Der Mann im Rock

Lukas Avendaño in seinem Solo "Requiem für einen Alcaravan"

Mario Patino Sanchez

Lukas Avendaño ist ein Indigener, ein Mexikaner, frei genug, anders zu denken und zu handeln, als es westliche Normen vorschreiben. Als Künstler leistet er Widerstand, durch Tanz, mit politischen Inszenierungen und seinem nackten männlichen Körper. Das ruft Bewunderung, Wut und Ablehnung hervor – als hätte die Welt Angst davor, in Frieden und Freiheit unterzugehen

Kulturvermittler und Journalist aus Guadalajara

„Lemniskata“ heißt sein jüngstes Stück – benannt nach einer geometrischen Kurve in Form einer liegenden Acht. Das Konzept, die Regie, die Choreografie stammen von Lukas Avendaño. Soeben, im Oktober 2022, entstand in Mexiko sein jüngster Streich. Bereits im Dezember kommt er damit nach Europa, nach Hamburg auf Kampnagel, und im Juni 2023 zum Holland Festival nach Amsterdam. „Lemniskata“, das sind 14 nackte Männer. Erst liegen sie auf dem Bühnenboden, später tanzen sie in einem Spinnennetz, in einem Trapez, auf doppeltem Boden, und dann wird es bodenlos. Da erst, im Finale, spielt Lukas Avendaño auf traditionelle, indigene Tänze Mittelamerikas an. Es sind Tänze, die den Körper erschüttern, wachrütteln, aufrütteln. Es sind ursprünglich kriegerische Tänze mit ebensolchen Botschaften, Tänze, in denen es um das Überleben geht und damit um das Wesentliche: um das Sein. Es sind getanzte Rituale, sicher heilig, ganz sicher archaisch. Alte Tänze einfach in die Gegenwart zu übertragen, aus einer Welt, die sich einst der Natur gestellt hat, in eine Welt, die dem Unbill der Zivilisation ausgesetzt ist, ist das nicht ein Verrat?

Lukas Avendaño trägt Frauenkleider. 1977 ist er in Oaxaca im Südwesten Mexikos geboren. Gut 250 Kilometer südlich der Stadt liegt Tehuantepec. Hier fand er seine ethnischen, künstlerischen und kulturellen Wurzeln. In dieser ländlichen, abgelegenen Gegend lernte er von Gebräuchen und Sitten der indigenen Gemeinschaft, die sich oft als demokratischer und lebensfähiger erweisen, als die Gesetze und Vorschriften der so genannten Zivilgesellschaft in Mexiko. Es gibt zwar eine politische Verfassung aller Mexikaner, aber sie wird so systematisch verletzt, dass man fast glauben möchte, es gäbe keine Verfassung.

Das Wissen um seine eigene zapotekische Herkunft, als Muxe, hat ihm Klarheit verschafft. „Muxe“ ist traditionell die Bezeichnung für einen Mann, der weibliche Ambitionen hat. Von klein an wurde er gefragt: „Warum ziehst du dich so an?“; „Warum hast du lange Haare?“; „Warum malst du dich an wie eine Frau?“ – „Weil es mir gefällt“, gab er zur Antwort. Der notorische Rockträger musste jedoch keine Antworten finden, um die Neugier anderer zu befriedigen, sondern um sich selbst zu verstehen.

Dabei ist es in Mexiko durchaus üblich, sich auf einer Gala oder zu besonderen Anlässen stolz als Tehuana zu kleiden; als Ureinwohner von Tehuantepec. Tehuana, das Wort meint zugleich einen Rock, die typische Tracht der Frauen. Für alle Nicht-Ureinwohner ist ein Rock, den der Mann trägt, eine Verhöhnung des Mannes, mindestens aber ein Widerspruch. Lukas Avendaño liebt Widersprüche. Er als Tehuana, der die Welt bereist, von Veracruz nach Chiapas, von Mexiko-Stadt in die Vereinigten Staaten und nach Europa, ist ein Gebildeter, ein Studierter, ein Anthropologe, und damit einer, der die Gesamtheit der Wissenschaften betrachtet, um biologische, kulturelle und soziale Aspekte des Wesens Mensch zueinander in Beziehung zu setzen. Zugleich ist er ein Tänzer, der Werke wie „No soy persona, soy mariposa“ (“Ich bin kein Mensch, ich bin Schmetterling”) oder „Réquiem por un alcaraván“ (gemeint ist ein Vogel , ein Triel) geschaffen hat. Eine gebildeter, tanzender Rockträger also.

