Der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, wird im Scheitern enden

Kein Kniefall vor der Geschichte, sondern ein Tanz mit ihr

Vladimir Opsenica

In Belgrad nimmt ein Tanzstück mit diesem wundersamen Titel das Scheitern als Chance – in einem Land zwischen den Fronten, umzingelt von der EU und von Russland umarmt

In Serbien ist es fast ein Sprichwort: Wir leiden an einem Übermaß an Geschichte. Wir haben Sehnsucht nach Langeweile, wir haben Sehnsucht nach einer gut organisierten Gesellschaft, einem funktionierenden politischen System, das einem nicht nur immer neue Lektionen zu erteilen versucht. Und es ist auch und vor allem eine Sehnsucht, einmal eine Generation lang nicht von Besatzung, Krieg, Diktatur oder einem Wechsel von dem einen zu einem anderen autoritären Regime heimgesucht zu werden.

Demonstration in Belgrad im Januar 2024

Gleich zu Beginn des Jahres 2024 sahen wir wieder die Bilder von Menschen, die auf den Straßen „tanzten“: einen Protest, einer von einer ganzen Handvoll, diesmal einer gegen den Wahlausgang für den Präsidenten Aleksandar Vučić. Es war ein Aufstand, aber auch der Ausdruck dieser Sehnsucht, die sich auch in einem Tanzstück mit dem dazu passenden Titel wiederfindet: „Der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, wird im Scheitern enden“.

Woher kommt dieser das Land unterfütternde Pessimismus, und woher die Notwendigkeit, es immer wieder und noch einmal zu versuchen, Geschichte zu schreiben? Was ist los in Serbien, diesem Land, das nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs von der österreichisch-ungarischen Monarchie einverleibt wurde, ohne je einen Hauch von Selbständigkeit zu genießen? Ist Serbien nicht selber Schuld, etwa an der Annexion von Bosnien und Herzegowina und an der Ermordung des österreichisch-ungarischen Kronprinzen und damit Schuld am Beginn des Ersten Weltkriegs? Oder an der Errichtung eines Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, das später, nach dem Zweiten Weltkrieg, zur Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien wurde? Der ideologische Zusammenbruch des selbstverwalteten Sozialismus, besser bekannt als Kommunismus, endete offiziell mit dem Fall der Berliner Mauer. Aber er endete weit blutiger mit einem Krieg und dem Zerfall Jugoslawiens, einem Albtraum des modernen Europa, vergleichbar nur noch mit dem Krieg in der Ukraine. Die Bombardierung Serbiens durch die NATO im Jahr 1999, die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, der Prozess vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal, die Ermordung von Ministerpräsident Zoran Djindjic sind angesichts der noch immer ungelösten Kosovo-Frage ebenso Thema auf der Weltbühne wie der Beitritt Serbiens zur sogenannten Familie der europäischen Nationen als Teil der Europäischen Union.

Public Performance in den 1990er Jahren – Polizei und der tanzende Widerstand prägten eine Zeit, in der Serbien Krieg gegen die ehemaligen Bruderländer führte

Was den Tanz betrifft, war Serbien schon immer auf die kulturellen Werte Europas ausgerichtet. Die Entwicklung des Theaters im 20. Jahrhundert ist in diesem Land identisch mit der Entwicklung der gesamten Moderne und des modernen Tanzes. Dennoch konnte Serbien, das von zwei Weltkriegen schwer getroffen wurde und beim Wiederaufbau von den revolutionären Reformen des sozialistischen Systems überwältigt wurde, nie mit den wirtschaftlich entwickelteren Ländern, seinen ehemaligen Kolonialstaaten, konkurrieren.

