Land ohne Staat

Im politischen Zentrum von Beirut: die Mohammed-al-Amin-Moschee

Jo Kassis

Wo es keine Strukturen gibt, die Kunst ermöglichen, gibt die Kunst sich selbst ein Fest. Sie schafft sich ihre Strukturen selbst, in Beirut, einer zutiefst gebeutelten Stadt, in der alles wieder auf Anfang steht und alles wieder möglich scheint.

Der Performer Aurelien Zouki in seiner Aktion “I drank the sea and my fire still burns”

Rima Maroun

Der Libanon ist winzig, seine großen Geldhäuser waren es nie. Bis zum Bürgerkrieg, bis 1975, waren sie der entscheidende Brückenkopf zwischen den westlichen und aufstrebenden arabischen Wirtschaftsmächten. Diese mächtigen Banken sind heute demoliert. Die parlamentarische Demokratie ist in Stacheldraht gewickelt. Der Präsidentenpalast, von trägen Wachleuten umstellt, und das Quartier der Vereinten Nationen daneben, von Videokameras beäugt, sind mitten in Beirut zwei Monolithen, Inseln in einem Land, das niemand regiert.

Das UN-Quartier, von Videokameras umsäumt

Wikipedia

Da ist die an Syrien orientierte und von Iran unterstützte schiitische Miliz im Krieg gegen Israel und dort die christlich-rechte Partei, die aus den letzten Wahlen 2020 zwar als stärkste Kraft hervorging, aber keine Regierungsbildung zustande brachte. Wie heißt es hier so schön: „Ich werde doch nicht Minister, um mich erschießen zu lassen“.

Es ist erstaunlich, ein Land zu erleben, das niemand regiert. Auch der geschäftsführende Ministerpräsident Nadjib Mikati regiert es nicht. Er ist geschnitzt aus jener Sorte Politikern, die zwar einen EU-Vertrag über eine Milliarde US-Dollar abschließen können, um der EU die Flüchtlinge fernzuhalten. Doch bei diesem Geschäftsmann mit guten Verbindungen auch zur syrischen Regierung, und laut Panama Papers eine nicht ganz unbedeutende Nummer im Offshore-Briefkastengeschäft, wird wohl wenig Geld bei den aus Syrien und Palästina Geflüchteten selbst ankommen. Sie machen gut ein Drittel der Bevölkerung aus. Und fast die Hälfte aller Menschen in Libanon hat nicht genug zu essen.

Aber merkt man etwas davon? Vielleicht fällt einem auf, dass kein einziger Polizist als uniformiertes Wesen den eigenen Weg kreuzt. Vielleicht glaubt man dem Scherz, wo kein Polizist, ist auch kein Verbrechen.

Dancing Peanuts

Helena Waldmann

An einem Sonntag 2024 vor den Ruinen des explodierten Silos

Helena Waldmann

Vielleicht fällt einem noch immer auf, dass ungeachtet der verheerenden Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat am 4. August 2020 um 18.08 Uhr nicht nur der Hafen, sondern auch alle umliegenden Stadtgebiete zerstört wurden. Auffälliger aber sind die unermesslich vielen neuen, mindestens 20-stöckigen Neubauten, als ob dieses Land jedem Satelliten zeigen will: Wir wachsen weiter, auch mit dem am stärksten sinkenden Bruttoinlandsprodukt der Welt, auch mit einem libanesischen Pfund, das die bettelnden Kinder stundenlang damit beschäftigt, scheinchenweise ein Kleingeld zu zählen, dass einst einen Euro wert gewesen ist und heute allenfalls 5 Cent. Sie sammeln das verbliebene Vermögen einer ganzen Generation auf, das dieser gestohlen wurde von „denen da oben“.

Libanon ist wachsam, es ist aufgewacht, und es ist aufgeweckt. Es ist ein Land ohne Staat. Darum wird nichts delegiert, schon gar keine Verantwortung an irgendwelche Leute, die brave Europäer gewöhnlich in den „oberen Etagen“ vermuten. Oben in den Etagen Beiruts, in der Hauptstadt, befindet sich meist ein Penthouse. Wenn dort das Licht brennt, bedeutet das noch lange nicht, dass in den Stockwerken darunter eins brennt. Und wenn ganz oben kein Licht brennt, so ist die Familie vielleicht auch nur ausgegangen, in die Station Beirut – zum alten Bahnhof für eine schon lange nicht mehr fahrende Eisenbahn, neben dem ein moderner, bescheiden niedriger Neubau entstanden ist, umstellt von Wolkenkratzern: ein Club der Künste, in dem heute Abend Moe Khansa auftritt, ein Star in der Szene von Beirut.

Moe Khansa

Michele Imad

Eine schwarze Limousine fährt vor, bittet freundlich auf französisch um „Valet Parking“, das ihm von der Station Beirut ebenso höflich verwehrt wird. Reichtum berechtigt zu keinem Parkservice, wie er anderswo in dieser Stadt gewährt wird. Die gut Betuchten klettern trotzdem aus dem Wagen und treffen sich im zweiten Stock auf dem offenen Oberdeck dieses Kunstorts auf einen Drink, bevor der Einlass beginnt. 25 Dollar haben sie bezahlt, um einen Tänzer, überdies einen Bauchtänzer zu sehen, der stadtweit auf kleinen Plakaten mit Arab Electro Pop für sich wirbt, einem Genre, hinter dem niemand eine Zumutung vermutet.