Lukas Avendaño liebt die Schärfe und die Relevanz. Das liegt auch an Mexiko. Das Land befindet sich in ständigem Aufruhr. Es wird von allen nur denkbaren Formen der Gewalt heimgesucht und ist in sich gespaltener denn je. Kritik und Kunst drohen zu verschwinden. Beides ist für dieses in sehr arm und sehr reich gespaltene, in weit oben und tief unten, extrem rechts und weit links getrennte Mexiko zu verwirrend. Entsprechend knapper wird das Publikum. „Steht die Kunst in Frage, steht die Ethik in Frage“, wird mir Lukas Avendaño später sagen.

Dem Anthropologen geht es um ein künstlerisches Werkideal, archaisch und modern zugleich. Vor allem eine klare Formensprache ist ihm wichtig. Fündig wurde er bei den Archetypen ursprünglicher Völker, den Kulturen der Maya, Zapoteken oder Nahua – so historisch entfernt sie auch sind.

„Sentimentar“

Als wir uns treffen, war Lukas Avendaño gerade wochenlang über Land gezogen, zu Gemeinden im Bundesstaat Jalisco an der Pazfikküste. Er traf Ureinwohner in Tonalá, in Mezcala, Amatitán, Acatic, Zapotlán und Tuxpan. Er interviewte Dutzende von Dorfbewohnern und machte dabei eine Entdeckung, die er nicht das Ergebnis einer Recherche im üblichen Sinne nennen würde: „Ich würde nicht einmal zu sagen wagen, dass ich gründlich recherchiert habe. Ich habe zugehört. Ich habe in den Gesprächen auf alles geachtet, auf Symbole und Zeichen und dabei eine Tiefe in diesen Menschen entdeckt, die ich ihre Verwurzelung nennen würde.“

War hier der Anthropologe oder war hier der Künstler Lukas Avendaño unterwegs? Der Anthropologe hätte eine dokumentarische Feldforschung veranlasst, die ihn und ein Team von Mitarbeiter:innen auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse zu Hypothesen geführt hätte, die sie entweder beweisen oder widerlegen würden. Die künstlerische Ader diktiert hingegen andere Regeln. Es ging ihm um den Ton, den emotionalen Gehalt der geführten Gespräche. Seine Methode nennt er „Sentimentar“:

Jaime Martin

Eduardo Lozano

Als ich die Leute zum Gespräch bat, fragten sie mich, was ich wissen wolle, und ich antwortete, dass ich nicht wissen, sondern fühlen wolle”. Man ließ ihn gewähren, sie sprachen miteinander und Avendaño hörte zu, hörte die Stimme des Gegenübers, in der ein Kollektiv mitschwang, nicht nur die persönliche Erfahrung und Ansicht; er hörte den Menschen als Vielzahl, seine Einflüsse durch andere, seine Fähigkeit, als ein „Ich“ immer zugleich ein „Wir“ und damit auch eine andere Meinung, eine andere Stimme mit meinen zu können. Wir sind nicht Einzahl, wenn wir sprechen. Wir sind Mehrzahl.

„Sentimentar“, sagt Avendaño, sei ein Prozess, „bei dem wir an die Türen der Wahrnehmung klopfen, so dass das Wesen des Gegenübers herauskommt.“ Beide, Sprecher und Hörer, konstruieren gefühlt eine Vorstellung dessen, worüber sie reden oder hören. Lukas Avendaño stellte fest: „Je dabei weniger Fragen gestellt und Antwort gegeben werden, desto besser. Es entfallen die Erwartungen, die eine Frage formuliert, und die Erwartungen an eine Antwort. Sich zu unterhalten, ist frei davon. Man erzählt, statt Rede und Antwort zu stehen. So einfach diese Wahrheit ist, so kompliziert scheint es, freischwebend reden zu können.“

Avendaño hat versucht, Gesprächspartner zu finden, die nicht derselben Gemeinschaft angehören. Schon nach kurzer Zeit wurden sie Partner auch ohne gleiche Interessen, gleiche Herkunft, gleiche Erfahrungen. Er stellt fest, wenn Menschen keine Mitteilung machen, sondern sich mit-teilen, ihr Wissen, ihren Glauben, ihre Mythen oder Legenden, dann funktioniert menschliche Kommunikation auch ohne Hierarchie.

