Dort, wo die Jungs sind

Johannes Malchow

Kampfkünstler, die gegeneinander antreten, wollen ihren Gegner besiegen – es ist ein Ringen um Überlegenheit. Yotam Peled geht einen anderen Weg: Er lässt seine Performer nicht nur kämpfen, sondern auch innehalten, zusammenbrechen, scheitern – bis ihre Verletzlichkeit sichtbar wird. Der Widersteit der Körper wird zum Spiel der Kräfte, um die eigenen Schwächen und Stärken am Gegenüber zu entdecken. Es entsteht Raum für neue Arten der Berührung – spielerische, zärtliche – die wir uns im Alltag selten erlauben. Ein Gespräch.

Yotam Peled

MerlinEttore

Yotam Peled

hat zehn Tage lang hat er zusammen mit zwei professionellen Kämpfern die Ähnlichkeiten zwischen Kampf- und Tanzpraktiken untersucht. Das Resultat ist eine halbstündige Performance mit dem Titel „Where the boys are“ („Dort, wo die Jungs sind“). In dieser Form wird sie so nicht mehr zu sehen sein. Aber sie wird sich weiter entwickeln, um im Rahmen der Plattform „Explore Dance“ im März 2023 in der Fabrik Potsdam wieder sichtbar zu werden.

Yotam Peled, der Titel der Performance heißt: „Where the Boys Are“. Warum?

Es ist der Titel eines Songs, den ich sehr mag. Ich hörte das Lied zuerst als Coverversion – damals wusste ich noch nicht, dass es ein Coversong war –, gesungen von einem Mann. Die erste Zeile lautet: „Where the boys are, someone waits for me” („Dort, wo die Jungs sind, wartet jemand auf mich“). Erst später erfuhr ich, dass das ursprüngliche Lied von einer Frau gesungen worden war, 1960 von Connie Francis. Die Coverversion stammt aus dem Album „Sorry I made you cry“ der Czars – voll mit Liedern, die ursprünglich von Frauen für Männer gesungen wurden. Liebeslieder, die von Männern für Männer gesungen werden, gibt es praktisch keine. „Wo die Jungs sind“: Ich begann, das Lied zu befragen: „Wo“ kann ein Ort sein. Kann er auch ein Gemütszustand sein? Ein Zustand, den wir gemeinsam finden können, wenn wir die „boys“ fragen, was ihr „Verrücktsein“ ist, wohin sie gehen wollen, welche Fantasien sie haben, die sie alleine oder gemeinsam ausleben wollen, und welchen Schmerz sie vielleicht haben, den sie nicht teilen können.

Das Lied war auch eine Einladung, über die Jungenhaftigkeit und die erwachsene Männlichkeit nachzudenken. Darüber, welchen Grad an Intimität oder Unschuld, wie viel Annäherung an den anderen wir uns erlauben. Ich liebe die Vorstellung, dass man sich selbst die Erlaubnis gibt, ein wenig verrückt zu sein und Dinge zu tun, die man sich normalerweise nicht erlaubt. Ich glaube, gerade von erwachsenen Männern wird erwartet, dass sie stabil sind, dass sie sich zurückhalten, dass sie ihre Emotionen nicht rauslassen, dass sie nicht herumalbern oder kindisch sind. Genau diese knabenhaften Spiel- und Kampf-Elemente, wie man sie oft zwischen jungen Tieren oder Jungen beobachten kann, kommen in dieser Performance sehr oft vor.

Und es berührt auf einer anderen Ebene auch meine Reflexionen als queerer, homosexueller Mann und die Tatsache, dass ich mich die meiste Zeit meines Lebens in maskulinen Räumen unwohl gefühlt habe. Ich fühlte mich in der Nähe von Frauen stets sicherer. Dies ist seit einiger Zeit die erste Kreation, bei der ich nur mit Männern zusammenarbeite – in diesem Fall mit Männern, die einen Kampfkunst-Hintergrund mitbringen. Es war ein schöner Austausch. Andrius und Nicolas, die beiden Darsteller, haben vorher noch nie getanzt. Andrius kommt ursprünglich vom Boxen, Nicolas vom Ringen, und beide trainieren jetzt Kung Fu.

DIE ARCHAISCHE SEITE

Bemerkenswert, dass es überhaupt gelungen ist, zwei professionelle Kämpfer zu einem zeitgenössischen Tanzprojekt einzuladen.