Moe Khansa ist im wirklichen Leben ein sehr zurückhaltender Mann, sehr freundlich. Seine Feingliedrigkeit verbirgt er unter nicht sonderlich formbetonten Alltagsklamotten. An diesem Abend auf der Bühne verbirgt er natürlich nichts.

Der Tänzer in concert

Michele Imad

Er tritt auf als Performer, der mit säuberlich sortierten Zeichen und Gesängen seine Männlichkeit feiert, zuerst in schwarze Gaze gehüllt, unter einem Schleier, der sein Gesicht bedeckt, mit aufwühlenden Songs und eleganten Tanzbewegungen. Ein nicht wütender, sondern ein couragierter Tänzer, der sich selbst ein Bein gestellt hätte, würde er sich in dieser Szene offen in irgendeine westliche LGBTQAI+-Diskursschublade stecken lassen.

Das Biest im Mann

Michele Imad

Er lebt in keiner ihn schützenden Blase. Darum ist er sehr viel offener und direkter ein Verteidiger seiner Kultur, die, wie er bei anderer Gelegenheit sagt, sehr leidet unter dem, was die Medien aus dem Bauchtanz gemacht haben. „Die Medien haben dieses Bild von Bauchtanz in unsere Köpfe eingepflanzt, das habe ich verstanden.“ Aber was folgt daraus? Für ihn? Er ist ein männlicher Bauchtänzer, und alle Assoziationen, die zwischen Busen und Po einen verführerischen Appeal versprechen, sind für ihn ein Verrat an der arabischen Kultur, an seiner Schönheit, seiner Magie. „Ich will meine Kultur feiern“, sagt er, und das verstehen sogar die Traditionalisten, an die er sich wendet, und nicht nur an eine Szene, die es ihm allenfalls gleichtun will. Er sagt ganz offen: „I feel so maculine when I belly dance. Ich fühle mich als ein wirklicher Mann, als ein mutiger Mann.“ Das kommt an in einer maskulin geprägten Gesellschaft, deren Sexualität in zahlreichen religiös geweihten Händen liegt. Er droht dieser Gesellschaft sogar, wenn er erzählt, wie seine eigene Mutter den Bauchtanz zelebrierte, und er als Kind fasziniert war „von den Ornamenten, die sie mit ihrem Körper schuf“. Wer diese magische, alte, arabische Kultur beleidigen will, beleidigt seine Mutter. Das dürfte eine ziemlich wirkungsvolle Gebärde im arabischen Raum sein, um andere zum Schweigen zu bringen.

Moe Khanda als Souverain

Michele Imad

So zelebriert er an diesem Abend im Arab Electro Sound stolz einen „Tänzer als den Athleten Gottes“, als ein unbeugsamer Meister, der sonst auch gern mal aus der Hose schlüpft, unter der er einen Derwischrock trägt, den er fallen lässt, um den typischen Bauchtanz-Tüllrock mit seinem tanzenden Münzen-Gürtel freizulegen, wie ein Popstar eben, der in der Lage ist, Träume zu schaffen, oder schöner noch in seinen Worten: „We are dancers, we create the dreams.“

Das Zoukak Theater vor…

… und nach der Explosion

Zoukak Theater Company

Aktuell ist Moe Khansa ein Topstar in einer relativ langen Genealogie von libanesischen Männern, die den Bauchtanz für sich entdeckt haben, begonnen bei Mousbah Baalbaki und bei Alexandre Paulikevitch mit seinen prächtigen Locken in weiblichem Outfit über die freie Theater-Community Zoukak an einer lärmigen Ausfallstraße unweit des explodierten Silos, in der die Queer Community – die auch „Pride Beirut“ ausrichtet – und die unter anderem Dima Mikhayel Matta feiert, einen offen lesbischen Star der Szene. Natürlich ist Beirut für die riesige arabische Welt, zwischen der Levante im Westen und dem Persischen Golf in Osten ein kulturelles Zentrum – nicht nur für diejenigen, die nach islamischer und christlicher Interpretation eine abweichende Sexualität leben; vor allem und in erster Linie ist Beirut ein Zentrum für die Künste. Ob das eine mit dem anderen zu tun hat? Honi soit qui mal y pense. In einem Land ohne Staat geht das niemanden etwas an.

“Double Shooting”

Rabih Mroué

Ich erinnere mich gut an das Gespräch, das ich vor vier Jahren mit Youssef Bazzi führen durfte, einem heute 58 Jahre alten Theaterautor aus Beirut, der einst im Bürgerkrieg gegen die regierenden Christen kämpfte und dessen erlittene Traumata er gemeinsam mit dem Choreografen und Künstler Rabih Mroué und der Schauspielerin Lina Majdalani auf der Bühne zu verarbeiten versuchte. Besorgt schaute er schon damals in Richtung Iran und ihren islamistischen Arm, der im Libanon starken Hisbollah: „Ihre Zeitung hat den besten Kulturteil des Landes, die Hisbollah scheint modern, aber das ist eine Maske, genauso wie unsere Demokratie eine Maske trägt, hinter der sich lauter Oligarchen und Gangster verstecken: Es sind Theatermasken, aber wir haben genug vom Theater.“ Das war damals seine Aussage; heute übernimmt sie der Pionier des Physical Theatre in Beirut, Bassam Abou Diab.

