Eintrittskarte.

“The P Project”

Ivo Dimchev

In „P Project“ bezahlt Ivo Dimchev seine Freiwilligen und bestimmt mit der Höhe des Honorars auch den Grad des Risikos der Aufgabe. Das höchste „Honorar“ erhalten diejenigen, die sich an intime Szenen wagen – da sie die Grenzen des allgemein Akzeptierten berühren. Nur für die letzte Aufgabe, das Schreiben einer Rezension, fehlt jedes Geld. Die Kritiker müssen vom Publikum selbst bezahlt werden, ein kluger Schachzug. Denn Dimchev lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass das Verfassen von Kritiken eine öffentliche Tätigkeit ist und in Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit geschieht. Auch das gehört bezahlt – und zwar von der Allgemeinheit, die nur so auch eine informierte sein kann.

Apropos Kritik: Das Format „P Project“ wirft auch Fragen auf. Nach welchen Kriterien kann man den Erfolg einer Show ermessen? Nehmen wir bei Dimchev einfach mal an, dass traditionelle Maßstäbe, etwa ein gefühlter Grad an Virtuosität, Geschicklichkeit und Meisterschaft nicht funktionieren. Da Dimchev die Verantwortung zu einem Großteil an sein mitverdienendes Publikum abgibt, zählt eher das Maß an Interaktion, an eigenem Einsatz, der eher an Wetteinsätze erinnert. Als Ivo Dimchev in „Som Faves“ anhob, Kenny Rogers „The Gambler“ zu singen, klang das wie ein Kommentar: Mit jeder Aufführung steht immer ein realer Einsatz auf dem Spiel. Das soll das Publikum selber spüren.

„Allerdings ist das einzige“, so Ivo, „was ich mit einem Glücksspieler gemein habe: meine Risikobereitschaft. Ich liebe es, Risiken einzugehen, die Komfortzone für mich und meine Partner zu verlassen, egal ob es sich dabei um Publikum oder um Profis handelt. Man muss spielen, denn Spielen in der Kunst ruft ‘Fehler’ hervor. Fehler sind für mich Tore zur Freiheit und zum Kontrollverlust. Sie erlauben es dem Kunstwerk, sich vom Künstler zu lösen und sein eigenes Leben, seinen eigenen kreativen Prozess zu entwickeln.“ An anderer Stelle sagt er: „Einer der Gründe, warum ich ein guter Solokünstler bin, ist, dass ich das Publikum zum perfekten Partner mache. Ein Partner im Verbrechen. Das Verbrechen, Grenzen zu überschreiten.“

“I Cure”

Ivo Dimchev

In seiner späteren Performance „I Cure“ (2014) ging es in eine ganz andere Richtung. Dimchev nennt das Stück eine „heilende Performance“ und bezieht sich auf eine lange Tradition in der Performance-Kunst, wonach sie die Grenzen zum echten Leben verwischen soll, damit sich eine stark transformative Kraft entwickelt, um von Traumata zu heilen und ein Gefühl der Verbundenheit, Einheit und Ganzheit hervorzurufen.

Dimchev sieht „I Cure“ in dieser Tradition. Wie „P Project“ wird auch „I Cure“ als „interaktive Performance“ angekündigt, aber sie hebt das Publikum nicht aus den Sitzen, stellt es nicht mehr auf die Bühne, sondern löst lediglich den Rahmen auf, der die Bühne von den Zuschauenden trennt. Dimchev spricht wie immer sein Publikum sehr direkt an. Die Bühnensituation ist als „Heilsitzung“ deklariert.

Ivo Dimchev

Ivo erscheint, gekleidet als Diva mit langer blonder Perücke, grellem Make-up und knapper Kleidung, die an eine exzentrische Esoterikerin erinnert.