Als ich sie für dieses Tanzprojekt anfragte, assoziierten sie es tatsächlich als erstes mit Verrücktheit. „Müssen wir uns auf der Bühne nackt ausziehen?“, fragten sie. Das war ihre Vorstellung von einer zeitgenössischen Tanzaufführung. Ich lachte, und dann sprachen wir darüber, und ich sagte: „Nein, ihr werdet wahrscheinlich einfach nur tun, was ihr tun wollt.“

Sie haben selber einen Kampfkunst-Hintergrund – hat das geholfen, die beiden Kämpfer zu überzeugen?

Ja, es hat auf jeden Fall geholfen, denn ich habe diesen Prozess selbst durchlaufen –von der Leichtathletik, der Kampfkunst und der Akrobatik zum Tanz. Ich habe schon immer mit meinem Körper gearbeitet und mich bewegt. Das war auch für sie nicht der schwierige Teil. Aber ausdrucksstark und kreativ zu sein, mich verletzlich zu zeigen und mich zu exponieren – das ist eine große Sache. Es war gut, das zuerst selbst durchlaufen zu haben und diesen Prozess dann zusammen mit ihnen zu erleben, auch wenn wir einen sehr unterschiedlichen Kampfsport-Hintergrund haben. Die Sportart, die ich kenne und mit der ich im Alter von 13 Jahren begonnen habe, ist Capoeira. Capoeira ist eine kontaktlose Kampfkunst, das heißt, beim Kämpfen geht es nicht so sehr darum, den anderen zu berühren, es ist kein Wettkampf. Ringen oder Boxen zum Bespeil sind dagegen Kampfsportarten, die eine größere Auswirkung auf den Körper haben. Man kann sich verletzen, man kann seinen Partner zur Erschöpfung bringen, ihn besiegen. Es gibt also einen großen Unterschied zwischen den Disziplinen. Aber es gibt eine gemeinsame Sprache, die uns zusammenbringen konnte.

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie Capoeira praktizieren?

Es ist wie ein Rausch. Es entsteht eine Art Dringlichkeit. Zudem hat es etwas sehr Instinktives an sich: Capoeira verbindet mich mit einer uralten, animalischen Seite in mir, die sonst in mir verborgen liegt und in diesem Moment die Oberhand gewinnt. Alles ist sehr einfach, lebendig und energiegeladen. Das ist meine Erfahrung mit kontaktlosen Kampfkünsten.

DIE VERWANDLUNG

Hatte die Armee-Erfahrung nach dem Militärdienst bei der israelischen Armee einen Einfluss auf die Entscheidung für den Tanz?

Ich habe mit 21 Jahren angefangen zu tanzen, nach Ende eines dreijährigen Militärdienstes. Ich kann nicht sagen, was geschehen wäre, wenn ich in einem anderen Land aufgewachsen wäre – ich bin nicht sicher, ob ich mit 18 bereits zum Tanz gefunden hätte. Die Reife, das Alter, aber auch die Armee-Erfahrung ließen mich verstehen, dass ich etwas für mich selbst tun musste. Nach diesen drei Jahren, in denen ich – von der Politik einmal abgesehen – ständig jemand anderem dienen musste, warten musste, ausharren musste, in denen mein Körper ein Instrument war, das nicht mir gehörte – nach dieser Erfahrung wurde mir klar, dass die Entscheidung, die ich als nächstes treffen würde, eine für mich war. Ich wollte herausfinden, was ich wirklich brauche, ohne Angst zu haben.

Es gab einen Teil in mir, der schon seit langem tanzen wollte, vielleicht mein ganzes Leben lang. Nachdem ich den Militärdienst beendet hatte, wurde mir klar: Ich bin niemandem etwas schuldig. Das war eine Art von Katharsis. Ich hatte zwar keine Kampfeinsätze geleistet, aber mein Leben und mein Körper gerieten während meines Militärdienstes nicht in Gefahr – in dieser Hinsicht war ich also privilegiert. Es gab trotzdem eine Menge zu verarbeiten. Bezeichnenderweise ging es in meinen ersten Tanzstücken als Tänzer – als ich anfing, meine eigene Arbeit zu kreieren – darum, die zahlreichen Armeemuster zu dekonstruieren. In meinem Stück „Boys Don’t Cry“ beispielsweise setzte ich systematisch Uniformen, Kampfstiefel sowie zahllose militärische Drills, Kommandos, Rufe und Körperzustände ein. Zu diesem Zeitpunkt war es für mich am einfachsten, auf diese Art mit meinem Körper umzugehen. Später konnte ich dann ein wenig mehr Sanftheit zulassen.