Probieren wir es auch selber aus. Lukas Avendaño und ich gehen spazieren. Es ist ein sonniger Nachmittag, ein Gang über gepflasterte Straßen. Wir bleiben stehen, wo erfrischender Schatten lockt. Eine ältere Person mit brauner Haut sitzt dort und klärt Lukas Avendaño darüber auf, wie die Haut von Lukas in ein paar Jahren aussehen wird. Wie seine eigene. Der Alte ist Zeuge einer anderen Zeit, Mitte des letzten Jahrhunderts, als sein brauner Teint und seine indigenen Gesichtszüge noch eine Quelle der Scham waren, nicht des Stolzes. Damals sprach man darüber nicht. Man gehörte zu denen, die nichts sagten und folglich nicht da waren. Die Stummen wurden übersehen, die Übersehenen blieben stumm. Der mexikanische Nationalismus übersah die eigene Vielfalt und beeilte sich, als Einheit bestens mit heller Haut einen Synkretismus zu bilden, ein modernes Staatswesen, ein Mexiko, das nur zu denen und mit denen sprach, die sich dieser modernen Kultur zugehörig fühlten.

Dazugehören und Zuhören sind seither für Lukas Avendaño zwei grundverschiedene, sogar gegensätzliche Dinge. Für ihn ist das Gehen, Sprechen und „Fühlen“ ein Gegenmittel zu dieser Spaltung. „Wer gehört zu wem?“ ist das Gegenteil von „Wer hört wem zu?“ Mit ihm durch die Stadt zu schlendern, ist, als würde man den Unerhörten zuhören. Für ihn fühlt sich das Zuhören an, als würde man „eine Puppe zum Leben erwecken“.

Eduardo Lozano

Als wir den alten Mann im Schatten verlassen, erzählt Lukas Avendaño weiter von seiner Reise durch die Dörfer des Bundesstaats Jalisco am Pazifik, erzählt, wie sie in einem Kulturzentrum in Tuxpan eine „Batea“ fanden, ein prähispanisches Gerät, das aus einer rechteckigen Steinplatte und einer Walze besteht, mit dem Mais gemahlen wird. Sie fragten nach dem Namen der Maschine, denn es war keine Batea, wie man sie kennt. „Güilacha“ heißt sie, wurde ihnen beschieden. Sie sei ausschließlich für den Gebrauch durch Frauen bestimmt.

Lukas Avendaño erstaunte das Wort „Güilacha“. Drüben, im Westen Mexikos, auf der Atlantikseite, werden mit dem Wort „Güila“ Huren, Prostituierte oder Frauen mit mehreren Partnern bezeichnet. Der Name der Maschine verrät also alles über die zugedachte Aufgabe des weiblichen Geschlechts: Es soll Nahrung ernten und zubereiten inklusive jener Unterwerfung, die die Frau zu einem Werkzeug für die Arbeit am Boden mit gesenktem Blick erniedrigt. Dazu passt das noch heute übliche Attribut der mexikanischen Mutter: aufopferungsvoll, langmütig und resigniert zu sein.

Mario Patino Sanchez

„Mujerismo“ nennt Lukas Avendaño das Gegengift. Er empfiehlt es gegen all die üblichen, hispanischen Bezeichnungen wie „puto“ (Ficker), „joto“ (Tunte) oder „gay“ (Schwuler). „Mujerismo“ findet vor allem in der  LGBTQIA+-Community Anklang, als Gegenkonzept zum allgegenwärtigen „Machismo“. Nur für den Durchschnittsmexikaner ist „Mujerismo“, „Weiblichkeit“, schwer zu akzeptieren. Noch schwerer ist für ihn nur der Anblick eines nackten Mannes. Das ist schlimmer als der einer nackten Frau.