Ivo Dimchev

I cure card

In der Manier eines flamboyanten Moderators begrüßt er sein Publikum, das zur „heilsamsten Vorstellung des Jahres“ gekommen sei und stellt kokett die sogenannte „i-cure card“ vor, die auf einem großen Monitor aufleuchtet. In vier Kreisen soll das mit Stiften versorgte Publikum auf die ihnen mitgelieferte Karte jeweils den Namen eines Körperorgans, einer Lebenssituation, einer Person oder etwas anderem, das es heilen möchte, eintragen. Während der Vorstellung würde die Karte „Frequenzen“ aussenden, eine positive Energie mit echter „Heilungsabsicht“. Tatsächlich findet so vor allem ein Energieaustausch zwischen Darsteller und Publikum statt. Verantwortungsbewusst organisiert er diese Beziehung, intensiviert sie, konzentriert sie, kanalisiert sie und transformiert sie. Die i-cure-Karte ist nur das Werkzeug, um den direkten und persönlicheren Kontakt zwischen Publikum und Bühne zu ermöglichen.

Ivo Dimchev

Die i-cure-Karte sei eine „universelle spirituelle Technologie“, sagt er, und die Performance ermögliche es, „zu üben, positive Schwingungen aus der Welt um uns herum zu extrahieren“. Auf scheinbar naive Weise konfrontiert Dimchev das Banale mit Darstellungen von archetypischen Bildern und Inhalten.

Vor einem Foto eines idyllischen Strandes mit einer Palme auf dem Fernsehschirm nimmt er, Viola spielend und dabei singend, die Rolle eines meerjungfräulichen Fabelwesens ein, das behauptet, „seit Jahrhunderten hier zu sein, berufen, Liebe zu verbreiten“.

Zu einer Aufnahme eines rennenden Gepards macht der Darsteller eine Metamorphose zu einer Art Universalmutter durch, die ihre Kinder ernährt.

Ivo Dimchev

Er stellt diese Mutter durch einen Wasserfall dar, der Energie verbreitet. Er beschwört die heilende Kraft der sexuellen Energie, indem er auf der Bühne Sex simuliert.

Ivo Dimchev

Er spricht in verschiedenen Sprachen, während er sich massieren lässt, was wohltuend zu sein scheint. Er entwirft das Bild des sich selbst verschenkenden Künstlers als eine Art Überwesen, aber auch als verletzliche Person, die ihre Dilemmata und Widersprüche in sich trägt, um sie in „positive Schwingungen“ umzuwandeln. Wir, die Betrachter, werden regelmäßig daran erinnert, einen Finger auf die verschiedenen Punkte der „i-cure card“ in unserer Hand zu legen und an unsere Kräfte zu glauben …

„Glaubst du wirklich an die transformative Kraft der Performance?”, fragte ich Ivo. „Ja, ich glaube, dass eine gute Aufführung den Zuschauer inspirieren und sein unterdrücktes Potenzial auf persönlicher und beruflicher Ebene freisetzen kann. Ich habe das schon oft erlebt“.

Poster

Ivo Dimchev

Das probiert er nun auch in seinem neuesten Bühnenwerk „METCH“, das im Februar 2024 im La Mama in New York uraufgeführt wurde. Der Titel ist ein Akronym für Musik, Ausstellung, Text und Choreografie. Ivo Dimchev mischt die bisherigen künstlerischen Mittel und Strategien neu, fügt Elemente aus früheren Werken hinzu und singt Lieder: „Es gibt Ideen in meinen alten Werken, die ich unbedingt recyceln muss“, sagt er. „METCH“ darum darin sowohl sehr vertraut aber auch sehr frisch. Wieder geht es der schrägen Diva, dem Performer, Sänger, Maler, Moderator um die Beziehung zum Publikum.