Der Tanz war also eine Möglichkeit, die Armeeerfahrung zu verarbeiten?

Ja. Wenn wir über Männlichkeit sprechen, denke ich, dass nicht nur in Israel, sondern überall auf der Welt viele Männer ihre Armeeerfahrungen wie eine Art Wunde oder Trauma mit sich herumtragen, als ein ungelöstes Problem. In meinem Fall glaube ich nicht, dass ich irgendetwas erlebt habe, was eine echte Narbe bei mir hinterlassen hat, aber ich weiß, dass dies bei vielen anderen der Fall ist. Wir leben in einer Gesellschaft, die für die Verarbeitung dieser Erlebnisse nicht unbedingt genügend Raum lässt. Und selbst unter den jungen Männern, die dienen, existiert keine solche Intimität, die es ihnen erlauben würde, sich aufeinander zu verlassen, sich gegenseitig zu unterstützen, füreinander zu weinen, sich gegenseitig in den Arm zu nehmen – all jene Dinge, die gut tun würden, wenn man 18 oder 19 Jahre alt ist und so schwierige Dinge durchmacht.

Was haben Sie im Tanz gefunden?

Ich erinnere mich an meine ersten Schritte im Tanz: Es fühlte sich an, als sei ich plötzlich in einem anderen Körper – es war wie ein völlig neuer Zugang zu meinem Körper. In der Kampfkunst muss man sich – zumindest habe ich das so erlebt – immer anstrengen. Ich musste etwas sein, ich musste stark sein. In gewisser Weise hat mir das Tanzen erlaubt, sanfter zu werden. Es ermöglichte mir, mich selbst in einer verletzlicheren, exponierteren Weise zu erleben, und erstmals zu hinterfragen, ob mein Körper wirklich auf eine bestimmte Art und Weise so sein muss. Während dieses Prozesses kamen viele auch Fragen zu Geschlecht, Männlichkeit und Sexualität auf. Ich begann zu tanzen, ohne es all zu sehr zu intellektualisieren. Es ging ganz einfach um die Frage: Muss ich so sein, oder kann ich auch ganz anders sein? In der Zeit, in der ich Kampfkunst trainierte, war ich der Überzeugung gewesen, dass es einen ganz bestimmten Weg gab, den ich gehen musste. Diese Überzeugung stammte teils von mir selbst, teils von meinen Lehrern und Gefährten. Beim Tanzen fand ich nun plötzlich heraus, dass es viel mehr Möglichkeiten gab, als ich bis dahin geglaubt hatte.

DIE EINFACHHEIT

Wie ist die Idee entstanden, Kampf- und Tanzpraktiken zu verbinden?

In Berlin gibt es ein Kampfsportstudio namens „Fenriz“, für gemischte Kampfsportarten und Jiu-Jitsu. Ich habe dort in den letzten fünf Jahren Akrobatik-Workshops gegeben und war immer sehr angetan von den Menschen, die dort trainierten. Wenn ich zu den Workshops kam, sah ich die Leute kämpfen und schaute ihnen fasziniert zu. Auf mich wirkte ihr Training fast wie eine Aufführung. Die Art und Weise, wie sie sich gegenseitig suchten, miteinander spielten und sich gegenseitig bezwangen, hatte etwas Zwingendes und zugleich etwas Leichtes und Einfaches an sich. Es zog mich in den Bann.

Also fragte ich eine Freundin und Kollegin von mir, Asuka Julia Riedl, ob sie Lust habe, zusammen mit mir in diesem Berliner Gym ein Projekt zu entwickeln. Es ging uns vor allem darum, herauszufinden, wo sich Tanz und Kampfkunst treffen – von einer praktischen Betrachtung der Fuß- und Armarbeit, der Körperspannung und der Bewegungsmuster bis hin zur Frage, wie wir im Raum miteinander umgehen, sowie zu spirituellen Aspekten.