Lukas Avendaño stellt 14 nackte Männer auf die Bühne von „Lemniskata“. So ästhetisch der Anblick ist, so schamlos und durch die Choreografie des Gleichklangs die Körper auch sehr genießbar sind, sie bleiben dennoch … physisch, intellektuell und moralisch … ein kulturelles Schlachtfeld. Den nackten Mann als ein unwürdiges Wesen verkehrt „Lemniskata“ in ein ästhetisches Ereignis. Dennoch weiß Lukas Avendaño: Eine Stunde Tanzperformance kratzen kaum an den mehr als fünf Jahrhunderten Geschichte Mexikos und jenes Völkermords an mehr als 50 000 Menschen bei Ankunft der Spanier in einem Land, das den Europäern bis 1492 unbekannt war. Damals trafen sie auf lauter „nackte Männer“. Für Lukas Avendaño kann der nackte Mann ein „Risiko, nein, eine Chance” sein, um Ästhetik und Ethik wieder in ein Lot zu bringen.

„Ich glaube, dass die Ästhetik irgendwann ein Ausdruck von Ethik war“, sprudelt es aus ihm heraus, „Ich weiß nicht, wann das Ethische begann, sich zu von der Ästhetik distanzieren, oder umgekehrt, nicht nur in der Kunst, sondern auch im Alltag. Der Zerfall dieses Landes ist eine Krise der Ethik. Die humanitäre Krise, die wir heute erleiden, ist auch eine Krise der Ästhetik“, sagt Avendaño.. „Natürlich muss die Kunst antworten auf Gewalt, Diskriminierung oder eine hegemoniale Ordnung – aber kaum tut sie es, wird die Kunst als protestierend, militant und politisiert bezeichnet, als wäre Kunst etwas Negatives.“

Avendaño beschwichtigt ein wenig: „Ich bin jetzt kein Aktivist. Ich bin ein Befürworter. Meine Praxis ist nicht die der ideologischen Voreingenommenheit, sondern ein Akt des Ungehorsams gegen jede unmenschliche Ordnung. Ich verweigere mich aus Gewissensgründen gegen jede Form von Unmenschlichkeit.“ Er sagt dies als Mann, und, was mehr wiegt, als „Muxe“, als Mann, der in seiner zapotekischen Kultur in persönlichen, sozialen oder auch sexuellen Bereichen weibliche Rollen übernimmt. Der Mann im weiblichen Rollenbild ist mitnichten ein Sonderfall, nicht mal in Mexiko, schon gar nicht in dieser Welt. Millionen von ihnen werden aufgrund ihrer weiblichen Seite zur Zielscheibe. Sie werden diskriminiert, von rassistischen und klassistischen Angriffen ganz zu schweigen. Das geschieht allerdings umso brutaler, je tiefer der Machismo verwurzelt ist.

Die Reise im Archetyp

„Gott schuf sie alle, und allein kommen sie zusammen“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Es meint, dass Menschen stets nur die treffen, die ihnen körperlich, geistig und räumlich ähnlich sind. Es entstehen Gemeinschaften, die sich als verschieden von anderen verstehen. So erwachsen tausende Schicksalsgemeinschaften, Kriegsveteranen, Schwule, Opfer häuslicher Gewalt und Spätgebärende – und niemandem gelingt es, über deren Schutzwälle der Distinktion hinweg zu kommunizieren.

Auch die Männer in „Lemniskata“ sind im Grunde eine solche Community. Sie ist erst im Lauf der Zeit gereift. Anfangs war es ein Butoh-Tanz-Workshop in einem Studienzentrum im Süden Mexikos. Man tanzte, diskutierte, ging auf die Bühne und traf sich bei Bier, Tequila und Mezcal. Einer von ihnen ist Ismael Rodríguez. Er wurde 1983 in Campeche geboren, ein transdisziplinärer Künstler, Performer und Architekt, der in Indien soeben als „Craft Designer of the Year 2022“ ausgezeichnet wurde. Rodríguez und Lukas Avendaño stellten schnell gemeinsame Interessen fest: Neben der Kunst und Kultur des Körpers setzen sich beide mit den Wurzeln und den Bräuchen indigener Völker auseinander. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf jenen alten, indigenen Sitten, die heute gegen die Norm zu verstoßen scheinen.