Schon in „Facebook Theatre“ (2016) konnten die Menschen auf sozialen Medien Liedtexte  schreiben, die er spontan auf der Bühne sang.

in “Facebook Theatre”

Ivo Dimchev

In „The Selfie Concert“ (2018) durfte das Publikum mit ihm Selfies machen. Auch in „METCH“ spielt das Publikum die Rolle eines idealen Partners. Es liest im Chor die an die Wand projizierten Fragen, um seinem Publikum sarkastisch, klug und witzig seine eigenen künstlerischen Entscheidungen und Aktionen erklären zu können.

in “The Selfie Concert”

Emilia Milewska

Die Show ist um eine Ausstellung von Ivos Gemälden herum organisiert. Das Publikum stimmt darüber ab, welche Bilder versteigert werden sollen, während sie einige seiner „lyrischen“ Lieder hören, wie er sie nennt. Man bietet mit und kann die Gemälde wirklich kaufen. „Was ist das“, frage ich ihn: „Kunst oder Geschäft?“. Die Frage scheint ihn ein wenig zu beleidigen. „Ich mache nur Kunst. Aber ich liebe es, über die geschäftliche Seite zu sprechen, sie zu kommentieren oder mich über sie lustig zu machen“.

Ivo Dimchev

“Fest” von Ivo Dimchev

Er erwähnt in diesem Zusammenhang gleich auch das Gruppenstück „Fest“ (2013), eine brutale Satire auf den Festivalmarkt in der Tanzwelt.

„Ich finde diese Machtdynamik im Tanz sehr theatralisch”, sagt Ivo. „Ich kann mir die Chance nicht entgehen lassen, diese sehr offensichtlichen, aber manchmal auch sehr versteckten Dimensionen zu erforschen und zu benennen, die auf jedem Kunstmarkt herrschen. Außerdem weiß man nie genau, wo das Kunstwerk beginnt und wo es endet … die verschwommenen Grenzen zwischen dem Künstler, dem Kunstwerk und der Kunstwelt, dem Rest der Welt, Gott und der Weltbank … Jeder von ihnen ist Teil von jedem … Das war schon immer so. Wer behauptet, dass sie getrennt sind, hat schlichtweg Wahnvorstellungen.“

in “METCH”

Ivo Dimchev

In „METCH“ versäumt es Dimchev keinen Moment lang, die Performance als ein Produkt zu entlarven, das attraktiv beworben und auch verkauft werden muss. Er bittet die anwesende Fotografin, Fotos speziell für die Presse zu schießen, während er auf der Bühne einen „neuen Trick“ übt – zu sprechen und sich zu bewegen und dabei die Dynamik von Stimme, Text und Choreografie getrennt zu halten. Das soll beweisen, dass er ein „guter Profi“ ist. Er stellt sich die Frage, was in einer Welt, die auf eine ständige Produktion von Bildern ausgerichtet ist, heute mehr wert ist: das reale Geschehen der Handlungen oder das Bild davon? Was bestimmt den Preis der Bilder und wer macht sie wertvoll: Diejenigen, die das Bild in einem Kunstkontext ausstellen? Oder derjenige, der sie bei einer Live-Performance malt?

„Der Preis ist die einfachste und gängigste Form des Wertes”, sagt Ivo. „Deshalb ist es einfach, mit solchen Werten zu spielen. Aber der Wert hat viele Dimensionen, die vom Künstler selbst, von dessen Produzenten oder auch vom Publikum ständig manipuliert werden. Die Frage ist, wer die meiste Kontrolle hat. Ich wünschte, der Künstler hätte das letzte Wort … aber man weiß ja nie!“

Zu Beginn von „METCH“  trägt Ivo Dimchev schwer an einer Staffelei auf seinem Rücken, als sei er Jesus, der das Kreuz nach Golgatha trägt. Kunst ist für den Künstler zugleich Fluch und Segen, ein ultimativer Drang, dem es zu folgen gilt, ungeachtet der „enormen Menge zerbrechlichen Gepäcks“, die sie erzeugt: So Ivo in seinem fingierten Interview mit dem Chor des Publikums. Er beginnt seine Bilder vorzustellen.