Erinnerung an Lindsay Kemp und die Avantgarde, die bei BITEF verkehrte

Vladimir Opsenica

Die größte Rolle für die hiesigen Bühnenkünste spielte vor allem während des Kalten Kriegs das Belgrader Internationale Theaterfestival, kurz BITEF. Es war und ist eine Kreuzung zwischen zwei Welten, Ost und West, ein offener, avantgardistischer Raum, der alle Größen seiner Zeit beherbergt hat: Jerzy Grotowski, Pina Bausch, Samuel Beckett, Susanne Linke, Peter Brook, Otomar Krejca, Tadeusz Kantor, das Living Theatre, das Odin Theatre, DV8 und Lindsay Kemp. BITEF war immer die erste Instanz auch für alle jüngeren Theater- und Tanzbewegungen dieser Region. Trotz des enormen Einflusses auf Generationen von Künstler:innen, auf die Bildung und die Entwicklung des Publikums und auf Serbiens Präsenz auf der Landkarte, blieb BITEF immer eine Institution, die nie in Stein gemeißelt war, sondern bis heute aus echten Menschen und Ereignissen besteht.

Die Geschichte des BITEF ist noch nicht geschrieben, Aufzeichnungen gibt es wenige, archiviert wurde kaum etwas. Was bleibt, ist der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, auch wenn sie im Scheitern enden wird.

Die Kinder von BITEF

Vladimir Opsenica

„Wir sind die Kinder von BITEF!“, riefen Boris Čakširan, Jelena Jović und Anđelija Todorovic bei der Diskussion am runden Tisch nach der Aufführung des Stücks „Der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, wird im Scheitern enden“. Sie riefen es während der 2023er-Ausgabe von BITEF.

„BITEF’s Children“ ist eine Formulierung von Jovan Ćirilov, einer der Gründer und Kuratoren dieses großen Festivalprogramms mit dem Untertitel „New Theatre Tendencies“. Die drei eben Genannten bilden gemeinsam mit Tatjana Pajović, Sanja Krsmanović Tasić und Nela Antonović ein Dreamteam, das sich um den Tänzer, Choreografen und Anthropologen Igor Koruga geschart hat. Von ihm stammt „The Desire to Make a Solid History Will End Up in Failure“. Ein Dreamteam ist es deshalb, weil es sich um sechs Tänzer:innen und Choreograf:innen handelt, die je ihr eigenes historisches Gewicht in die Geschichte des serbischen Tanzes geworfen haben. Fast alle von ihnen haben oder hatten eine eigene Tanztruppe, sie alle haben ihre Erfahrungen gemacht mit der experimentellen, neo-avantgardistischen Richtung, die vor allem in den 1980er und 1990er Jahren von Kompanien wie Ister, DAH, MimArt, Hleb, Women in Black oder POD repräsentiert wurde in einer Zeit, als ihr Land in einem blutigen, brudermörderischen Krieg verfiel.

Igor Koruga und die Dramaturgin Milica Ivić haben im Rahmen von „Station – Service for Contemporary Dance“ in Belgrad an der Archivierung von Materialien zur Geschichte des Tanzes in Serbien gearbeitet. „The Desire to Make a Solid History Will End Up in Failure“ ist Teil eines Projekts namens „Dance on Pass on Dream on“, gefördert durch das EU-Programm „Creative Europe“. Dessen Anliegen: Junge Körper sollen sich die Tänze der jüngeren Vergangenheit aneignen – eine Kombination aus Archivierung und Körperlichkeit, ein „Schreiben“ von Geschichte mit dem eigenen Leib.

Ich will Igor Koruga zum Interview treffen. Auf den Straßen wird gerade heftig gegen die jüngsten Wahlen protestiert, trotz der beißenden Januarkälte, die Belgrad in Schach hält.

Milica Ivić

Vladimir Opsenica

Belgrad ist eine quicklebendige Stadt, selbst im Angesicht des größenwahnsinnigen Bauprojekts „Belgrade Waterfront“ am Ufer der Sava in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt.

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Das Denkmal des Stefan Nemanja

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Hier steht das riesige Denkmal von Stefan Nemanja, dem Gründer der Nemanjić-Dynastie aus dem 12. Jahrhundert. Monumental gebaut, ganz im Stil der Comichelden von Marvel oder DC, dominiert es erst seit Kurzem das ehemalige Bahnhofsplateau. Belgrad ist erpicht, mit jeder Menge neu errichteter Sakralbauten dem Trend zur Wiederherstellung eines mittelalterlichen Ur-Serbien zu folgen. Ich kann mir die Feststellung nicht verkneifen, dass Serbien selbst den Wunsch hat, sich eine solide Geschichte erst noch zu schreiben zu wollen.

