Tanzen ist Kämpfen

Belgrad - Boris Hamer
Blick auf Belgrad

Boris Hamer

Wer kennt die Tanzszene Serbiens? Niemand. Selbst das Belgrade Dance Festival zeigt nur Gäste aus dem Ausland. Dabei steckt die Kehrseite, die freie Szene Serbiens, voller Überraschungen

Genau die Hälfte der Serben sind – wenn auch unter Vorbehalt – für eine Anbindung ihres Landes an die Europäische Union. Die andere Hälfte – ebenso unter großen Bedenken – stimmt für Russland.

Jedes Wahlergebnis ist ein sicher gut manipulierbares Kopf-an-Kopf-Rennen. Jedes Ergebnis einer Wahl in diesem Land, südlich von Ungarn und östlich von Kroatien, ist genauso grundsätzlich anzuzweifeln, wie die eine Hälfte der Bevölkerung der anderen Hälfte der Bevölkerung schon aus Prinzip widerspricht.

Wir kennen diese Zweiteilung aus vielen Ländern, etwa den USA oder der Slowakei. Wo zwei Seiten ihren jeweiligen Ethos verteidigen, in Serbien den des kommunistisch grundierten Partisanenstolzes hier und da den der Wirtschaftsliberalen, die neidisch auf die gefallenen Handelsbarrieren innerhalb der EU schauen, in diesem Land stimmt wahrscheinlich wirklich etwas nicht.

Die Bevölkerung mag den Wahlausgang Anfang 2024 zugunsten des Präsidenten Aleksandar Vučić misstrauisch beäugt haben. Dagegen demonstriert hat man aber nicht am eigenen Ort, sondern ist nach Belgrad gefahren, in die quicklebendige Hauptstadt, die sowieso immer Schuld hat.

Belgrade Waterfront – nagelneue Bürotürme am Ufer der Sava

Vladimir Opsenica

Dort, in Belgrad, fand eine besonders bemerkenswerte Tanzpremiere statt, die den zauberhaften Titel trägt: „Der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, wird im Scheitern enden“. Das Stück spielt zur Hälfte in der Vergangenheit, die andere Hälfte spiegelt die Haltung der Gegenwart zu dieser durch und durch komplizierten Vergangenheit Serbiens.

Auf der Bühne stehen durchgängig Berühmtheiten des zeitgenössischen serbischen Tanzes. In der Choreografie von Igor Koruga trifft Nostalgie auf Realität. Es trifft die eigene Geschichte auf die Erwartung an eine Nation, die einfach gern so frei und mächtig wäre wie all die ehemaligen Besatzer dieses Landes es heute sind: Österreich, Deutschland, die Türkei. Oder auch Russland als die Kriegsnation Europas.

Public Performance in den 1990er Jahren – Polizei und der tanzende Widerstand prägten eine Zeit, in der Serbien Krieg gegen die ehemaligen Bruderländer führte

Nun hat Russland für den Westen Serbien zwar abgelöst – Serbien galt in den 1990ern Jahren als der Bösewicht, das Land, das sich wieder mächtig fühlen wollte, endlich autonom, und dafür teuer bezahlt hat. Aber es war, anders als in Russland, auch eine Zeit, in der sich gerade die zeitgenössische Tanzszene am Widerstand und am Widerspruch besonders heftig reiben konnte. Der Tanz wollte kämpfen. Nicht gegen etwas. Sondern für seine Existenz und Notwendigkeit. Wie heute. Wenn die Veteranen aus dieser Zeit jetzt wieder auf der Bühne stehen, setzt sich die Geschichte fort. Im Widerspruch. Denn im Konflikt erst entstehen die besten Ideen, die interessantesten Momente, die dringendsten Bewegungen. Vorhang auf für „Der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, wird im Scheitern enden“.

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Der Wunsch, eine solide Geschichte zu schreiben, wird im Scheitern enden

3,28

In Belgrad nimmt ein Tanzstück mit diesem wundersamen Titel das Scheitern als Chance – in einem Land zwischen den Fronten, umzingelt von der EU und von Russland umarmt

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