Bassam Abou Diab

Gino Rosa

2021 gründete der Tänzer das Beirut Physical Lab, eine Organisation, die den Nachwuchs fördert, ihn ausbildet, ihn trainiert. Leute wie Bassam Abou Diab haben ständig ein Auge auf die Hisbollah, auf ihre Lust, das Volk für dumm zu verkaufen, indem sie billige Komödien ebenso fördern, wie sie Einfluss nehmen auf die Medien. Sie tun dies nicht mit bärbeißigem Glaubenseifer, sondern subkutan, indem Kunst nicht als ein Instrument der Selbstermächtigung betrachtet wird, sondern als ein nach langer Tages Arbeit wohl verdientes Vergnügen. Das klingt harmlos, aber es ist in den Augen von Bassam Abou Diab eine zutiefst rechtsreligiöse Einstellung gegenüber dem Körper und seinen Möglichkeiten, die Jüngere immer ausloten wollen, aber eben nicht nur PS-stark oder sportlich, nicht als Flucht vor, sondern als Bewältigung von Realität.

An einem Sonntag auf einer selbst abgesteckten Rennstrecke am Hafensilo

Helena Waldmann

Diese motorendröhende Realität, die shisharauchende Entspanntheit in Libanon ist nicht einfach zu ertragen. Bassam Abou Diab hat lange Dabke getanzt, den Volkstanz der östlichen Mittelmeerregion, und gelangte darüber zum zeitgenössischen Tanz und eben zum Physical Theatre: als Mitglied des Maqamat Dance Theatre von Omar Rajeh und Mia Habis, einer international bekannten Kompanie aus Beirut. Omar Rajeh und Mia Habis leben heute mit ihrem schulpflichtigen Sohn in Lyon. Aber sie kehren immer wieder zurück. 2004 haben sie hier das Tanzfestival „Bipod“ („Zwei-Fuß“ oder eben: Beirut International Platform of Dance) gegründet. Jetzt, zwanzig Jahre, später existiert es noch immer. 2006 gründeten die beiden zudem das Masahat Netzwerk gemeinsam mit ihnen damals vergleichbaren Tanzkompanien aus der Region, der El-Founon-Kompanie aus Ramallah, der damaligen Kompanie der Choreografin Mey Sefan aus Damaskus und einer weiteren aus Jordanien. Daraus wuchs in Anbetracht des Arabischen Frühling eine Tanzplattform für den gesamten arabischen Raum, „Moultaqa Leymoun“, und all dies inmitten der Wirren der libanesischen Politik.

Hier gab es nie ein Kulturministerium im engeren Sinne. Es gab bis kurz vor der Staatspleite eine Kulturbehörde, die im Landwirtschaftsministerium untergebracht war. Kein Witz, sie nannte sich Ministerium für Kultur und Agrikultur, geführt von einem Geschäftsmann, der mit Diesel spekulierte. «Überall auf der Welt sind Theaterstrukturen ein Ebenbild der Gesellschaft», sagt Omar Rajeh. Und lacht.

Die Theater in Libanon, das waren wenig gepflegte Immobilien, die die Kunstschaffenden mieten mussten, um aufzutreten. „Meist reparierten wir erst mal Stühle und die Bühne, anstatt zu proben“, sagt Rajeh, „Diese Theaterleiter in Beirut, sie waren wie unsere Politiker: Sie kassierten und kontrollierten, aber sie taten nichts.“

Die Citerne Beirut

Mia Habis

Um den desolaten Theatern in Beirut endlich zu entkommen, ließen sich die Tänzerin Mia Habis und ihr Ehemann Omar Rajeh aus einfachen Elementen eine gigantische, mobile Theaterkuppel bauen, die Citerne. Sie war ein Wunder an mobiler Theaterarchitekur, das 2017 nach dem Bipod-Festival gleich wieder abgebaut werden musste, da die beiden sich weigerten, den Gouverneur aus Beirut um Schirmherrschaft zu bitten. Auch er ist längst nicht mehr in einem Amt, in dem er jahrelang eine Nationalbibliothek ohne Bücher so verwaltete wie das alte, im Stil des Brutalismus erbaute Kino „The Egg“ am Märtyrerplatz. Dieser Leerstand wurde am 17. Oktober 2019 von Demonstranten ebenso entschlossen beendet wie ein paar Meter weiter der Leerstand des ehemaligen Opernhauses – beide sind in nach wie vor schauerlichem Zustand. Die Demonstrationen gegen die Regierung wirkten, die Proteste gegen die Entleerung der Staatskasse, gegen den Diebstahl des eigenen Geldes durch die Bank, gegen die massive Korruption, kurzum: gegen den Staat als solches.