Genau hier am Rand der „Belgrade Waterfront“ befindet sich das Kulturzentrum Magacin, Treffpunkt eines Gutteils der freien Szene, wie es auch die „Station“ ist, eine Servicestelle für den zeitgenössischen Tanz, eine Drehscheibe für alle, die keinen eigenen Raum zum Proben und zum Trainieren haben. Hier ist „The Desire to Make a Solid History Will End Up in Failure“ entstanden.

Blick aufs Magacin

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Marijana Cvetković

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Marijana Cvetković von der Station for Contemporary Dance Service empfängt mich und lacht. Jedes Anfangen fühle sich immer auch schon wie ein Ende an. Das Fehlen einer Tanzszene und das Fehlen von Arbeitsräumen macht es besonders schwer, überhaupt einen Anfang zu finden. Nicht nur in Belgrad, auch in Novi Sad, der Stadt, in der ich lebe, ist es nicht anders. Tänzerinnen und Tänzer bevölkern vor allem alternative Räume, Kulturzentren und kleine Galerien, aber ganz bestimmt keine Theatersäle. In Serbien gibt es kein Tanzzentrum, nur Underground. Selbst das Magacin, das praktisch an der Grenze zur „Belgrade Waterfront“ liegt, nur von einer Straße getrennt, zählt bereits seine Tage, bis auch dieses Lagerhaus des ehemaligen staatlichen Verlags im Besitz der Stadt zum Opfer der Gentrifizierung wird.

Igor Koruga

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Igor Koruga kommt endlich dazu. Auch er beklagt sofort den Mangel an Orten: „Wenn wir Platz hätten, würden die Produktionen, auch die großen Produktionen, nicht nur zwei- oder dreimal laufen. Das Publikum ist ja da, aber es fehlt an allem, damit Künstler:innen die Möglichkeit haben, kontinuiertlich arbeiten zu können.“

Igor Koruga

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Die Probleme sind allgemein bekannt. Fehlende Infrastruktur, fehlende Finanzierungsmodelle, fehlende Strategien für eine durchdachtere Kulturpolitik als die, sich nur dann um sie zu bemühen, wenn es um den Tourismus geht. Kultur ist das Schlusslicht bei den öffentlichen Budgetkalkulationen. Laut einer letzten Untersuchung noch von 2019 betragen die serbischen Kulturausgaben weniger als ein Prozent pro Kopf, oder in konkreten Zahlen: Serbien fördert seine Kultur mit elf Euro pro Kopf. Das exjugoslawische Slowenien, nur zum Vergleich, wendet 79 Euro pro Kopf auf. Darin enthalten sind sämtliche Ausgaben, die man unter Kultur so subsumiert, also auch Denkmalschutz oder die Kosten für Museen. Der Tanz wird in diesem Konstrukt als „nicht-institutionelle Kulturszene“ geführt und erleidet damit ein besonders schmales Budget, eins für Amateurproduktionen. Dieser Zustand ist unerträglich. Die Tanzszene protestierte schon mehrfach unter dem Dach der Vereinigung der unabhängigen Kulturszene Serbiens und verhandelte mit Ministerien und Stadtverwaltungen. Aber außer einer Reihe kleiner Zugeständnisse kam nie etwas dabei heraus.

Igor Koruga tanzt “plesna-biblioteka” (Tanzbibliothek), ein erster Versuch, mit den brasilianischen Choreografen Neto Machado und Jorge Alencar eine Geschichte des Tanzes zu entwerfen

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Igor Koruga schüttelt den Kopf: „Dieser Kampf um bessere wirtschaftliche Bedingungen, um bessere Bedingungen für die künstlerischen Produktion und für eine Umverteilung der wirtschaftlichen Ressourcen innerhalb der Kultur ist dasselbe, als ginge man auf die Straße, um für bessere Bedingungen in der Gesellschaft im Allgemeinen zu kämpfen. Aber das Gute ist: Diese Kämpfe machen uns als Tanzszene überhaupt erst aus. Sie setzen die Geschichte fort, damit wir ganz langsam das erreichen können, wofür wir uns zusammengefunden haben. Wie wir in unserem Stück zeigen konnten, sind die Kämpfe um die Zeitgenossenschaft und ihre Kunst schon seit dem Moment des Zerfalls von Jugoslawien aufgeflammt. Das belegen unsere Recherchen in den Archiven.“