Ivo Dimchev

Es gibt diese große Szene, in der er mit Hilfe des Publikums seine Bilder – alle in leuchtenden Farben mit groben menschlichen Figuren in einer Vielzahl von Sexposen im Stil eines trashigen Neo-Expressionismus – in mehreren Reihen an der Wand anordnet. Nebeneinander betrachtet, wirken sie wie ein offener Abgrund der dunklen, obsessiven Macht von Sex und Sexualität. Sie enthüllen zugleich eine beunruhigende Zärtlichkeit, den Wunsch nach extremer Nähe und Liebe. Sie wirken erschreckend und schmerzhaft, schamlos fleischlich, pornografisch, und doch voll explosive Energie. Im Finale malt er eine Mutter, die ein totes Kind in den Armen hält, während er positive und negative Kommentare aus dem Publikum entgegennimmt und sich selbst mit positiver und negativer Energie überschüttet.

Ivo Dimchev

Er bricht in eine Art rituellen Tanz aus, in dem er über die Katastrophe in Palästina, die bösen Russen, die bösen Amerikaner und ein böses, böses Erdbeben schimpft und die tote Mutter und das tote Kind beklagt. Die Szene ist ein Remake aus „I Cure“, als auf dem Höhepunkt der Syrienkrise ständig Aufnahmen von Tod und Zerstörung kursierten und ein Bild von zwei ermordeten Kindern und die Leiche ihrer Mutter daneben auf dem Bildschirm zu sehen waren.

Dimchev führt in „I Cure“ in einer Art psychotisch wirkender Trance einen Monolog, in dem sich verschiedene Stimmen kreuzen – die der Betrachter des Fotos, seine eigene (welche Verantwortung hat der Künstler angesichts der Gewalt in der Welt?), die Stimmen der toten Kinder, mit denen er „spricht“. Fieberhaft verkörpert er all diese Positionen, verhandelte den Schock des Anblicks extremer Gewalt, sucht nach einem Ausweg, um sie in eine andere Art von Macht zu verwandeln. In diesem Moment fordert er die Zuschauer auf, der „i-cure-card Karte“ die „Freundlichkeit“ zu entnehmen. Es ist der vielleicht naive Versuch zu begreifen, dass man sich mit der Welt und miteinander auf eine Weise zu verbinden kann, die Schmerz und Gewalt in etwas anderes verwandeln – „in Liebe, in Empathie, in eine Kraft, mit der wir vorwärtskommen können.“

in “METCH”

Ivo Dimchev

„METCH” führt diese Idee nun fort. Projizierte Zeilen an der Wand fordern das im Chor sprechende Publikum auf, „diese toten Kinder so zu lieben, wie sie sind“ und zu akzeptieren, dass die Bilder „die komplexe Natur des Lebens“ darstellen. Mit abgenommener Perücke bemalt Dimchev seinen Oberkörper, seinen Kopf und sein Gesicht mit weißer Farbe und wirkt nun wie ein Schamane. Der Künstler stellt sein E-Piano auf die Staffelei und singt „I’m travelling light“. Kann der Künstler ein „reisendes Licht“ sein zwischen verschiedenen Welten? Die Verkörperung einer Superkraft, die dazu berufen ist, das Leiden in der Welt durch „Frequenzen“ zu verwandeln, um Versöhnung, Liebe, eine positive Beziehung zum anderen und zur Welt bringen? Kann eine Aufführung einen solchen Wert haben?

Die jüngste Station der Europatournee von „METCH“ ist das Wiener Festival „ImPulsTanz“. Dort heißt es, dass „nur wenige Künstler so eng mit ImPulsTanz verbunden sind wie Ivo Dimchev“. Zum ersten Mal trat er dort 2003 als Teilnehmer bei DanceWeb auf, 2009 war er mit „Lili Handel“ im Hauptprogramm des Festivals zu sehen. Seitdem hat ImPulsTanz einige seiner wichtigsten Stücke präsentiert und sogar koproduziert.