Die Citerne lagert nun oben im Mount Lebanon, dem Beirut überragenden Bergzug und Rückzugsort der Libanesen während der heißen Sommermonate. Dort schmoren die ausgelagerten Tanzteppiche in Containern und die gebogene Dachkonstruktion in der Sonne, erzählt Mia Habis, Nur einiges technische Equipment wurde nun wieder ausgepackt, Tontechnik und Scheinwerfer, um das zwanzigjährige Bestehen des Bipod-Festivals zu begehen, als ein „Fest“, wie Omar Rajeh betont. Denn lange haben sie gezweifelt am Sinn eines internationalen Tanzfestivals auf Beiruter Boden. Eine Parade durch die ganze Stadt ziehen zu lassen, wie es die Biennale de Lyon in ihrer neuen Heimat betreibt, konnten sie sich ihrer alten Heimat so wenig vorstellen wie ein Schaulaufen von Tanzstars, um deren Karten sich ein Publikum schon Monate vorher balgt. Das ist nicht Beirut.

Beirut ist eine Community, die zusammenrückte, nach der Staatspleite, nach Covid und seinem noch heute sichtbarsten Menetekel, der Siloexplosion, die ganze Stadtviertel im Osten Beiruts wie den Central District, Mar Mikhael, Al Hikme und Karantina beinahe dem Erdboden gleich machte, und auch entferntere, aber erhöhte Orte wie Mar Mitr mit seinem berühmten Sursock-Museum schwer beschädigte.

Daniel Conant in Moritz Ostruschnjaks “Tananweisungen” vor dem Sursock Museum

Helena Waldmann

Dort im Museum wird der Schock des 4. August 2020 nun sorgsam aufbewahrt. Die Aufnahmen der Überwachungskameras an dem alten, nun sorgfältig restaurierten Gebäude haben den Wert von Kunstwerken erlangt, die die volle Wucht der Explosion noch immer nur erahnen lassen. Damals hatte das Museum selbst gerade eine Ausstellung eröffnet, die ahnungslos den Titel trug: „At the still point of the turning world, there is the dance.“

Beirut in Zeitschichten

Iconem

Im Zentrum der Ausstellung heute befindet sich ein Video, das in einem Pariser Verfahren namens  „Iconem“ von der gleichnamigen Firma produziert wurde: Beirut, nachgebaut aus 30.000 Einzelbildern  aus der Vergangenheit ebenso wie aus der Gegenwart, um die Erinnerung an diese Stadt im Luftbild dreidimensional bewahren zu können, in all ihren Schichten, die sie als ständig mutierendes und wachsendes, zerstörtes oder kollabierendes Gebilde in sich trägt.

In einem anderen angrenzenden Stadtviertel, in Bourj Hammoud, haben Omar Rajeh und Mia Habis das Festivalzentrum zum 20-jährigen Bestehen ausgemacht, in einer ehemaligen Nähfabrik, Abroyan genannt, die der ehemalige Filmemacher Marc Hadifé entdeckt hatte, nachdem er im Alter von 49 Jahren beschloss, die Finger von der Filmkunst zu lassen.

Die ehemalige Nähfabrik Abroyan

Helena Waldmann

Der Auftakt zu “Bipod”: Mia Habis und Omar Rajeh gehört der erste Tanz

Bipod

Das Abroyan war ein über sechs Jahre lang leerstehendes Gebäude, um das viel Grundstücksspekulation versucht worden ist. Nie aber kam es zu einem Zuschlag.

Marc Hadifé übernahm den Laden wie er war, mit all den alten Nähmaschinen, Restbeständen, offenen Räumen und verwinkelten Treppenhäusern, die hoch unter dem Dach zu einem Raum führen, in dem einst Modenschauen für diejenige Herrenunterwäsche stattfanden, die unten produziert worden war. Unter dem Dach also gab es einen tauglichen Theaterraum. Auch die alten Produktionshallen riefen nach einer Neubelebung als Bühnen, als Dancefloor, als ein Ort für die Kultur.

Nebenan hat Hadifé ein Restaurant eröffnet, das etwas selbstironisch den Namen trägt: Marks Union. Man findet es auf Google, die Fabrik findet man nicht. Sie ist für Hadifé wie Beirut selbst: ein Überraschungsraum, den der Lebenskünstler mit Kunstvergangenheit gegen einen hübschen Mietzins dem Festival überlassen hat.

Das Abroyan: Tanzstudios, die fast nahtlos ineinander übergehen

Helena Waldmann

Hier konnte sie heranwachsen, die Idee, wie aus einem Festival ein Fest werden könnte – als ein Freiraum, der das Publikum nicht von Vorstellung zu Vorstellung jagt, sondern es hinüber gleiten lässt von einer Tanzaktion zur nächsten. Die Fabrik dient morgens als Ort für Workshops, mittags wird das Marks Union zum Gesprächsort mit den Kunstschaffenden, abends werden die von Glasscheiben unterteilten Hallen einer Choreografie auch des Publikums unterworfen. So der Plan, und so auch die Durchführung.

