Alle Künstler sind „Made in Bangladesh“

Tänzerinnen auf der Bühne des Stücks Made in Bangladesh
Trina Mehnat in "Made in Bangladesh" von Helena Waldmann

Wonge Bergmann

Millionen und Abermillionen Kilometer Garn spulen weltweit und ohne Unterlass von der Rolle – in sämtlichen Stoff- und Nähfabriken auf dieser Erde. Mechanisch betrachtet, vollführen Garnrollen eine nahezu endlose Pirouette. Genau demselben Prinzip folgt der menschliche Körper beim Tanz.

Die Tänzerin Brit Rodemund gehorcht in der Inszenierung “Made in Bangladesh” der Tanzregisseurin Helena Waldmann derselben Bewegung, die es den Textilmanufakturen erst ermöglicht, dem globalen Bedarf an Stoffen und Kleidern gerecht zu werden: der Drehung einer Spindel. Spätestens seit Rudolf von Laban hat sich der Tanz intensiv mit industriellen Körperbewegungen auseinandergesetzt. So hat sich im 19. Jahrhundert der US-Amerikaner Frederick Winslow Taylor auf die Optimierung der bestmöglichen Bewegung der Arbeitenden konzentriert: Für jede Arbeit gibt es eine bestimmte Körpertechnik, die es erlaubt, best- und schnellstmöglich eine Mauer zu errichten, einen Teppich zu weben oder – auch das Ballett hat es damals gelernt – eine bestimmte Tanzbewegung nicht anders als  vorgeschrieben auszuführen.

Anna Saup

Made in Bangladesh

Wie verquickt sind die Arbeit und der Tanz – wo das eine doch das genaue Gegenteil des anderen zu sein scheint? Natürlich ist Tanz physische Arbeit. Denn er erzeugt einen Muskelbau, der auf professionellem Niveau dem der Leistungssportler entspricht. Auffallend ist, wie systematisch gründlich sowohl die Sport- wie die Tanzmedizin den Körper analysieren, ähnlich wie Taylor es einst tat, um optimale Voraussetzungen für eine – möglichst verletzungsfreie – Leistung zu ermöglichen. Es gibt aber noch eine Parallele: Sie findet sich wieder in der schlechten Bezahlung von Tanzenden und Arbeitenden. Physische Arbeit ist proletarische Arbeit. Nach Karl Marx bedeutet das: Proletarier sind doppelt freie Lohnarbeiter, Menschen, die nichts anderes besitzen als ihre Arbeitskraft und allein durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft ihren Lebensunterhalt erzielen können. Das gilt in ganz besonderem Maße auch für die Tanzszene.

Als die Dieselaggregate nach einem Stromausfall ansprangen, gaben die dünnen Böden nach: Einsturz des neunstöckigen Fabrikgebäudes Rana Plaza in Dhaka im April 2013

Rahul Talukder

Im November 2012 vernichtete ein grauenhaftes Feuer in Bangladesh eine Kleidermanufaktur, die Tazreen-Fabrik, es folgte der menschenzermalmende Einsturz des neunstöckigen Fabrikgebäudes Rana Plaza im April 2013. Die Welt war alarmiert. Boykottaufrufe gegen westliche Firmen, die in diesen unwürdigen Verhältnissen ihre Produkte herstellen ließen, folgten auf den Fuß. Ein Jahr später war die Tanzregisseurin Helena Waldmann vor Ort. In Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesh, entstand mit Hilfe der Tanzorganisation Shadona, die die bangladeschische Tänzerin Lubna Marium führt, eine Tanzkompanie, die eine international tourende Produktion auf die Beine stellte: „Made in Bangladesh“. Publikum und Kritik bestaunten weltweit die Exotik der fremden Arbeiterinnen, die von Tänzerinnen dargestellt wurden. In den Foyers der Theater, an denen das Stück gastierte, tauchten regelmäßig kleine Stände auf, die für „regionale Produkte“ und „Upcycling“ warben und gegen Ausbeutung und die globalisierte Kleiderindustrie protestierten. Tatsächlich handelte das Stück aber von etwas anderem:

Jede Textilfabrik besteht aus zahlreichen Nähreihen: Die Leistung jeder einzelnen wird auf einer Kreidetafel protokolliert, damit Näherinnen sich als Konkurrentinnen verstehen

Wonge Bergmann

Boykottiert nicht unsere Produkte. Der Hintergrund ist einfach erklärt. Näherinnen sind zwar abhängig von zu geringen Löhnen und den erzwungenen Überstunden, aber es ist für die Frauen in diesem muslimischen Land die einzige Möglichkeit, aus den engen Verhältnissen auszubrechen und sich zu emanzipieren: als Ernährerinnen ihrer Familien. Sie sind stolz darauf, und aus diesem Stolz erst wird es ihnen möglich, auch höhere Löhne und besseren Arbeitsschutz zu fordern.