Zwischen Ismael Rodríguez und Lukas Avendaño entstand eine Komplizenschaft. Beide suchen hartnäckig nach Informationen über sich verlierende Kulturen und erforschen dokumentarisch die mündlichen Überlieferungen, auch in Guatemala, Ecuador, Brasilien und China. Gerade das Fremde und Andere der alten Traditionen fasziniert sie: der andere Umgang mit Ressourcen und Nahrung, der andere Umgang miteinander, der andere Umgang mit Objekten. All das inspiriert auch die Kunst. Das Gebiet der Kunst ist – wenn man es auf einen Punkt bringen will – der Umgang mit Archetypen, also stabilen Formen und Bedeutungen, die sich dennoch ständig ändern, um von Generation zu Generation die Fragen nach Identität, Gewalt, Unendlichkeit, Mutterschaft neu auszuloten,

In der Nahua-Kultur gibt es dafür sogar eine Instanz, „Xipe Tótec“ genannt, wörtlich „die Häutung“. Gemeint ist eine Art Wiedergeburt, „eine sich häutende Schlange oder eine Frau, die sich im Moment der Geburt regeneriert, wie es präkolumbianische Skulpturen von gebärenden Frauen zeigen“, sagt Ismael Rodríguez. Auch Männer können sich häuten, erneuern, das Bild ihrer Männlichkeit neu definieren und ihr eine neue Form und Bedeutung geben.

„Wenn ich das so sagen darf: ‘Lemniskata’ ist für mich eine choreografische Konstruktion, um den Körper aus dem Ort zurückzuholen, der historisch verleugnet wird“, raunt Lukas Avendaño. War der Mann immer nur der geharnischte Kämpfer? Der Despot im Haushalt? Auch die Wiederentdeckung des „anderen Mannes“ wäre eine Wiedergeburt, eine Häutung. Was liegt näher, als den Akt einer solchen Häutung ganz archaisch durch nackte Haut zu zeigen?

Eine solche Metamorphose erinnert ihn an den evolutionären Prozess der Puppe, die zum Schmetterling wird. Das bei Lukas Avendaño immer wieder verwendete Motiv des Schmetterlings gab auch den Titel seines Stücks „Ich bin keine Person. Ich bin Schmetterling“ von 2017. Sich als Schmetterling zu bekennen, um Grenzen zu überschreiten, war bei ihm immer schon begleitet vom Charme des Exhibitionistischen und dem Wunsch, sich im Spiel mit dem Begehren Komplizen zu schaffen.

Ein solcher Komplize ist auch Dego Martínez aus Guadalajara, ein 1985 geborener Klangkünstler, der die Klänge der alten „Mariachi“ aus dem Bundesstatt Jalisco freilegen und retten will. Alle Welt kennt die berühmten Mariachi-Bands mit ihren Streichinstrumenten und den riesigen Sombreros – weltweit das musikalische Symbol Mexikos schlechthin. Die Mariachis kommen angeblich aus Cocula, ihre Konkurrenz, die Bands der Sones, aus Tecalitlán. In Wahrheit sei beider Musik in Acatic entstanden, einer Stadt im Nordosten des Bundesstaats Jalisco. Der heute repräsentativste Sänger solch volkstümlicher Musik heißt Jorge Negrete. Bei ihm gibt es Trompetenbegleitung. Die Mariachi hatten nie solche Instrumente, die als „bronces“ bekannt sind (so nennt man die Trompeten beim Militär). Es waren, so Martínez, Ensembles von Streichern und Perkussionisten, und die Musiker waren in Decken gehüllt und trugen Huaraches genannte Sandalen, nicht jedoch die heute bekannten gold- oder silberbestickten Kostümen, die eher dem „traje de luces“, der „leuchtenden“ Tracht der spanischen Stierkämpfer ähneln.