Asuka und ich, die beide vom Tanz kommen, waren überrascht zu sehen, dass viele dieser Kampfkunst-Aspekte auch im Tanz vorkommen. Andrius und Nicolas, die Darsteller von „Where the Boys Are“, waren bei diesem Projekt mit dabei. So lernte ich sie kennen. Diese Residenz in Zürich war eine Fortsetzung dieser Arbeit.

KUNST UND SPIRITUALITÄT

Als ich die beiden „tanzenden Kämpfer“ sah, dachte ich: Ist Kampfkunst mehr Kunst als Kampf?

Es existiert in der Tat eine ganze Welt darum herum. Es ist nicht nur eine physische Begegnung. Der Teil, in der die Gegner kämpfen, ist natürlich ein wesentlicher Teil vom Ganzen, aber es ist nicht der Hauptaspekt. Nachdem, was ich von den beiden Kampfsportlern gesehen und gelernt habe, treten die Kämpfer vor allem auch gegen sich selbst an. Diese Konfrontation ist genauso wichtig wie jene mit dem Gegner.

In den Kampfkünsten, besonders in den ostasiatischen Kampfkünsten, geht es nicht nur körperliche Bewegungen und Techniken, sondern auch um Meditationsarbeit, Reflexionsarbeit, um eine spirituelle Praxis. Wir sprechen deshalb auch von Kampfkunst. Ich persönlich betrachte jene, die sie ausüben, definitiv als Künstler und nicht so sehr als Kämpfer – auch wenn es ihnen manchmal schwer fällt, sich selbst als Künstler zu sehen. Ich sehe ihre Kunstfertigkeit in jeder einzelnen ihrer Bewegungen.

Die beiden Performer – oder Kampfkünstler – haben mich sehr inspiriert. Sie sind vollkommene Menschen, mit vollkommenen Körpern. Sie gehören beide einer Kung-Fu-Schule an, und im Kung-Fu wird viel mit den Elementen Wasser, Feuer, Erde und Metall gearbeitet, und mit verschiedenen Tieren und ihren Kampfstilen. Dies ist an sich schon ein ganzes Universum, mit dem man arbeiten kann.

Ich habe von den beiden gelernt, indem ich ihnen beim Üben zugeschaut habe, indem ich beobachtet habe, wie sie einander begegnen, indem ich ihren Mut gesehen habe, ihre Wildheit. Danach habe ich versucht, sie zu verstehen und das Ganze zu dekonstruieren.

DER RESPEKT

Dennoch geht es um den Kampf mit einem Gegner, auch wenn dieser Kampf auf sehr kontrollierte Weise geschieht. Welche Rolle spielt dabei die Gewalt?

In Bezug auf die Aufführung war es für mich interessant zu sehen, dass die Szenen, die ich selbst als gewalttätig oder aggressiv empfand, nicht unbedingt die Kämpfe zwischen den beiden Darstellern waren. Wir haben als Team mehrmals darüber gesprochen. Gewalt kann sich genauso gegen einen selbst richten, sie muss nicht zwangsläufig gegen einen anderen Körper gerichtet sein.

Wie ist Ihr eigenes Verhältnis zu Gewalt?

Ich bin kein gewalttätiger Mensch, würde ich sagen. Deshalb hatte ich manchmal ein wenig Angst vor den Situationen, in denen die beiden Darsteller gegeneinander kämpfen und sich gegenseitig schlagen. Sie hingegen mögen es, sie brauchen es. Es geht ihnen nicht darum, den anderen zu verletzen; sie mögen es, weil sie die Begegnung mit dem anderen Körper suchen. Es hilft ihnen, Dinge zu verstehen, weicher zu werden und Spannung abzubauen, und es ermöglicht ihnen, voneinander zu lernen. Es ist eine sehr komplexe Art, den anderen zu sehen.

Ich glaube, wir betrachten Gewalt oft aus einer Perspektive der Grausamkeit und der Macht heraus, denn wir sehen sie im Krieg oder wenn jemand einen anderen Menschen missbraucht oder Gewalt gegen eine hilflose Person anwendet. Aber wenn sich Kampfsportler oder professionelle Kämpfer treffen, dann geschieht dies auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt, aus einer Vereinbarung und aus einem Spiel heraus. Sie sind beide stark. Das ist etwas völlig anderes als wenn jemand auf der Straße auf eine schwächere Person einschlägt.