Den Tanz als ein Mittel des Kampfes zu verstehen, als eine Art kulturelle und künstlerische Partisanenbewegung, beginnt schon in den 1920er und 1930er Jahren und findet einen ersten Höhepunkt in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Künstler:innen zogen während der Partisanenkämpfe durch Jugoslawien und spielten auf improvisierten Bühnen für die Armee. Dazu gehörten einst unter anderem Mira Sanjina, Žorž Skrigin oder Marta Paulina Brina. Tanz war, so gesehen, immer auch Teil des Kampfes für bessere Bedingungen, für eine gerechtere Gesellschaft. Er war nie nur eine schöne Kunst.

Die erste moderne Tänzerin aus der Region hieß Maga Magazinović. Sie absolvierte die Schulen von Max Reinhardt und Isadora Duncan, war inspiriert von den Ideen einer Ellen Kay und Clara Zetkin und begeisterte sich für den Tanz als Ausdruck des Unbewussten. Sie war die erste, die einen Hauch von emanzipierten Moderne nach Serbien brachte, auch wenn ihre eigene Haltung später von eher nationalsozialistischen Ideen geprägt war.

Eine jüngere Zeitgenossin von Maga Magazinović war Smiljana Mandukić, die sich an dem großen Reformer und Choreografen Rudolf von Laban orientierte und als eine der ersten eine eigene Truppe für modernen Tanz gegründet hatte. Smiljana Mandukić war die Gewährsperson für „Der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, wird scheitern“; ihre Tänze wurden dank Nela Antonović nun wiederbelebt.

Nela Antonović

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Nela Antonović tanzt. Sie tanzt vor der Projektion von altem Filmmaterial, schwarz-weiß und mit dem Hinweis in der oberen rechten Ecke, dass es sich um eine Archivsendung des Belgrader Fernsehens handelt.

Der Schädelturm

Stane/Wikipedia

Dramatisch sind zu Beginn die Umrisse des Schädelturms zu erkennen sind, eines Denkmals für die Serben, die im Ersten Serbischen Aufstand gegen das Osmanische Reich zu Beginn des 19. Jahrhunderts gefallen sind. Dramatisch auch das Innere einer von Fackeln beleuchteten Höhle, in der nach der Eröffnungsszene mit einer Gruppe männlicher Darsteller ein weibliches Solo, dann ein Duo und eine Gruppenchoreografie zu sehen sind, voll energiegeladener Bewegungen und asymmetrischer, unerwarteter Sprünge, Drehungen und abrupter Streckungen der Gliedmaßen. Elemente der Folklore und Ballettbewegungen scheinen wie hinein gestreut. Das Spektakel wirkt wie ein Ritual, als eine Art Rebellion gegen die Götter, die im Vokabular des antiken Theaters wie gefangen erscheinen.

Parallel zur Videoprojektion stellt Nela Antonović auf der Bühne die Bewegungen einer der Tänzerinnen aus dem Filmmaterial nach. Antonovi imitiert sie nicht, sondern sie zeichnet mit ihren Körper im Punk-Kostüm lässig nach, was die Frau im sakralisierten Kleid ihr vorzutanzen scheint. Zwischen ihrer realen Aktion und der Aufzeichnung liegen ein halbes Jahrhundert. In fünfzig Jahren hat sich der Geist der Zeit verändert. Radikal sogar. Niemand würde heute noch eine Höhle in einen Heiligen Gral umwandeln. Was man spürt, ist ein Tanz wie eine alchemistische Substanz, die gegen die Korrosion der Geschichte wirken will.

Diese Choreografie von Smiljana Mandukić aus dem Jahr 1973, die anlässlich des 175. Jahrestages des ersten serbischen Aufstands im Fernsehen ausgestrahlt worden war, bezog ihren damaligen  Reiz daraus, anstelle der männlichen Kämpfer mutig weibliche Figuren in den Vordergrund des traditionellen Volksepos über den heroischen Kampf gegen die Türken zu stellen.