Grundlage dazu wäre aber, dass der Westen ihre Produkte eben nicht boykottiert. Was also wollen wir? Die Emanzipation der Frau befördern und zugleich die Globalisierung boykottieren? Und wir sind auf noch einem weiteren Auge blind. In „Made in Bangladesh“ wird nicht nur der penetrante Takt der auf Stückzahlen pro Stunde hergestellten Kleider durch immer gleiche Hand- und Armbewegungen getanzt – übrigens auf Grundlage des in Bangladesh üblichen Kathak-Tanzes. In einem zweiten Teil des Stücks fasst sich diese von den Tanzenden dargestellte Arbeiterschaft selbst an die Nase. Wie sieht es mit Ausbeutung und Emanzipation bei uns, bei den Kunstschaffenden selbst aus?

Urme Irin

Wonge Bergmann

Shoma Sharmin, Pritha Shareen Ferdous

Wonge Bergmann

Wie viel Selbstausbeutung, wie viel Zukunftshoffnung, wie viel unterbezahlte oder nicht bezahlte Arbeitsstunden sind nötig, um der eigenen prekären Lage ausgerechnet durch Kunst, Tanz, Musik oder dergleichen zu entkommen? Diese Frage ist, wenn man die begleitenden Kritiken zu diesem Stück liest, in der Kunstwelt noch immer ein Tabu. Viele Finger zeigen auf Bangladesh, aber kaum einer sieht die ökonomisch ebenso drängenden Fragen in der eigenen Kultur hierzulande, die allabendlich von Zehntausenden goutiert wird. Dabei ist es kein Geheimnis. Nur ein Bruchteil der freien Künstler kann von der eigenen Kunst wirklich leben.

Woran liegt das? Am Überangebot? Wenn es wirklich zu viele Künstler gäbe, die wie eine endlose Armee arbeitswilliger Arbeiterinnen in Bangladesh vor den Werkstoren wartet, oder sich, wie hierzulande, von einem Förderantrag zum nächsten hangelt, dann müsste dies bedeuten: Wie Bangladesh ein Land der Kleiderindustrie ist, so wäre Deutschland – in den Worten der Publizistin Adrienne Goehler: ein „Kulturstaat“.

Hanif Mohammad

Wonge Bergmann

Tanzen in einer Textilfabrik

Georgia Foulkes-Taylor

Von Kultur leben in Deutschland mehr als die Hälfte aller Selbständigen. Sie arbeiten in Branchen wie Design, Film, Journalismus, Kunst, Literatur, Musik, Tanz und Theater oder sie ernähren sich von diesen Künsten in Agenturen, Fernsehstationen, Galerien, Stiftungen, Universitäten, als Produzenten, Veranstalter, Verleiher und Verlage. Zusammen sind sie eine Macht, oft ohne feste Arbeit und nur selten gewerkschaftlich organisiert. Zusammen stehen sie für die fortschreitende Emanzipation von den überalterten Strukturen und Denkweisen in Deutschland. In dieser Branche werden gewaltige Umsätze gemacht: Kultur gehört zu den größten deutschen Wirtschaftstreibern mit immerhin 106,4 Milliarden Umsatz Euro im Jahr. Mit dieser Summe „übertrifft die Kultur- und Kreativwirtschaft in Sachen Wertschöpfung inzwischen andere wichtige Branchen wie die chemische Industrie, die Energieversorger oder aber die Finanzdienstleister.“ Heißt es aus dem Haus des deutschen Wirtschaftsministers. Doch nur ein Bruchteil davon gelangt in die Taschen der Kulturschaffenden selbst. Den deutlich größten Teil verschlingen Management und technische Abteilungen – die alten, immer noch starken Säulen des deutschen Wirtschaftswunders.

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Kind liegt unter Nähmaschine "Made in Bangladesh"

Made in Bangladesh

3,33

Sport ist, wenn die Arbeiterinnen in den Nähfabriken in Bangladesh wie Mannschaften um die Wette nähen – bis zur restlosen Erschöpfung. Wer die höchste Stückzahl herstellt, ist Siegerin für einen Tag. Sieger in der Kunst sind die Kreativen etwa in den Tanzstudios, die an einem Markt teilnehmen, der stets verleugnet, sich wie ein Markt zu verhalten.

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