Ich bin mir auch bewusst, dass ich gewalttätige oder aggressive Muster in mir trage, die ich im Tanz ausdrücke. Wenn ich mir meine letzte Kreation anschaue, „migrena2x2“, kommt darin viel Gewalt vor, sie ist ziemlich düster. Ich bringe meinen Körper darin in viele schwierige Situationen, und ich denke, dass das viele Tänzer in ihrer Arbeit tun. Manchmal ist die Gewalt, die wir uns selbst antun, viel stärker als jene gegenüber einem Partner – vor allem dann, wenn zwischen den beiden Gegnern eine Vereinbarung existiert.

DER SCHMERZ

In der Performance gab es einen Moment, in dem die beiden Darsteller gegen eine Wand schlugen. War das eine Illustration dieser Gewalt gegen uns selbst, die Sie ansprechen?

Ja, auch. Oder als sie sich selbst geschlagen haben, zum Beispiel. Für mich sind diese Momente gewalttätig – nicht unbedingt auf eine düstere Art und Weise, sondern als Ausdruck von Schmerz. Ich arbeite viel mit Schmerz. Schmerz ist für mich offensichtlich, er existiert, man kann ihm nicht ausweichen. Also sollte er auch auf der Bühne und in meiner Arbeit vorkommen. Ich verspüre nach wie vor ein großes Bedürfnis oder Verlangen, mit dem Schmerz zu arbeiten und ihn zu transformieren, ihn herauszulassen. Ich will ihn nicht verstecken. Und vielleicht ist es in gewisser Weise gesund, sich gegen die Wand zu werfen, um den eigenen Schmerz zu verarbeiten.

Ist Kampfsport oder -kunst der gesündere Weg, Gewalt abzubauen, als sie zu verinnerlichen oder zu unterdrücken?

Ja. Meine Schwester ist Yogalehrerin und Therapeutin und setzt sich mit der sogenannten Schattentherapie auseinander. Ein Teil dieser Schattentherapie besteht darin, Empfindungen, die wir normalerweise verdrängen und unterdrücken, weil sie im öffentlichen Raum nicht existieren dürfen, einen physischen und emotionalen Raum zu geben. Es gibt eine ganze Reihe von Emotionen und Gefühlen, sogar Erfahrungen oder Traumata, die wir erlebt haben, die wir in der Öffentlichkeit nicht ausdrücken können.

Aber sie werden in unserem Körper gespeichert; der Körper erinnert sich an sie. Es ist fast so, als ob sie in uns weiter schwingen, bis man ihnen einen Raum gibt, in dem sie sein können, oder eine Realität, in der sie existieren können. Ich denke, das ist ein sehr guter Grund zu kämpfen, zu tanzen, zu schreien und zu spielen. Kinder leben das viel stärker aus als die Erwachsenen.

Ich habe zu einem früheren Zeitpunkt ein Tanz-Stück mit dem Titel „Alpha“ choreografiert, in dem es um Club-Kultur geht, weil man in der Club-Szene sehr viel Emotionalität sieht, besonders in Berlin. Wut und Freude. Eine große Bandbreite an Emotionen. Man merkt, dass die Leute das brauchen. Es ist wie ein Gemeinschaftsritual: Die Menschen kommen zusammen, um etwas rauszulassen, um emotional zu sein.

DIE KAMERADERIE

Sind Kampfdisziplinen auch ein Ort, an dem Männer anderen Männern nahe kommen – nicht auf sexuelle Weise, sondern um Zuneigung und Intimität zu erfahren, etwas, das in den meisten Gesellschaften nicht immer möglich ist, anders als für Frauen?

Das ist bis zu einem gewissen Grad wahr. Es ist tatsächlich ein Raum für Intimität, für Zuneigung, für Gefühle, ein Ort um etwas zu teilen. Beim Capoeira zum Beispiel konnte ich singen, tanzen, kämpfen und mit anderen Männern spielen, wie ich es sonst nie getan hätte. Die Berührungen hatten jedoch immer etwas Pragmatisches an sich. Die Hände zum Beispiel berührten nur, um etwas zu tun, also um zu schlagen, zu heben, zu kratzen – sie müssen immer eine pragmatische Funktion haben. Sie berühren nicht einfach nur, um zu fühlen.

Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, eine Art der Berührung in die Arbeit zu integrieren, die einfach nur dazu da ist, den anderen zu spüren. Was macht er gerade durch? Eine Bewegung, die dazu da ist, zu unterstützen, zu verstehen, zu kommunizieren, präsent zu sein. Ich mochte das sehr, wenn die Performer diese Art von Berührung zuließen, oder wenn sie manchmal in einer Position inne hielten und gemeinsam atmeten. Es erlaubte ihnen, miteinander zu verschmelzen, Zärtlichkeit zu finden, Trost zu finden, sich gegenseitig zu unterstützen oder auch kleine Streiche mit dem Körper des anderen zu spielen.

Es liegt etwas Besonderes in dieser Fähigkeit, sich gegenseitig körperlich zu trösten, ohne dass dies in irgendeiner Weise sexuell ist. Es fällt Männern zwar leicht, das andere Geschlecht zu umarmen, und vielleicht können sich Frauen gegenseitig leichter umarmen. Aber Männer und Männer, das geht nicht so gut, würde ich sagen. Ich bin sehr froh, dass die Darsteller dafür offen waren.

Ein Thema, das sowohl bei den beiden als auch bei mir immer wieder auftauchte, war die Idee der Kameradschaft. Dass man sich gegenseitig unterstützt, dass man gemeinsam auf demselben Weg ist. Wie lässt sich eine solche körperliche und emotionale Intimität zwischen Männern benennen? Es gibt beispielsweise den Begriff der Rivalität mit dem anderen, oder der Brüderlichkeit. Aber diese Arten der Beziehung werden häufig als „männlich“ kodiert. Bei der Kameradschaft hingegen, denke ich, ist man dem anderen einfach sehr nahe. Man ist mit dem anderen. Es ist ein schöner Begriff.

DAS SCHEITERN

Sie sprechen auch viel von Verletzlichkeit, als wäre Ihnen das Thema sehr wichtig.

Die Verletzlichkeit ist ein Thema, das ich als Performer bereits seit einigen Jahren behandle. Ein Choreograf, mit dem ich gearbeitet hatte, brachte mich auf diese Idee – wofür ich ihm sehr dankbar bin. Seitdem ist ein Teil von allem, was ich tue, zu scheitern. Also keine Angst vor dem Versagen zu haben, vor Schwächen, vor dunklen Seiten – aber vor allem vor dem Scheitern. Ich mache mich stattdessen über mich selbst lustig und nutze das im Tanz bewusst als Technik, als eine Art zu kommunizieren. Für mich hat Verletzlichkeit viel damit zu tun, nahbar und  menschlich zu sein, im Gegensatz zu klassischeren Kunstformen, wo – besonders im Tanz – der Darsteller perfekt sein muss und ausschließlich Mut, Stärke und Können zeigt.

Für mich bedeutet Verletzlichkeit, dass man sich erlaubt, andere Seiten von sich preiszugeben. Seiten, die sich vielleicht erst zeigen, wenn man allein ist; Ängste, die man hat, Zweifel. Ich spiele gerne damit, indem ich sie auf sehr einfache Weise zeige und entblöße, aber manchmal auch, indem ich einen Witz daraus mache; zum Beispiel, indem ich gegen die Wand schlage oder mich selbst schlage oder zusammenbreche, falle, zittere. Für mich ist es, sowohl als Darsteller wie auch als Zuschauer, viel interessanter zu sehen, wie Darsteller so etwas durchleben, anstatt nur zu zeigen, wie großartig sie sind.

Kommt man als Künstler einen Schritt weiter, wenn man Verletzlichkeit zulässt?

Auf jeden Fall. Auch wenn es nicht einfach ist; vor allem, weil das, was man fühlt und mitteilt, nicht immer gut beim Publikum ankommt. Es kann auch traumatisierend sein. Ich glaube zudem nicht, dass die Bühne unbedingt ein Ort ist, an dem man alles herauslassen soll, denn das kann für das Publikum schwierig werden. Das Publikum möchte nicht unbedingt mit all unseren Probleme konfrontiert werden.