Charlie Prince

Sebastian Bauer

In einer der Hallen tritt Charlie Prince auf, ein Komponist, der über das Dirigieren zum Tanz fand, ein, wie er sich selbst bezeichnet, „Archäologe des Tanzes“. Er tritt auf die nackte Bühne, richtet den einsamen Scheinwerfer aus, prompt folgt ein Stromausfall. Niemand erschreckt. Als das Licht wieder brennt auf die links ausgebreiteten Musik- und Tonmisch-Instrumente, ahnt man in seinem sich dem Raum anschmiegenden Körper eine fremde Kraft, die ihn treibt und lenkt, die ihn vom vierbeinigen Krebsgang in seinen schweren Schnürschuhen so empor reißt, als würde sein vom Scheinwerfer erzeugter Schatten ihn steuern, würde ihm weiche Knie anzüchten und seine Schultern weit zurückbiegen lassen. Als der Tombak-Virtuose Joss Turnbull hinzutritt, sich vor die Instrumente kauert und mit der Tombak kleine, elektronische Explosionen in den Raum feuert, immer wieder und sie Tonlage um Tonlage addiert, holt Charlie Prince mit schöpfenden Armbewegungen aus. Jäh bleiben Hände verschränkt an seiner Brust kleben und lassen sich nicht mehr lösen, vor Schmerz oder aus Trotz. Sein Körper versucht sich selbst auszuweichen nach oben, unten, seitwärts.

“The Body Symphonic”

Sebastian Bauer

Der Archäologe seines eigenen Körpers zwingt ihn wie ein Kolonialherr, endlich seine Schätze zu offenbaren. Was er versucht, ist den Dabke, jenen traditionellen Tanz der Region, aber statt Klischees hervorzupressen, die männlichen Entschlossenheit, mit der ein Dabke üblicherweise aufstampft, bleibt nur ein Körper wie ein ausgeraubtes Grab. Charlie Prince pflegt das Fragile, Zerbrechliche, die Wut eines kolonialisierten, geplünderten Körpers. Später im Gespräch bestätigt er diesen Eindruck, die sein „The Body Symphonic“ hervorruft, das vor drei Jahren in Berlin während Covid am Holzmarkt in den Räumen des Choreografen Felix Ruckert entstandene Solo für zwei Musiker. Das wirkt auch heute keineswegs überprobt, sondern löst immer noch den Alarm aus, der schrillt, wenn ein Körper in Not sich selbst zu vergessen scheint. Es ist ein entschlossen intensives Stück, das sich Charlie Prince geschaffen hat, ein unzweifelhaft politisches Statement für ein Publikum, das hier weniger die Bravour dieses zeitgenössischen Tänzers diskutiert, sondern den Notstandsakt in dem Tänzer erkennt und ihn bejubelt, weil er tief blicken lässt in die lange Geschichte der Okkupation des Libanon und seiner umliegenden Länder.

Charlie Prince ist selbst Musiker. Einmal kniet er nieder zu einer Gitarre, deren Saiten er gegen die Tombak in Anschlag bringt, ein studierter Komponist mit einem Abschluss an der McGill University in Montréal. Er ist, ebenso wie Bassam Abou Diab, ein langjähriger Mitstreiter des Maqamat Dance Theatre von Omar Rajeh und Mia Habis, ein Absolvent, der von beiden initiierten dreimonatigen intensiven Tanzfortbildung für libanesische Tanzkunstschaffende, Takween genannt, die gemeinsam mit Sasha Waltz & Guests in Berlin und der Dansgroep Amsterdam zustande gekommen war.

Omar Rajeh

Elizabeth Pearl

Die Tanzszene ist diesem ersten großen Schub ihrer Ausbildung nun entwachsen. Die Szene wirkt klein, aber sie ist in alle Welt zerstreut, auf der Suche nach Stipendien und Chancen, die Beirut ihr kaum bietet. Davon handelt auch „Dance is not for us“ von Omar Rajeh, der sich sein Solo musikalisch ebenfalls von jenem aus der deutschen Stadt Bielefeld stammenden Joss Turnbull hat komponieren lassen, der vor Minuten noch Charlie Prince begleitet hat.

in “Dance is not for us”

Elizabeth Pearl

Man kennt sich, man schützt sich, man zeigt seine Wunden, wenn auch nicht immer so meisterhaft, wie es Omar Rajeh in seinem Solo gelingt, einer Geschichte aus der Vergangenheit, aus dem Garten der Großeltern, in den – so wird es am Ende heißen – ein Elefant vom Himmel fiel, der aufgrund des Gewichts „die Knochen der Stadt aus Liebe“ zerbrach.

Der Tänzer in seinem Garten

Maqamat

Die Erzählung scheint sich selbst zu schreiben auf schwarzem Grund, projiziert auf Arabisch mit englischer Übersetzung, während Rajeh zwischen einem Tisch und ganzen Batterien von frisch erwachsenen Basilikum-Pflänzchen aus dem Gewächshaus wie explosionsartig seinen schweren Körper in die Waagschale wirft, ein Tänzer, der immer wieder ein Zucken durch seinen wuchtigen Leib jagt und die schiere Grausamkeit der Vertreibung aus dem Paradies mit jedem Gliedmaß nachzeichnet.