“METCH”

Ivo Dimchev

Ich sah „METCH” in Dimchevs Heimatstadt Sofia bei der „Bulgarischen Tanzplattform“ im Rahmen des Antistatic-Festivals für zeitgenössischen Tanz und Performance. Das Festival wird von Ivos Schulkameraden aus derselben Sekundarstufe organisiert, den heutigen Tanzkunstschaffenden und Produzenten Iva Sveshtarova, Willy Prager und Stephan Shtereff.

Iva Sveshtarova und Willy Prager

Neshka Karadzhinska

Sie studierten gemeinsam in der Klasse für experimentelles Theater unter der Leitung des Regisseurs Nikolai Georgiev, eines Schülers des Theatermachers Jerzy Grotowski. Heute sind Iva, Willy und Stephan die Verfechter des zeitgenössischen Tanzes in Bulgariens Hauptstadt. In den vergangenen zehn Jahren hat das „Antistatic Festival“ zusammen mit dem „Varna Summer International Theatre Festival“ und dem kurzlebigen DNA-Space for Contemporary Dance and Performance entscheidend dazu beigetragen, dass Ivos Arbeiten, die international produziert werden, auch in Bulgarien präsentiert und anerkannt worden sind.

Folklore war für viele Bulgaren der einzige Begriff von Tanz

„Bulgarien ist der Kontext, in dem ich als Mensch und als Künstler aufgewachsen bin“, sagt Ivo Dimchev: „Es ist dieser Kontext, in dem es seit meiner Kindheit einen starken Widerstand gegen mich gibt. Ich finde diesen Widerstand sehr wichtig und nützlich, weil er in beide Richtungen geht. Ein Teil meiner Arbeit ist als Widerstand gegen diesen Widerstand zu verstehen. Es ist eine Liebesgeschichte und eine Kriegsgeschichte“ mit Bulgarien. Eines seiner Kampffelder ist die Öffnung der Wahrnehmung für zeitgenössische Kunst. Das andere sind die Rechte der LGBTQ+-Bewegung.

in “Halal”

Ivo Dimchev

Lokal betrachtet, ist Dimchev eine Kultfigur für die experimentelle Theaterszene und die Queer-Community. Seinen Ruhm verdankt er vor allem seiner Musik und seinem Aktivismus. Gerade die Songs zeigen die Vielseitigkeit, den Eklektizismus und die Provokation seiner künstlerischen Individualität. Sie schaffen es, einen sehr breiten Kreis von Fans zu erreichen.

Fast regelmäßig gibt Ivo Dimchev in Sofia und im ganzen Land Konzerte, trägt seine Lieder vor, die sämtliche Genres mischen: Oper, Kabarett, Wiegenlieder, Pop und Techno, Pop-Folk und Chalga, die beliebte Balkan-Erfindung, die orientalische Melodien mit Disco-Beats verbindet und die gewöhnlichen Freuden des Lebens besingt – lustvolle Romantik, Alkohol, Geld. Wie das Magazin „The New Yorker“ kürzlich schrieb, bleibt Ivo „tiefgründig, auch wenn er schlicht ist“. Und er bleibt seinem Ethos treu, die Konventionen herauszufordern und Widersprüche deutlich zu machen.

in “Avoiding deLIFEath”

Ivo Dimchev

Während Covid-19 widersetzte er sich dem Verbot von Menschenansammlungen, gab Konzerte in Wohnungen und Häusern in Sofia als eine Art privater kultureller Bringdienst, der nicht nur seine Kunst in die alltägliche Umgebung der Menschen brachte, sondern auch positive und, warum nicht, sogar heilende Vibes in ziemlich schweren Zeiten auslöste.
Nun wird es einen Dokumentarfilm über seine Konzerte in Sofia, Istanbul, Los Angeles und New York geben. 2025 soll Dimchev an der Komischen Oper in Berlin zu sehen sein, in „Cabaret“ in der Regie von Kiril Serebrennikov. Und in Wien wird im selben Jahr sein Auftragswerk „The Strauss Technique“ bei den Festwochen nach Kompositionen von Johann Strauss zu erleben sein.