Dabei geht es ihnen auch um eine Phobie, um die Phobie vor dem Fremden. Es können Menschen aus anderen Kulturen gemeint sein, ebenso gut auch diejenigen mit einem anderen Glauben, mit einer anderen Ordnung, mit anderen Gesetzen. Interessant werden Phobien vor allem dann, wenn sie sich gegen die eigenen Interessen wenden. Wenn Männer eine Phobie vor dem männlichen Körper entwickeln, basiert sie nicht etwa auf einem biologischen Schutzmechanismus, sondern es ist eine kulturell angezüchtete Angst, die die Konkurrenz der Männer untereinander gewährleistet. Es gibt, gerade auf dem amerikanischen Kontinent, eine tief ausgeprägte Phobie vor Kommunisten, Sozialisten und Anarchisten – obwohl diese Organisationsformen bei den ursprünglichen Völkern wie in Oaxaca im Süden Mexikos gang und gäbe ist, auch schon in Zeiten, als es den Kapitalismus noch gar nicht gab.
Für Lukas Avendaño wirkt sich die Phobie vor allem auf zwei grundlegende Dinge aus: auf den eigene Körper und auf das ihn umgebende Territorium. Mein Land, mein Körper – beides drängt auf das Recht auf Unversehrtheit. Beides soll geschützt sein. Was einst in der Gemeinschaft beschützt worden ist, schützt heute das Recht. Es schützt, wenn Exekutive und Politik dazu in der Lage sind, auch den Körper und das Territorium vor der Gemeinschaft.
Avendaño ist überzeugt, dass es einen Mechanismus zur Kontrolle von Körpern gibt, den Michel Foucault die „Mikrophysik der Macht“ genannt hat. Der Körper und seine Erweiterung, das Territorium, beides wird verteidigt. Also gibt es Widerstand. „Mir ist wichtig, auch umgekehrt den eigenen Körper als eine Erweiterung des physischen Territoriums zu erkennen. Über beides wollen andere Gewalt haben“, sagt er.
„Land und Freiheit“, rief Emiliano Zapata 1910, als er zur mexikanischen Revolution mit bewaffneten Mitteln die Rechte für die Indios einforderte. Zu seiner Zeit gab es keine Demokratie, keinen Dialog, auch keinen anderen Ausweg. Nur hat sich an ihrer Situation wenig geändert. Auch nicht 1994, als mexikanische Technokraten und Wirtschaftsführer nach der Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada erhofften, nicht mehr an der Schwelle zur „Ersten Welt“ zu stehen, obwohl die Bevölkerung in den Städten, vor allem aber auf dem Land mit extremer Armut und rechtlicher Ungleichbehandlung zu kämpfen hat.
Die mexikanische Revolution 1910 hatte manches zum Besseren gewendet: den Schutz der Bauern, ein Recht auf Land zum Säen und Ernten, das Recht auf Nießbrauch zum Schutz vor reichen Großgrundbesitzern. All diese Reformen halfen den indigenen Völker aber nur wenig. Im Jahr 1994, dem Jahr des Freihandelsabkommens, entstand auch die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, die mindestens ein weiteres Jahrzehnt lang die Indigenen, ihre Situation, ihre Bedürfnisse und ihre Forderungen aktiv ins Rampenlicht rückte. Keine Frage, Lukas Avendaño sympathisiert mit dieser Bewegung, die ihm vor allem eins zeigt: Niemand ist alleine:
„In den Gemeinden von Oaxaca herrschen kommunistische Praktiken. Aufgrund des Verhältnisses zum Landbesitz waren die Bewohner schon immer antikapitalistisch. Es gibt kein Eigentum in den 570 Gemeinden von Oaxaca: Es ist in der Regel kommunales Eigentum, sehr pragmatisch aus Widerstand gegen die Großgrundbesitzer“, sagt er.
So, wie ein Territorium der Kommune gehören kann, um es zu verteidigen, bedarf auch der Körper einen Schutz. Im Theater ist es die Bühne. Selbst in seinen Solo-Shows arbeitet Avendaño kollektiv und kollegial. So hat er es gelernt in der Gemeinde, aus der er stammt. Niemand ist alleine, es sei denn, es existiert eine Macht, die sie trennt, eine Macht, die Zwietracht sät, die Menschen separiert, einsperrt, verjagt. Choreografie, für Lukas Avendaño, denkt Raum und Widerstand in eins. Kollektive Körperbewegungen treffen auf Kunst und Klang. Alle zusammen auf der Bühne stellen sich der öffentlichen Diskussion und Debatte. So lautet das Ideal.
Aber auch eine Gemeinschaft ist nur singulär. Sie kann nicht leben ohne die anderen, ohne von und vor anderen geschützt zu werden. Ein Territorium, und sei es einfach eine Bühne, kann nie von nur einem Ensemble beschützt werden. Aber es ist die Tradition selbst, überhaupt über ein Theater zu verfügen, die dazu führt, es zu schützen. „Kein Theater, auch kein Widerstand, kann sich nur durch diejenigen finanzieren, die Theater spielen oder Widerstand leisten“, sagt Avendaño. „Es scheint mir ein Ursprungsfehler zu sein, zu glauben, dass man ein Territorium, ein Theater, eine Gemeinschaft durch die Gemeinschaft selbst schützen kann.“ Genau das hatte schon 1910 Emiliano Zapata gewusst.
Lukas Avendaños Notizbücher und Skripte sind voll solcher Gedanken. Jeder Schritt auf der Bühne, die Figuren des Tanzes, wie zeitgenössisch sie auch sein mögen, verweisen bei ihm auf Verwurzelung und Identität. In seinen Notaten stehen Sätze wie: „Man geht auf die Bühne, um das zu beanspruchen, was einem gehört und einem zusteht.“