Die Zeder als Symbol des Libanon wird nicht verschenkt. Das Basilikum trägt das Publikum nach Hause

Helena Waldmann

„Dance is not for us“ ist ein Meisterwerk aus Erzählkunst, aus gedanklicher Schärfe und einer körperlichen Kunst, die sich den eindringlichen Rhythmen aus der Tombak von Joss Turnbull zu entwinden versucht, die ihn wie gegen den Willen des Tänzers immer wieder fortreißt aus der Gegenwart in eine Vorstellungswelt, die von Utopie und Erinnerungen so gespeist ist, wie es die Fragmente der Texte sind.

Omar Rajeh

Elizabeth Pearl

Sie begleiten nahezu unablässig Omar Rajeh an der Rückwand, in Anspielung auf die Demonstrationen gegen die Regierung, auf die körperliche Präsenz von Menschen in existentieller Not, ihren Straßenkämpfen mit dem Tränengas versprühenden Staatsschutz, der Hoffnungslosigkeit dieser Körper, die sie ihren eigenen Repräsentanten entgegengeworfen haben. Omar Rajeh findet all das in seinem Körper, in pulsierenden Mikrobewegungen, die aus der Ohnmacht zu entstehen scheinen, nicht mehr handeln zu können, in den wie unwillkürlich geschlagenen Bewegungen, wie um auszuweichen, sich zu schützen vor den Traumata, die er und andere sich in diesen Augenblicken des politischen und wirtschaftlichen Niedergangs einfingen wie andere zur gleichen Zeit den Virus.

Vor den Videoscreens

Bipod

Von seinem Spielort zieht die zum Abschluss der Performance mit Basilikum reich beschenkte Zuschauerschaft hinaus, an Tanzvideo-Screens vorbei weiter in den vierten Stock der Fabrik, hinauf zu Dalia Khalife, einer Tanzkünstlerin, die in ihrem Beruf sonst Bühnen baut, eine Szenografin, die sich einen wie hyperrealistisch wirkenden Avatar ihrer selbst geschaffen hat und ihn als Tänzerin selbst steuert.

Dalia Khalife vor ihrem Avatar

Dalia Khalife

Auch sie spricht in ihrem „I woke Up a Sweaty Human“ von einem Zusammenbruch, der sie auf die Idee dieses unermüdlichen und nie alternden Avatars brachte. Sie fuhr mit dem Fahrrad die Hügel dieser Stadt hoch. Es war, erzählt sie, ein schwüler, feuchter Sommer. Die Hitze lag brütend in den Straßen von Beirut. Sie stand im Schweiß. Es roch nach Schweiß. Sie stellte sich einen schwitzenden Raum vor, der den Schweiß des Körpers aufsaugt und wieder verdampft und sie fühlte diesen Körper, der gezwungen ist, in der Stickigkeit der schweißnassen Räume immer mehr Flüssigkeit abzugeben. Der Austausch zwischen den Mauern der Häuser und der Haut ihres Körpers spielten Pingpong ohne Kühlung bis zur Erschöpfung. Sie dachte, es müsse so auch ein politisches Schwitzen geben, ausgelöst durch die Hitze der Feindseligkeiten. Ein soziales Schwitzen, ausgelöst durch den ständig sich erhöhenden Druck, um zu überleben. Ein kulturelles Schwitzen. Man schwitzt, auch beim Hot Yoga auf Bali: Schwitzen wird dort als Luxus verkauft, wie Schwitzen Ausdruck ist von sexueller Lust und von Reinigung. Als sei es etwas Kostbares.

Der schweißlose Alias von Dalia Khalife

Dalia Khalife

Auf ihrer Bühne unter dem heißen Dach tanzt ihr Avatar wie am Schnürchen, choreografisch elegant, mit sicherem Stand angetrieben von Motion Capturing. Der Avatar ihrer selbst folgt den Tänzen seiner Schöpferin, die ihn antreibt wie einen Dynamo, dabei außer Atem gerät, aggressiver wird, schwitzt in diesem Raum, in dem wir sitzen. Unser Blick geht über die sich erschöpfende Tänzerin hinweg hinein in den Raum ihres Avatars, der nicht schwitzen kann, der sich organlos bewegt, geruchlos, temperaturlos, ohne Feuchtigkeit, im Nirwana einer Mühelosigkeit, wie ihn der keuchende Körper der Tänzerin nie erreichen wird.

Dalia Khalife gehört zu einer Generation nach der ersten Generation der zeitgenössischen Tanzszene, nach Danya Hammoud, Yassine Khouloud, Omar Rajeh, Mia Habis und Rabih Mroué, die zwischen Bürgerkriegstraumata und Zusammenbruch nun ihre Wunden leckt. Dalia Khalife sieht ihre Hoffnung in einem globalen Raum, in einer virtuellen Gegenwart, in dem der Konsum von Medien eine andere Art von Gewalt ausübt. Die fesseln und Selbstvergessenheit erzeugen, eine erfahrungslose Leere, einen rasenden Stillstand.