Mexiko, geht es nach Dego Martínez, will sich selbst freilegen, die sie bedeckenden spanischen Einflüsse beiseite schlagen wie eine Bettdecke. Das funktioniert am ehesten durch Recherche. Dego Martínez sieht seine Verwandtschaft mit Lukas Avendaño so: „Wir sind durch die gleiche Zeit gegangen, ohne uns zu kennen. In meinem Fall suche ich nach Geräuschen und Musik. Bei unserem Treffen entstand eine Synergie, die sich wie in einem Kreis ausdrückt, der vom Traditionellen zum Zeitgenössischen und zurück führt. Dabei geht es oft um die Frage, wie präkolumbianische Instrumente verwendet werden, wie man mit ihnen komponiert, welche Klangfarben man erzeugen sollte und welche nicht, ob man sich diesen Instrumenten mit einer westlichen Ästhetik nähert oder mit einer Ästhetik, die von unserer akademischen Musikausbildung durchdrungen ist“. Zusammen mit Musikern aus Acatic leitet Dego Martínez auch das Projekt Tecuexe Band, das traditionelle Mariachi-Akkorde mit zeitgenössischen Klängen mischt.

Es ist eine Clique also, die sich trifft, um aus der Tradition zeitgenössische Archetypen zu entwickeln, die beispielhaft die Identität der Musik, des Mannes und die eigene Kultur gerade dadurch neu definieren, in dem sie der Tradition auf den Grund gehen. Sie wollen Archetypen neu erschaffen und mit ihrer Kunst die Prototypen erzeugen, die schon vor der Moderne, vor dem Kolonialismus, vor dem Kapitalismus Bestand hatten.

Körper und Widerstand

Dabei geht es ihnen auch um eine Phobie, um die Phobie vor dem Fremden. Es können Menschen aus anderen Kulturen gemeint sein, ebenso gut auch diejenigen mit einem anderen Glauben, mit einer anderen Ordnung, mit anderen Gesetzen. Interessant werden Phobien vor allem dann, wenn sie sich gegen die eigenen Interessen wenden. Wenn Männer eine Phobie vor dem männlichen Körper entwickeln, basiert sie nicht etwa auf einem biologischen Schutzmechanismus, sondern es ist eine kulturell angezüchtete Angst, die die Konkurrenz der Männer untereinander gewährleistet. Es gibt, gerade auf dem amerikanischen Kontinent, eine tief ausgeprägte Phobie vor Kommunisten, Sozialisten und Anarchisten – obwohl diese Organisationsformen bei den ursprünglichen Völkern wie in Oaxaca im Süden Mexikos gang und gäbe ist, auch schon in Zeiten, als es den Kapitalismus noch gar nicht gab.

Für Lukas Avendaño wirkt sich die Phobie vor allem auf zwei grundlegende Dinge aus: auf den eigene Körper und auf das ihn umgebende Territorium. Mein Land, mein Körper – beides drängt auf das Recht auf Unversehrtheit. Beides soll geschützt sein. Was einst in der Gemeinschaft beschützt worden ist, schützt heute das Recht. Es schützt, wenn Exekutive und Politik dazu in der Lage sind, auch den Körper und das Territorium vor der Gemeinschaft.

Avendaño ist überzeugt, dass es einen Mechanismus zur Kontrolle von Körpern gibt, den Michel Foucault die „Mikrophysik der Macht“ genannt hat. Der Körper und seine Erweiterung, das Territorium, beides wird verteidigt. Also gibt es Widerstand. „Mir ist wichtig, auch umgekehrt den eigenen Körper als eine Erweiterung des physischen Territoriums zu erkennen. Über beides wollen andere Gewalt haben“, sagt er.

„Land und Freiheit“, rief Emiliano Zapata 1910, als er zur mexikanischen Revolution mit bewaffneten Mitteln die Rechte für die Indios einforderte. Zu seiner Zeit gab es keine Demokratie, keinen Dialog, auch keinen anderen Ausweg. Nur hat sich an ihrer Situation wenig geändert. Auch nicht 1994, als mexikanische Technokraten und Wirtschaftsführer nach der Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada erhofften, nicht mehr an der Schwelle zur „Ersten Welt“ zu stehen, obwohl die Bevölkerung in den Städten, vor allem aber auf dem Land mit extremer Armut und rechtlicher Ungleichbehandlung zu kämpfen hat.