Denn der Tanz war immer ein Kampf gewesen. Ein Gutteil des Stücks „Der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, wird im Scheitern enden“ besteht aus solchen Nebeneinanderstellungen alter Aufnahmen und zeitgenössischer Aktionen.

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Zu Beginn tanzt Anđelija Todorović ein kleines Solo parallel zu einer Collage von Videobildern von Massenbewegungen, Kampfhandlungen, Versammlungen – als hatte die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aus nichts anderem bestanden, als das Volk zu mobilisieren und die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

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Ein anderer Dialog mit dem Archivmaterial findet zum Video des populären Lieds „Moja draga voli Kurosavu“ von Oliver Mandić statt, ein progressiver, queerer Popkünstler, der sich in den 1990er Jahren dem Nationalismus verschrieb. Der Krieg ging auch an ihm nicht vorbei.

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Danach knöpft sich Jelena Jović die Folk-Diva Zorica Brunclik vor, indem sie ihre Tanzeinlagen herrlich denunziert. Nicht nur Künstler:innen wie Maga Magazinović oder Oliver Mandić hatten einst ideologisch die Seiten gewechselt, auch die späteren Künstler:innen sind davon nie verschont geblieben und zeigen dies auch, nicht ohne Selbstironie.

Igor Koruga erzählt von dem ganz normalen Leben als Tänzer:in in Serbien. „Selbst wenn man an einem Theater angestellt ist, um etwa in einem Musical mitzuwirken, hat man in der Regel noch einen Zweitjob etwa beim Fernsehen oder um im Cast für Sänger:innen der Volks- oder Popkultur mitzuwirken. Andere Jobs sind natürlich ebenso denkbar. Man kann aber auch selbst eine Truppe gründen. Das erste Tanztheater in Serbien hieß Signum. Anđelija Todorovic und Tatjana Pajović gehörten dazu. Morgens probten sie im Theater auf der Terazije, nachmittags tanzten sie bei Signum. In den 1980er Jahren wurde der Preis für das beste Stück in Jugoslawien geteilt. Eins der beiden Stücke gewann das Terazije-Theater, das andere die Kompanie Signum. Anđelija und Tatjana mussten zweimal auf die Bühne, um die Preishälften in Empfang zu nehmen.“

Vladimir Opsenica

Es ist nicht unwichtig, eine Art von Wissen wiederherzustellen, um wenigstens ein gewisses oder ungefähres Verständnis dafür entwickeln zu können, was diese Künstler:innen mal getan haben und in welcher Geschichte sie und wir leben oder lebten. Es ist eine Geschichte, die nicht so einfach mythisch verbrämt werden kann wie etwa die heroische Geschichte des Widerstands, die heroische Geschichte des Sozialismus oder die heroische Geschichte der Krieges. All diese Geschichten sind auch nicht etwa vorbei, sondern sie existieren weiterhin und nebeneinander und Tür an Tür mit den Geschichten der Korruption, des Neoliberalismus, der Weltgeschichte. Deshalb gibt es keine lineare Struktur in diesem Stück. Stattdessen herrscht eine wilde Mischung aus dramaturgischen Aussagen, physischen Aktionen und Musikvideos.

Igor Koruga spricht davon, wie sehr der Arbeitsprozess selbst in lauter Segmente zerfiel. Er hatte Fragen gestellt an die Zeitzeugen des serbischen Tanzes, damit sie sich positionieren konnten zu den Dokumenten, die sie selber ausgewählt hatten. Ihre Antworten bezogen sich mal auf ihre Erziehung, mal auf ihre berufliche Situation, mal auf ihre politische Haltung, mal auf ihre geschlechtliche Prägung oder ihr ästhetisches Urteil – für das Publikum lädt gerade diese Fülle an Berührungspunkten zur Identifikation ein. Die Darstellenden beeilen sich nur, dieses Einverständnis jederzeit wieder zu durchbrechen durch lautstarke Kommentare oder dadurch, dass sie sich gegenseitig von der Bühne stoßen.