Yassine Khouloud in “Heroes”

Greg Demarque

Die steilen Stufen geht es von Dalia Khalifes Performance nun wieder hinab zu den alten Fabrikräumen auf der Ebene. Eine von Bassam Abou Diab initiierte Tanzimprovisation von erfahrenen Choreografinnen demonstriert, wie egoman eine solche Gesellschaft von Kunstschaffenden wirklich ist, wie sehr viel weniger sie bereit ist, aufeinander zuzugehen, als sie es vorgibt.

Tango mit Mazen Kiwan

Helena Waldmann

Nahtlos geht diese Improvisation über in einen Tango, den Mazen Kiwan mit seinen Schülerinnen und Schülern veranstaltet. Nicht weit von hier entfernt, gleich neben dem Stadtteil Bourj Hammoud, in Hafennähe, in Karantina, setzt diese nächste Generation sich aber auch einer ganz realen Realität aus, ohne Schutzraum und Theater.

In Karantina

Helena Waldmann

Karantina war im August 2020 mit am stärksten von der Explosion betroffen. Traditionell diente das Quartier der Quarantäne für Seeleute, ein Armenviertel, eingekeilt zwischen der an der Küstenlinie verlaufenden Stadtautobahn und dem Hafengelände. Hier ist seit der französischen Besatzung Militär stationiert; ringsum in kleinen Häusern leben die Armen, oft Flüchtlinge aus Palästina und Syrien, die sozial Schwachen.

Die Kinder sammeln sich auf dem Parkplatz von Karantina

Helena Waldmann

Sich mit Tanz offen dieser Realität zu stellen, ist ein mutiger Plan von Yara Boustany und Ratha Baroud. Die Eltern von Ratha Baroud brachten ihre Tochter in Paris zur Welt, weil Bürgerkrieg herrschte. Ist sie Französin? Libanesin? Sie hasst es so sehr, wenn Künstlerinnen als Repräsentantinnen für ihre Herkunft herhalten müssen. Sie hält das für Nationalismus. Und ist dagegen.

Yara Boustany öffnet die Studiotür

Helena Waldmann

Sie öffnet uns die Tür zu dem Tanzstudio Amalgam in Hamra, das sie gemeinsam mit Yara Boustany betreibt in einem unscheinbaren Bürogebäude. Boustany hat einen italienischen Pass, Baroud einen Britischen. Die beiden sind frei zu gehen, sehen aber hier ein Zentrum, in dem sie etwas bewirken wollen. Das Studio der beiden befindet sich im zweiten Stock. Ihr „Wohnzimmer“ in der ersten Etage ist eine Buchhandlung mit einem Café, einer der seltenen Orte in dieser Stadt, in dem man sich auch außerhalb der eigenen vier Wände wunderbar zurückziehen kann.

Die Buchhandlung Barzhak

Helena Waldmann

Hier entwickelten Yara Boustany und Ratha Baroud ihren Plan, die kleine Enklave namens Karantina zwischen Hafen und Autobahn mit Tanzkunst zu erobern. „Sharabakat“ heißt ihr Projekt, das sich einem Stadtraum in jämmerlichem Zustand ausliefert und zu dem sie die Kunstschaffenden aufriefen, sich mit eigenen Ideen zu beteiligen.

Fotoinstallation von Nader Bahsoun

Helena Waldmann

Dort in der Ruine eines Wohnhauses hängt nun eine große Fotografie von gebrochenen Balken herab, ein Werk von Nader Bahsoun. Vor dem Haus ist ein Bürgersteig, ein erstaunlich schöner Bürgersteig. Das so sehr zerstörte Karantina ist das einzige Viertel in Beirut, das nun richtig gut gepflegte Bürgersteige kennt. Diese säuberlich gepflasterten und akkurat zur Straße und zur Hauswand hin gerahmten Wege sind jetzt ihr Wahrzeichen.

Die deutschen Bürgersteige von Karantina

Helena Waldmann

Man möchte lachen, aber dies ist die Gabe der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau, die nach der Explosion im August 2020 nichts dringender finanzieren wollte als das Markenzeichen aller deutschen Städte: Bürgersteige. Kommt nach Karantina. Hier sind die schönsten in der ganzen Stadt.

“Sharabakat” in Tanzaktion

Helena Waldmann

Auf ihnen nun geht es zwischen Live Painting und Sound Installation von einem Parkplatz aus hinein in die Seele des Quartiers. Diese Seele sind die Kinder, die restlos schmerzfrei jede Aktion  der akrobatischen Straßenkunst okkupieren, nach Keulen und Einrädern schnappen, die als wenig respektierter Nachwuchs sich ebenso respektlos auf die fremden Kunstschaffenden stürzen und in deren gut gemeinte „Interventionen“ intervenieren, wo es nur geht. Deren Eltern stehen stumm daneben: Die Kunst, die sie hier überfallen hat, ist für sie so interessant wie für einen Souvenirladen der Tourist: Man geht ihm an die Tasche, fällt ihm auf die Nerven, verstellt ihm die Sicht auf seine romantischen Sehnsüchte.

Die Kinder spielen die Hauptrolle

Helena Waldmann

Man spürt, das Publikum ist nervös geworden. Bald erhält es Einlass in ein kleines Zimmer in einer Nebengasse, das die Hausherrin freigeräumt hat, in das man sich nun mit angezogenen Beinen pfercht, damit ihr Sohn, Khalil AlHajj-Ali, ein Ritual tanzen kann.