Die mexikanische Revolution 1910 hatte manches zum Besseren gewendet: den Schutz der Bauern, ein Recht auf Land zum Säen und Ernten, das Recht auf Nießbrauch zum Schutz vor reichen Großgrundbesitzern. All diese Reformen halfen den indigenen Völker aber nur wenig. Im Jahr 1994, dem Jahr des Freihandelsabkommens, entstand auch die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, die mindestens ein weiteres Jahrzehnt lang die Indigenen, ihre Situation, ihre Bedürfnisse und ihre Forderungen aktiv ins Rampenlicht rückte. Keine Frage, Lukas Avendaño sympathisiert mit dieser Bewegung, die ihm vor allem eins zeigt: Niemand ist alleine:

„In den Gemeinden von Oaxaca herrschen kommunistische Praktiken. Aufgrund des Verhältnisses zum Landbesitz waren die Bewohner schon immer antikapitalistisch. Es gibt kein Eigentum in den 570 Gemeinden von Oaxaca: Es ist in der Regel kommunales Eigentum, sehr pragmatisch aus Widerstand gegen die Großgrundbesitzer“, sagt er.

So, wie ein Territorium der Kommune gehören kann, um es zu verteidigen, bedarf auch der Körper einen Schutz. Im Theater ist es die Bühne. Selbst in seinen Solo-Shows arbeitet Avendaño kollektiv und kollegial. So hat er es gelernt in der Gemeinde, aus der er stammt. Niemand ist alleine, es sei denn, es existiert eine Macht, die sie trennt, eine Macht, die Zwietracht sät, die Menschen separiert, einsperrt, verjagt. Choreografie, für Lukas Avendaño, denkt Raum und Widerstand in eins. Kollektive Körperbewegungen treffen auf Kunst und Klang. Alle zusammen auf der Bühne stellen sich der öffentlichen Diskussion und Debatte. So lautet das Ideal.

Aber auch eine Gemeinschaft ist nur singulär. Sie kann nicht leben ohne die anderen, ohne von und vor anderen geschützt zu werden. Ein Territorium, und sei es einfach eine Bühne, kann nie von nur einem Ensemble beschützt werden. Aber es ist die Tradition selbst, überhaupt über ein Theater zu verfügen, die dazu führt, es zu schützen. „Kein Theater, auch kein Widerstand, kann sich nur durch diejenigen finanzieren, die Theater spielen oder Widerstand leisten“, sagt Avendaño. „Es scheint mir ein Ursprungsfehler zu sein, zu glauben, dass man ein Territorium, ein Theater, eine Gemeinschaft durch die Gemeinschaft selbst schützen kann.“ Genau das hatte schon 1910 Emiliano Zapata gewusst.

Lukas Avendaños Notizbücher und Skripte sind voll solcher Gedanken. Jeder Schritt auf der Bühne, die Figuren des Tanzes, wie zeitgenössisch sie auch sein mögen, verweisen bei ihm auf Verwurzelung und Identität. In seinen Notaten stehen Sätze wie: „Man geht auf die Bühne, um das zu beanspruchen, was einem gehört und einem zusteht.“

Bruchstelle

„Bruno Alonso Avendaño Martínez verschwand am 10. Mai in Tehuantepec, Oaxaca“. Dieser Satz steht auf dem Twitter-Profil von Lukas Avendaño. Er ist ein Ereignis, das sein Leben geprägt hat. Bruno, sein Bruder, ist 2018 verschwunden, wahrscheinlich als Opfer eines Verbrechens. Dreißig Monate später wurde er tot aufgefunden. Keiner wurde verantwortlich gemacht. Gerechtigkeit wird Bruno nicht mehr erfahren.

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Offizielle Zahlen besagen, dass allein in den letzten drei Jahren mehr als 31 000 Menschen in Mexiko verschwunden sind. Die Angehörigen der Verschwundenen sind ebenfalls Opfer, ihre Zahlen werden in den Statistiken nicht berücksichtigt. Sekundäre Opfer entsprechen nicht den Protokollen. Aber es sind gerade die Hinterbliebenen, die oft schneller als die Behörden die Leichen finden – eine Aufgabe, die hauptsächlich Frauen, oft Mütter, übernehmen.

