Inoue Yasuko: In Kyoto ist es üblich, dass die angehenden Schülerinnen am sechsten Tag des sechsten Monats im sechsten Jahr des Mondkalenders ihre Ausbildung beginnen. Es heißt, dass eine Anfängerin nur an einem solchen Datum die von ihr gewählte Kunstform oder das von ihr gewählte Studienfach wirklich vollenden wird. Erwachsene und nicht-professionelle Tänzerinnen können dagegen in jedem Alter mit dem Unterricht beginnen.
Yachiyo V: In meinem Fall bin ich nicht ganz dieser Tradition gefolgt, denn ich habe in einem noch früheren Alter angefangen. Ich halte es dennoch für besser zu warten, bis sich zumindest der Knochenbau des Kindes gefestigt hat und es sich körperlich zu entwickeln beginnt, also etwa im Alter von fünf Jahren oder so. Wenn man Kinder wirklich zum Tanzen motivieren und ihnen helfen will, sich von Grund auf zu entwickeln, muss man schon in jungen Jahren damit beginnen und sie ständig fördern und ermutigen. Diejenigen, die Maiko werden und ihre Kunst in Gion ausüben wollen, können sich erst dann am Yasaka Nyokoba Gakuen einschreiben, wenn sie ihre Schulpflicht erfüllt haben. Sie müssen mindestens fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein, bevor sie mit dem Unterricht an der Gakuen beginnen können. Ich habe gehört, dass bei Kindern, die mit dem Ballettunterricht beginnen, sich sogar nach dem Körperbau ihrer Mutter erkundigt wird. Nebenbei: im traditionellen japanischen Tanz gibt es keine solchen Anforderungen, auch wenn manche Leute bemerken, dass “die Note nicht in die Tonleiter passt”, sozusagen. Wenn es darum geht, die Grundlagen zu lehren, bin ich in letzter Zeit zu dem Schluss gekommen, dass es von größter Bedeutung ist, mit einer normalen Stehhaltung zu beginnen und die Schülerinnen dann lernen zu lassen, wie sie ihren Körper senken und eine Sitzposition einnehmen können. Früher habe ich mich darauf konzentriert, den Schülerinnen beizubringen, wie sie ihre Knie nach vorne bringen und andere grundlegende Tanzbewegungen ausführen, aber heute möchte ich ihnen zuallererst beibringen, wie sie sich richtig aufrecht halten. Wenn es mir gelungen ist, ihre Haltung zu korrigieren, werde ich ihnen zeigen, wie sie ihre Hüften senken und sitzen können. Da ich für Frauen unterrichte, möchte ich, dass sie ihre angeborene Weiblichkeit schätzen und ihre unverwechselbare weibliche Note kultivieren.
In Anbetracht der Veränderungen des Lebensstils in den letzten Jahrzehnten, die durch die Einführung amerikanischer Essgewohnheiten und westlicher Möbel in japanische Haushalte verursacht wurden, stellt sich die Frage, welche Herausforderungen sich daraus ergeben, wenn man versucht, die heutigen Anfängerinnen zu unterrichten, da sich ihre Körper von der Gewohnheit her betrachtet von dem der japanischen Mädchen früherer Generationen unterscheidet?
Yachiyo V: Viele Neulinge leiden unter einer schlechten Körperhaltung. Für uns ist es absolut wichtig, dass sie lernen, wie man richtig sitzt und sich verbeugt. Manche Schülerinnen können nicht einmal ihren Rücken während der Verbeugung gerade halten. (Hierzu führt Yasuko einen Zarei aus, die Verbeugung im Knien. Ohne den Rücken zu krümmen, dreht sie mühelos den Oberkörper in der Taille, senkt den Kopf in Richtung Boden, während sie gleichzeitig beide Hände sanft auf der Tatami-Matte nach vorn gleiten lässt und mit Daumen und Zeigefingern ein Dreieck bildet, während sich ihre Hände treffen und ihr Gesicht fast den Boden berührt).
Viele junge Menschen verbringen heute ihre Zeit damit, ständig über den Bildschirm ihres Smartphones zu streichen. Wir müssen sie immer wieder daran erinnern, darauf zu achten, dass sie ihren Nacken nicht verrenken. (Yachiyo reckt ihren Nacken nach vorne, was eine sichtbare Anspannung bewirkt). Diese schlechte Haltung haben sie sich durch jahrelanges Computerspielen während der Fahrt im Zug angeeignet. Die ständige Nutzung von Smartphones, der so genannte “Tech-Nacken”, hat sich sehr nachteilig auf ihre Körperhaltung ausgewirkt. Für einige Jugendliche ist es aufgrund ihrer Körpergröße sehr schwierig, richtig zu sitzen. Einige von ihnen sind sogar so groß und haben so lange Beine, dass man den Blick heben muss, um sie zu betrachten.
Inoue Yasuko: Manche Schülerinnen sind zunächst nicht in der Lage, unsere Sitzposition richtig einzunehmen. (Yasuko zeigt auf ihre Knöchel.) Stattdessen bewegen sie ihre Beine in den Knien auseinander und setzten ihr Gesäß auf den Boden. Ihre Knöchelbänder sind so unterentwickelt, dass sie nicht in der Lage sind, richtig auf ihren Waden zu sitzen. Bei manchen Kindern kann es bis zu einem Jahr dauern, bis sie richtig sitzen und sich verbeugen können, oder bis sie lernen, die Muskelspannung im Nackenbereich zu verringern, damit sie ihren Nacken flexibler bewegen können. Was wir den Schülerinnen ebenfalls von Anfang an beibringen, ist der Umgang mit dem Mai-ogi (dem Tanzfächer). Für uns ist der Fächer, ähnlich wie anderswo die Ballettschuhe ein unverzichtbares Hilfsmittel sind. Am allerersten Tag, an dem eine Maiko in die Gakuen aufgenommen wird, überreichen wir ihr einen Fächer und sagen ihr, dass er ihr ein Leben lang gehört. Sie lernen, wie man ihn geschickt handhabt, wie man ihn mit dem Daumen öffnet oder auf den Kopf stellt und wie man ihn mühelos faltet. So wie Ballettneulinge vor Beginn einer Unterrichtsstunde grundlegende Dehnübungen machen, lernen unsere Auszubildenden von Anfang an, wie man einen Fächer biegt und handhabt. Auch wenn es ihnen recht schwierig erscheint, machen wir sie gleich zu Beginn des Unterrichts damit vertraut.
Yachiyo V: Anhand der Körpersprache der Tänzerin soll das Publikum mit einem einzigen Blick erkennen können, wer sie sein soll oder welche Rolle sie darstellt. Wenn sie eine Geisha darstellt, ist es wichtig, dass sie in der Lage ist, die Eigenheiten der Geisha zu vermitteln. Als Requisite hat der Fächer mehrere Verwendungszwecke und erfüllt verschiedene Funktionen. Er ist das Requisit schlechthin, das das Publikum am besten zu schätzen weiß: Er kann schwankende Wellen oder ein im Wind wehendes Blatt symbolisieren. Ein Fächer kann sich zum Beispiel in eine Kiseru (traditionelle japanische Tabakpfeife) verwandeln. (Yachiyo V. streckt elegant ihren Arm aus, als ob sie einen imaginären Pfeifenstiel halten würde). Sie könnte damit sogar den Hammer des Daikokuten, der Gottheit des Reichtums und des Glücks, darstellen.