Vladimir Opsenica

Es geht viel auch um Glamour und Camp, also um Selbstironie. Es gibt Pop-Uniformen, das Revival alter Hits zu synthetischen Klängen, die Mode und das Design der 1980er-Jahre, dann der plötzliche Zusammenbruch im Mittelteil des Stücks. Es zeigen sich die Schrecken der 1990er-Jahre, als in Jugoslawien der ohrenbetäubende Lärm von automatischen Waffen, Kanonen, Mörsern und Explosionen überhand nahm. Ich persönlich verspürte einen seltsamen Anflug von nostalgischem Ressentiment, weil ich den beschriebenen Phänomenen und Ereignissen altersmäßig sehr nahe bin.

Sanja Krsmanović Tasić

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Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als die historischen Erzählungen auf die sich drehende Sanja Krsmanović Tasić treffen. Aus den Lautsprechern sind Interviews zu hören, ein weiteres Element dieser Inszenierung, zu der sich diese Tänzerin immer weiter dreht wie ein Derwisch des Melvevlianischen Ordens.

Während sich die Interviews – die Stimmen der Darstellenden, die in diesem Moment nicht zu sehen sind – auf die Umstände der 1990er Jahre in Serbien, den Krieg und die wachsenden Proteste gegen das Regime von Slobodan Milosević konzentrieren, transzendiert Sanja sich selbst und alle um sie herum. Als würde auf einmal eine Art von Spiritualität siegen wollen.

Nach zwölf Minuten und ungeachtet aller Aussagen über die Kriegsverbrechen und aller Verherrlichung Serbiens spindelt die Drehfigur der Sanja Krsmanović Tasić eine größere Macht hervor als all dieses verherrlichende Nachkriegs-Gerede, das in dem unsäglichen Satz mündet: „Wenn wir gewusst hätten, dass wir für einen Wolf im Schafspelz – den Kapitalismus – kämpfen, hätten wir so nicht gekämpft.“ Natürlich hat die Geschichte immer zwei Gesichter – Erfolg und Scheitern. Aber es ist der Tanz, der sich immer weiter dreht, ohne Ende und ohne Anfang.

Vladimir Opsenica

Eine typische Frage von Igor Koruga fällt ganz am Anfang des Stücks: „Seid ihr Stars?“ Darin klingt vor allem mit, dass wir in Serbien keine Stars haben, keine Persönlichkeiten des Tanzes, die landesweit oder gar europaweit den Menschen ein Begriff sind. Aber ist das ein Mangel?

Vladimir Opsenica
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Koruga sagt: „Wir haben keine Stars. Wir haben keine künstlerischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die bei öffentlichen Veranstaltungen auftreten und von Zeit zu Zeit ihre persönlichen Ansichten kundtun oder ihre Meinung sagen, die andere teilen könnten. Aber für mich sind die Menschen in unserer Show alle Stars, weil Zeitzeug:innen, weil sie in ihrer Blütezeit, oft am Anfang ihrer Karriere in den 1980er Jahren, mit den damals bedeutenden Persönlichkeiten der Kultur zusammengearbeitet haben. Sie wirkten hautnah mit bei Choreograf:innen und Regisseur:innen wie Petar Slaj, Nada Kokotović, Ljubiša Ristić … Genauso arbeiteten sie auch für die Stars der Volks- und Popkultur, für Lepa Brena, Usnija Redžepova, Vesna Zmijanac, Zdravko Čolić, Josipa Lisac … Damals gab es noch Anerkennung, man gewann Preise und der Tanzkompanie Signum wurde von der Präsidentschaft sogar ein Militärflugzeug zur Verfügung gestellt, mit dem sie nach Mexiko geflogen wurden, um ihr preisgekröntes Stück ‘Bernarda Albas Haus’ zu zeigen. Sie spielten in Russland vor Gorbatschow, und es war eben nicht nur ein Popstar wie Lepa Brena, die dies tun konnte.“

Koruga brennt an dieser Stelle, sein Enthusiasmus ist riesig. Er will dem Tanz, der Bewegungskunst die gleiche Würde verleihen, die sonst nur Schauspieler:innen, Regisseur:innen, Schriftsteller:innen, Maler:innen und Sportler:innen zuteil wird. Warum steht die Tanzszene überhaupt im Hintergrund? Koruga sieht einen Grund darin, wie Tanz von anderen künstlerischen Disziplinen wahrgenommen wird. In Serbien war die höchste Form der Tanzausbildung bis 2014 die Ballettschule der Sekundarstufe, ein Abschluss der mittleren Reife. Selbst heute gibt es noch immer keine staatliche Hochschuleinrichtung für den Tanz.