Aber ich denke, es ist notwendig, vollständig zu existieren, ganz auf der Bühne zu sein. Es gibt einen Anteil in mir, der nicht vollständig existieren kann, solange ich ihn verstecke, im Schatten halte und nicht auf die Bühne bringe; ich bin dann nur die Hälfte von dem, was ich wirklich bin. Und wenn ich nicht vollständig existiere, kann das Publikum nur die Hälfte von mir sehen. Aber je mehr ich diesen Teil in mir zulasse, freilasse, desto stärker spüre ich eine Verbindung zu den Zuschauern. Sie können sich nun mit dem, was sie sehen, identifizieren, weil sie sich selbst sehen. Vor allem, weil auch sie scheitern. Ich denke, es ist als Gesellschaft interessant und befreiend, all dem einen Raum zu geben. Natürlich will ich damit nicht sagen, ich sei eine Art Heilpraktiker; ich kreiere lediglich Performances.

VERBINDUNGEN

Was möchten Sie, als Choreograf, dass das Publikum fühlt und erlebt?

Ich glaube, ich möchte vor allem, dass die Zuschauer mit ihren eigenen Gefühlen und ihrem eigenen Körper in Verbindung treten. Ich habe das Gefühl, dass dies eine Art vergessene Kunst ist: das Gefühl, physisch im Raum zu existieren. In Berlin zum Beispiel ist eine Menge sehr guter Performance-Arbeit sehr intellektuell. Oft sind mein Körper und mein Herz beim Zuschauen überhaupt nicht präsent. Ich sehe mich also in der Rolle, zumindest in meiner Arbeit, dem Publikum diese Verbindung zu ermöglichen. Damit es keine Mauer gibt, die das Publikum von den Darstellern trennt.

Und dann, sagen wir, speziell in dieser Aufführung, ging es mir um das Ablegen von Schichten, das Ablegen unserer Rüstungen. Wir tragen alle diese Panzer, die uns schützen. Und ich möchte mit dieser Performance einen Raum schaffen, in dem es in Ordnung ist, diese Hüllen fallen zu lassen und sich selbst zu zeigen.

Es ist ein großer Prozess, den ich zusammen mit den Darstellern durchlaufe. Ich möchte zunächst, dass sie verstehen, wer sie sein wollen, was sie für ihren Körper empfinden, was sie füreinander empfinden. Und in einem zweiten Schritt möchte ich, dass das Publikum auf diese Weise sich selbst näher kommt, dass es sich wieder mit seinem eigenen Körper verbindet, aber auch mit etwas Innerem – einem inneren Kind, einem inneren Wesen, das vielleicht irgendwo unter zahllosen Schichten von Intellekt und sozialen Kodes verloren gegangen ist. Eine Art Befreiungserlebnis.

Vielleicht geht es aber auch einfach darum, närrisch und verrückt zu sein. Mit der Choreografie möchte ich es langsam angehen, ich bin ein noch junger Choreograf. Ich fange erst an und muss noch meinen Weg finden. Mir ist aber bereits aufgefallen, dass die ersten Arbeiten, die ich entworfen habe, sehr ernst waren: Die Themen waren sehr schwerfällig, es gab viel Drama, viel Düsternis. Das gefällt mir zwar auch und ist ein Teil von mir. Aber bei dieser jüngsten Arbeit habe ich mir erlaubt, Spaß zu haben. Es ist schön, wenn Menschen lächeln und lachen können. Und es ist wichtig, dass die Menschen Spaß haben können. Wenn die Vorführung zu Ende ist, freue ich mich über ein Lächeln oder ein Zeichen der Erleichterung in den Gesichtern der Zuschauer. Oder über ein Zeichen, dass etwas in ihnen wachgerüttelt worden ist.

DIE FLÜCHTIGKEIT

Die Vorstellung in Zürich war keine fertige Aufführung, sondern das Ergebnis eines zehntägigen Forschungsaufenthalts. Wird sie je wieder zu sehen sein?

Sie wird sich weiterentwickeln oder verschwinden. Ich glaube nicht, dass sie verschwinden wird. Meine Erfahrung hier im Tanzhaus Zürich war sehr gut – es gab keinen Druck, etwas zu produzieren. Es ist ein Raum, der einem als Künstler zur Verfügung gestellt wird, um auszuprobieren, was man will. Mein Gefühl sagt mir, dass wir weiter zusammenarbeiten werden – auch wenn es in einem anderen Format sein wird.