Aktuell schrumpft die Mittelschicht weiter, die Unterschicht verarmt. Was unter Ahmadinedschads Regierung begann, manifestiert und intensivierte sich ab Mitte 2021 in galoppierender Inflation, immer höheren Preisen und steigender Armut, aber auch im explosiven Wachstum der bürgerlichen Oberklasse. Während für die Mehrheit die Kaufkraft zur Befriedigung auch nur der Grundbedürfnisse auf ein Drittel absank, führte der international diskutierte Tod der iranischen Kurdin Mahsa Amini (2000-2022) nach ihrer Festnahme durch die Polizei im September 2022 dazu, überhaupt kein Theater mehr zeigen zu können. Stattdessen verwandelten sich die Straße im Zuge der iranischen Frauenbewegung und ihres Slogans „Frauen, Leben, Freiheit“ zum Ort der Protest-Performance. Die Straßen sind nun das Theater. Eine Politik, die die Kultur des Iran bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und Künstlerinnen und Künstler bewusst ausgrenzt, musste unweigerlich zum Protest führen. In einen Zeitraum von 13 Jahren, von 2009 bis 2022, wurde dem Theater mit zunehmendem Druck verboten, sich über jegliche Probleme und Themen zu äußern, von denen die iranische Gesellschaft geplagt ist.
Die Schließung des Theaters ist konsequent das Ergebnis von staatlicher Zensur, auch von inkompetenten, ängstlichen oder ignoranter Kulturverantwortlichen mit zweifelhafter Geschmacksauffassung. Wie leben in einem solch instabilen, engen und stark zerbrechlichen kulturellen Umfeld, in dem die Rolle des Künstlertums in der iranischen Gesellschaft derart denunziert worden ist, dass nunmehr Ängste und Zweifel über die Notwendigkeit und das Wie und Warum von Theater geschürt werden konnten. Der iranische Frauenprotest hat dies nach dem Berufsverbot für Choreografinnen und Tanzkünstlerinnen im Februar 2022 sichtbar und bewusst gemacht: Das Problem ist nicht der Text. Das Problem ist: der Körper.
Die Forderung nach der Freiheit des Körpers in den Protest-Performances dieser Generation iranischer Männer und Frauen enthält eine klare Botschaft für die Zukunft: Die Forderung nach einem wahren Bild iranischer Frauen und Männer, auch und gerade auf der Bühne. Umstellt von Tabus und Verboten, war es gerade dem zwischen 1990 und 2000 geborenen Publikum kaum möglich, je überhaupt an einem Bühnengeschehen teilnehmen zu können. Für diese Generation gab es kein Amateurtheater, keine Möglichkeit eines Freiraums, keine Förderung, was weder Kulturvermittlern noch den Leitern kultureller Institutionen, selbst Fachleuten des iranischen Theaters bewusst war oder in ihre Verantwortung zu fallen schien.
Und wieder wütet bei diesen Protesten auch der Mob auf Seiten der Regierung und an der Seite der Polizei gegen die Protestierenden, aggressiv und ohne Verantwortung, wie schon vor hundert Jahren in Zeiten der despotischen Schahs. Vor ihren Augen erobern Bürgerinnen und Bürger die Straße mit Parolen und aktivistischen Performances, die auf keiner Bühne geduldet wären. Sie bringen die Politik direkt auf die Straße, als die einzige Arena, in der Menschen als Menschen auftreten können. Gerade für das Theater ist das ein Schock. Nie wieder wird es nach diesen Ereignissen von seinem Publikum verlangen können, sich zensierte Stücke und Körper in einem Theater anzusehen. Die Bühnen werden gezwungen sein, ihre Einstellung zur Gesellschaft und die Form und Art der Aufführung neu zu erfinden.
Es ist ein Zeichen für ein Ende und zugleich für einen Anfang. Wer heute die Proteste von Frauen und Jugendlichen im Iran und die Freiheit als Chaos bezeichnet, kehrt wissentlich oder unwissentlich zu einem Missverständnis über die Rolle des Theaters von vor 117 Jahren zurück. Aber es gibt Gerüchte: Die Beziehung zwischen Publikum und Theater wird sich verändern, neue Räume werden sich öffnen für menschliche Körper, politische Körper, soziale Körper, natürliche Körper, urbane Körper, moralische Körper, denkende Körper, poetische Körper, technologische Körper, stille Körper, sprechende Körper … für einen freien, für sich selbst verantwortlichen Kulturkörper.