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Koruga meint, „dass der Tanz als ein relevanter künstlerischer Bereich überhaupt nicht wahrgenommen worden ist. In den Ballettschulen in Novi Sad, Belgrad und Pančevo haben wir Dozent:innen, die viel in ihre Schüler:innen investieren, damit sie die nötigen Techniken und Stile erlernen. Aber natürlich bieten diese zum Teil privaten Schulen keinerlei Mittel und Wege, sie etwa mit der Kunst des Choreografierens vertraut zu machen. Dazu bedarf es eines höheren Bildungsniveaus. Diese Leute gehen nach ihrem Abschluss, gerade wenn sie sehr talentiert sind, entweder ins Ausland, oder sie versuchen sich hier auch dann die nötigen Bedingungen und Möglichkeiten zu verschaffen, wenn es gar keine oder nur sehr wenige Räume gibt, in denen man arbeiten kann. Ohne einen institutionellen Rahmen ist es für den Tanz unmöglich, sich weiterzuentwickeln oder auch nur sichtbar zu werden. Das ist eine Folge schlechter Kulturpolitik, aber auch eine Folge fehlender Strategien für eine körperlich emanzipierte Gesellschaft.“

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Gefahr kommt vor allem auch von den Institutionen selbst. Etwas besser entwickelte Bildungsbereiche, etwa die Fakultäten für dramatische Künste, reduzieren den Tanz und die Choreografie sehr oft auf das Niveau einer Dienstleistung. Tanz hat kaum Bedeutung für die Regie und steht weit unter den Fragen nach der schauspielerischen Gestaltung eines Stücks. Tanz wird reduziert auf eine dienende, dekorative Ebene. „Wir haben ein Lied, also gebt uns ein paar Bewegungen zum Tanzen, während wir es singen.“

Vladimir Opsenica

Igor Koruga lacht, als er erzählt, wie viele Schauspieler, sobald sie an ihrer Bewegung arbeiten sollen, ein Attest vom Arzt anschleppen, damit sie nicht, wie sie es nennen, herumspringen müssen. Es gibt in ihren Köpfen kein für sie künstlerisch gültiges Bild vom Tanz. Umso wichtiger war es Koruga zu zeigen, dass es eine Geschichte des Tanzes gibt, eine sehr lebendige sogar, auch wenn es eine Geschichte ist, die scheitert. Vielleicht scheitern muss, vielleicht auch scheitern will.

Vladimir Opsenica

Igor Koruga gehört zu einer Generation, die mit den zeitgenössischen europäischen Tanzströmungen aufgewachsen ist. Seine temporäre Kompanie – Tanja, Sanja, Anđa, Jelena, Boris, Nela – wuchs in Jugoslawien auf, in Nachbarschaft zum klassischen Ballett, und sah nur bei BITEF, was aus der Welt auf sie zukam. Igor Koruga dagegen gehörte zu der ersten Generation von Künstler:innen in Serbien, die tatsächlich in der Welt und nicht nur in Serbien aufwuchs.

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In 1990er Jahren war Serbien international sanktioniert. Ein Reisepass war nichts wert, er war fast nirgendwo mehr gültig. Koruga dagegen macht sich vertraut mit den zeitgenössischen Arbeiten von Xavier Le Roy, Jérôme Bel, Meg Stuart, Vera Mantero, Mette Ingvartsen, Eszter Salamon, die er mit großem Interesse verfolgt, von ihnen lernt und ihre Workshops besucht.