Khalil AlHajj-Ali in seinem Elternhaus

Arnd Wesemann

Er erinnert seine Trauer in der ersten Nacht nach dem Tod seines Vaters, lässt auf den ihm verbliebenen zwei Quadratmetern seinen Körper beben. Es durchzuckt ihn. Im Hintergrund sieht man die Witwe, seine Mutter mit einem Tablett in der Küche, auf dem sie Kaffee servieren wird, in geduldiger Erwartung, bis der Sohn sein Ritual vollendet hat. Yara Boustany und Ratha Baroud sind die Guides hinein in diese Intimität, durch die sie die Gäste weiterführen, wieder hinaus aus dem armen Dorf in die umliegenden kleinen Werkstätten, von denen viele nicht wieder aufgebaut wurden, die ihre Dächer verloren und ihren Sinn, und nun wie natürliche Freilichtbühnen wirken.

Alexandre Habre in “L’autre”

Helena Waldmann

Hier tritt Alexandre Habre auf, der Schützling von Ratha Baroud, ein hoch gewachsener Schlacks von zartem Mann, der mit einer Puppe, einem Avatar am eigenen Leib, in „L’autre“ diesem anderen Wesen sein Leben einzuhauchen versucht: als ein Versuch, die Liebe wieder zu lernen, die Verantwortung, die Zuneigung, die Bindung, die ihm so substanziell in dieser Welt zu fehlen scheint, dass man ergriffen sein möchte von diesem einsamen Solo mit einer Puppe, die herrlich leblos bleibt im Ambiente einer zerstörten Stadt.

Tankstelle in der Armenia-Straße

Helena Waldmann

Überall in Beirut sieht man die Überreste, man entdeckt die Wucht, mit der eine Tankstelle in der quirligen Armenia-Straße zerdrückt worden ist; daneben genauso die lokale Markthalle, die nun wieder auferstand als ein Restaurant für die gut Betuchten, nur nicht für die Müllsammler davor, die mit gewaltigen Sackkarren das Plastik und die Pappen aus dem Abfall sammeln und es für wenig Geld dem Recycling zuführen.

Omar Rajeh und Mia Habis im Café des Sursock-Museums

Helena Waldmann

Ihrer Arbeit zuzuschauen, erinnert an das, was die Kultur zu leisten versucht in dieser Stadt, um auch dem Gedächtnis und dem Schmerz wieder einen Wert zuzuführen, und dies meist mit Hilfe internationaler Stiftungen, von denen viele erst Mitte der Nuller Jahre entstanden, nach dem Bürgerkrieg. Oft haben die Stiftungen ihren Sitz im Ausland, wie „Mophradat“ in Brüssel, die zuvor unter dem Namen „Young Arab Theatre Fund“ firmierte und nur hin und wieder einzelne Projekte fördert. Es gibt den „Arab Fund for Arts and Culture“, ein Konsortium von Stiftern mit Sitz im Schweizer Kanton Zug. Und es gibt, dank der Explosion, die UNESCO, die durch ein Projekt namens „Beyrut“ nicht nur Denkmäler restauriert, sondern in Zusammenarbeit mit der Weltbank und seines lokalen Arms, der Lebanon Financing Facility, auch Tanzprojekte im öffentlichen Raum wie „Sharabakat“ fördert, häppchenweise, von Projekt zu Projekt, die aber nie neue Strukturen ermöglicht, nie den Aufbau von Institutionen.

Vier Jahre nach der Explosion

Helena Waldmann

Mia Habis und Omar Rajeh, die beiden Tanzkunstschaffenden mit Weltruf, die hierher zurückgekehrt sind, um Bipod zu feiern, finden diese Förderpolitik sehr richtig: „Libanon ist ein freies Land und du kannst machen, was du willst. Das funktioniert eben nur, weil es größere Strukturen für die Kultur nicht gibt. Du musst diese Strukturen nicht bedienen. Du kannst heute dies machen und morgen etwas ganz anders. Niemand nimmt dir die Verantwortung ab. Es ist deine Sache, ob du mit der Kunst scheiterst oder nicht.“

Streetlife

Helena Waldmann

„Es gibt kein Ministerium, das ‘nein’ sagen oder Bedingungen stellen kann. Natürlich musst du mindestens vierzig Prozent an der Kasse einnehmen und den Rest des Tages die Klinken der internationalen Kulturorganisationen putzen. Zum zwanzigjährigen Bestehen hatten wir das Glück, viele private Geldgeber zu finden, Mäzene, und jetzt können wir weitermachen. Im nächsten Jahr, 2025, versuchen wir, den alten Bahnhof wiederzubeleben, der noch immer intakt ist. Da fahren zwar seit Jahrzehnten keine Züge mehr, aber es gibt noch immer einen Direktor, es gibt Mitarbeiter, und die freuen sich, dass sie nicht mehr nur einen leeren Bahnhof verwalten müssen, in dem die Menschen vergeblich darauf warten würden, dass ein Zug kommt, der sie mitnimmt in ein besseres Leben.“