„Wir sprechen von Verschwundenen, als ob Menschen einfach so verschwinden könnten. Verschwinden, dieser Euphemismus ist doch Teil des Problems. Dass Menschen in Mexiko einfach ‘verschwinden’ können …“, sagt Lukas Avendaño, malt Anführungszeichen in die Luft und holt noch weiter aus: „Das zeigt sich auch im Verschwinden der indigenen Völker. Auch sie werden zu ‘Verschwundenen’ erklärt. Es verschwinden ihre Sprachen“. Warum? Avendaños Trauer und Entsetzen kippt um in Wut: „Wer hat denn etwas vom Verschwinden der mehr als 60 indigenen Gruppen im Land? Nur eine nationalistische Politik hätte etwas davon, um die Geschichte dieses Landes zu homogenisieren: Indigene dienen nur noch dazu, eine bloße Inszenierung von Kultur zu sein, weil indigene Völker die Geschichte des Landes nun einmal repräsentieren. In Wahrheit aber werden sie vollständig assimiliert. Ich nenne es einen Krieg von niedriger Intensität. Dieser wird selektiv und systematisch gegen die Ureinwohner geführt und dauert schon sehr lange an. Man kann eine ethnische Kultur, das kulturelle Geschlecht nicht einfach so verschwinden lassen. Man lässt sie vor allem physisch verschwinden. Verblassen. Man erkennt dann vielleicht hier und da noch einen Dialekt, eine Hautfärbung, eine bestimmte Eigenheit, aber die Gemeinschaft selbst wird ausgelöscht. Sie ist verschwunden, sie nennen es ‘assimiliert’. Das ist es, was mit uns geschieht“.

So gibt es den Widerstand von Dutzenden von Völkern, die sich wehren im Kampf zur Verteidigung ihrer Rechte auf Selbstbestimmung. Es ist auch das Hauptanliegen im Werk von Lukas Avendaño. Er wehrt sich gegen das Verschwinden. In seinen Augen ist es ein Auslöschen der indigenen Vergangenheit, um sie zu vergessen oder sie so zu verhöhnen, dass die Nachkommen sie verleugnen werden.

In Mexiko kommt noch ein wesentliches Phänomen hinzu: die Narkokultur. Was machen Entwurzelte? Was machen Menschen, deren Vergangenheit für abgeschlossen erklärt worden ist? Sie suchen neue Gemeinschaften – und werden aufgenommen durch das organisierte Verbrechen, einer Schutzmacht aus Gewalt und Machismo, die wie eine Parallelregierung über eine wirtschaftliche enorme Macht und Feuerkraft verfügt, um selber Regeln zu formulieren und bestehende Gesetze aushebeln zu können.

Aber nicht diese Gemengelage brutal miteinander konkurrierender Mächte sind das Anliegen von Lukas Avendaño: „Ich betrachte meine Arbeit viel mehr als eine Mitverantwortung für die Bürgerschaft. Es gibt nicht nur eine Verantwortung für das, was ich selbst tue. Es gibt die Mitverantwortung für die Bürgerschaft, für die öffentlichen Bediensteten, auch für denjenigen, der die Straßen fegt. Fegt er sie nicht, passieren Unfälle. Er hat also eine ethische Verantwortung. Die hat auch derjenige, der im öffentlichen Dienst arbeitet. Nimmt er seine Verantwortung nicht an, bekommt der öffentliche Dienst Risse und fällt schneller in sich zusammen als er selber noch einen Vorteil daraus ziehen kann. Ich glaube an die ethische Verantwortung. Sie ist identisch mit der Verantwortung, die man als Künstler trägt. Auf der Bühne trage ich die Verantwortung für das, was das Publikum erlebt. Ich bin verantwortlich für die ästhetische Erfahrung. Zur Kunst wird diese Erfahrung immer erst, wenn sie diese Verantwortung mittransportiert.“ Will sagen: Lasst uns allein deshalb nicht länger denen zuhören, die einen Nutzen aus ihrem Handeln ziehen wollen, den Wirtschaftsbossen oder Politikern. Lasst uns den Künstlern zuhören.