Igor Koruga mit Maja Pelević in „Nema Nade“

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Igor Korugas Zusammenarbeit mit dem historischen Corpus der serbischen Moderne, den Tanzkünstler:innen der jüngeren serbischen Geschichte, seinem „Dreamteam“, bildet für ihn die logische Fortsetzung eines generationenübergreifenden Erbes. Aber es war aber auch eine Kollision, ein Clash der Generationen mit Boris Čakširan, Jelena Jović und Anđelija Todorovic, mit Tatjana Pajović, Sanja Krsmanović Tasić und Nela Antonović. Für sie war es eine Auszeichnung, noch einmal im Hauptprogramm des BITEF zu landen. An Igor Koruga stelle ich lieber die Frage, warum er diesen Versuch, eine solide Geschichte zu schreiben, schon im Titel seines Stücks als ein Scheitern begreift.

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„Weil das Scheitern dazu zwingt, etwas Neues zu entdecken und Neues zu versuchen“, antwortet Koruga: „Aber das Scheitern hat auch eine politische Seite. Der Neoliberalismus verlangt, dass wir in allem, was wir tun, erfolgreich sind. Befassen wir uns mit der Geschichte des Tanzes, dann ginge es nach diesem Narrativ allein darum, die Geschichte der Fundamente und der Erfolge des Tanzes zu erzählen. Aber wie soll das gehen, wenn unsere Geschichte, auch die politische, aus Fragmenten besteht und von einer gewaltigen Diskontinuität geprägt ist, als ein ständiger Kampf gegen die uns aufgezwungenen Regime? Scheitern hat etwas mit Verletzlichkeit zu tun, und wir sind Wesen, die unter diesen Umständen sehr verletzlich und sehr zerbrechlich leben und arbeiten. Wir versuchen, aus dieser Situation herauszukommen, wir versuchen, für eine Veränderung zu kämpfen. Wir möchten die Infrastruktur beeinflussen und sind zugleich von ihr abhängig. Aber genau diese Verwundbarkeit – und nicht die vermeintliche Stärke des Erfolgs – ist ein wunderbares Mittel des Widerstands. Dieser Kampf bringt die Körper mit ins Spiel, das Gefährdete. Diese Verletzlichkeit ist keine Angelegenheit von Einzelnen. Die Zerbrechlichkeit, Ungewissheit, Diskontinuität ist überhaupt nichts Individuelles, sondern sie ist sozial und kollektiv zu spüren. Daher die Notwendigkeit, in dieser Situation den Tanz selbst als eine treibende Kraft für den Kampf um den Tanz zu definieren, als einen eigenen kulturellen Wert. Ich will den Tanz nicht archivieren, um ihm ein stabileres Fundament zu erfinden, sondern ich will seine Zeug:innen dazu bringen, stolz auf ihren Kampf zu sein, den sie bislang geleistet haben.“

Vladimir Opsenica

Betrachtet man die Praktiken, auch den Zeitgeist von vor zwanzig, dreißig Jahren, geht es tatsächlich nicht darum, heute festzustellen, was damals auf der Welt so los war oder welche paradigmatischen Veränderungen seitdem die Geschichte des Tanzes beeinflusst haben. Im Gegenteil. Es ist eine Konfrontation mit der Geschichte, auf die es die Performance „The Desire to Make a Solid History Will End Up in Failure“ vor allem abgesehen hat, eine Konfrontation mit dem lebendigen Wissen von Körper, buchstäblich einem Wissen in Bewegung, anstelle der bloß ephemeren Vergänglichkeit von Geschichte, von der doch allenfalls die Faktenhuberei bleibt.

Igor Koruga und Station – Service for contemporary dance in Belgrad glauben an einen Kampf um den Tanz, nicht als eine Geschichte einst glorioser Ereignisse, sondern als ein – wie der Tanz selbst – sich ständig veränderndes Gedächtnis, dass wie die Geschichte sich nicht wiederholt, sondern jedes Mal, mit jedem Stück neu erschaffen wird.

Es heißt zwar, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Was aber wäre, denke ich, als ich zurück nach Novi Sad reise, wenn Geschichte fortan von den Künstler:innen selbst geschrieben werden würde?

Vladimir Opsenica