Ich bin hier auf der griechischen Insel Milos, mitten in der Ägäis. Sie ist reich an Bodenschätzen. Und entsprechend reich an riesigen Minen – die sich vor dem Tourismus an der Küste gut verstecken. Im Tagebau wird in der vulkanischen Landschaft nach Perlit und Bentonit geschürft. Dabei werden Abermillionen Kubikmeter Erde bewegt und lassen gewaltige Gruben entstehen, die den Blick freigeben auf pyroklastische Ströme, die einst wellenförmig erkalteten. Und auf Sedimentschichten sogenannter Lahare. Hier legt der Mensch die Vielschichtigkeit seiner Landschaft frei.
Landschaft ist ein Gebilde der Erdgeschichte, zu der unzweifelhaft als jüngste Schicht auch die des Anthropozän gehört – die Caterpillars als Ballerinen des Bergbaus ebenso wie die unverwüstlichen Bunkeranlagen der Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg.
Auch diese Bunker bleiben den Touristen gut verborgen, da sie auf Privatgrundstücken liegen. Und ihr Eigentümer ist immer wieder ein Bergbaukonzern. Sein Name: Imerys.
Um die Idee eines Landschaftstheaters zu erproben, kommen wir an dieser Firma nicht vorbei. Die Niederlassung auf Milos gehorcht der Geschäftsführung in Athen und die wiederum der in Paris. Die Absage von dort lautet niemals „Nein“, sondern verlangt für die Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung sechs hauptberufliche Sicherheitsbeauftragte dieser Firma – wohl wissend, dass auf Milos nur zwei Personen auf einer solchen Gehaltsliste stehen.
Die Idee des Landschaftstheaters ist eine Idee, und Ideen brauchen kein Hausrecht. Die Idee beruht zunächst auf der Frage: Muss eine Bühne notwendigerweise ein neutraler, fensterloser Ort sein, der die Landschaft aus sich ausschließt?
Oder kann die Bühne, nach dem Vorbild des Amphitheaters – wie dasjenige römische Exemplar, das sich auf Milos befindet – selbst ein Bestand von Landschaft sein? Schon in der Antike hat man sich den Echoraum eines Berghangs, den Sonnenstand und die Windrichtung zunutze gemacht – und kam damals dank der Terrassierung des Hangs – wie bei einer Tagebau-Mine – erstmals auf die Idee, das Publikum sitzen zu lassen – bis heute die immer noch gültige Definition des Theaters …
Landschaft ist immer zu groß, zu weit und viel zu sehr 360°, um sie bloß von einem Standpunkt aus zu betrachten. Man bewundert genau dieses Phänomen an der Virtuellen Realität, an den Extended Realities etwa im Fulldome-Format in den Planetarien, in denen die Betrachtenden immersiv durch fantastische Landschaften bewegt werden.
Wenn sich aber das Publikum nun selbst bewegen dürfte, selbst Teil der Landschaft wäre, und statt virtueller Realität eine Real Reality möglich wäre – ist das dann noch Theater? Oder wäre es nicht sogar eine nicht mehr zu überbietende absolute Realität, die sensorisch noch besser funktioniert als die besten verfügbaren digitalen sensing machines?
Was in einer VR-Landschaft erscheint, bestimmt nicht nur der Mensch. Es sind auch Künstliche Intelligenz, Rückkopplung und jede Menge digitale Black-Box-Zufälligkeiten im Spiel. Was in der realen Realität der Landschaft auftritt, bestimmt ebenso nicht allein der Mensch. Es gibt echte Steine, Pflanzen, Wasser, Licht, Farben, wirkliche Geräusche, Temperaturen, Wind, Nässe, Hitze, Trockenheit, eine wie gleichberechtigt wirkende Komposition von Umständen, die gegeben sind – und die sich, wenn man um sie weiß, für das Theater nutzen lassen.
In einer Landschaft, das lässt sich schlecht vermeiden, treten neben Menschen auch Tiere auf. Das geschieht sehr motiviert nur morgens und abends, mittags fast nie. Mittags lässt sich – und auch dies nur selten – die Vipera Lebetina, eine Giftschlange blicken, die auf Milos unter Naturschutz steht.
Wir befinden uns auf Milos nun oberhalb von dem Ort Fyropotamos in einer Trachila genannten Landschaft. Am 10. Juni 2023 treffen wir uns auf dem Hügel vor Sonnenaufgang und am Tag danach, am 11. Juni, noch einmal vor Sonnenuntergang. Das Licht, so düster es im Moment erscheint, ändert sich, sobald die Sonne horizontal wie ein Gassenscheinwerfer blendet. Die Pflanzen wirken wie ein Scherenschnitt im Gegenlicht. Der Blick geht, anders als auf einer herkömmlichen Bühne, dreißig Kilometer weit.
Der erste Lichtstand, Queue 1, das Morgenrot, hat eine Laufzeit von 30 Minuten und geht in 5 Sekunden über in Queue 2, wenn die Sonne hinter der gegenüberliegenden Insel auftritt.
Die Lichtstände ändern sich, wie im Theater auch. Mal sind es harte Kontraste, mal herrscht klare Sicht, mal sind nur verschleierte Konturen erkennbar, dann auf einmal ein romantisches Farbspiel. Die Schatten sind lang, dann kurz, dann unsichtbar. Sie wandern. Der Wind spielt mit oder auch nicht. Die Hitze nimmt zu und irgendwann wieder ab. Vollkommene Dunkelheit entsteht nie durch ein Black-out, sondern stets allmählich.
Der kleine Ort Fyropotamos liegt verschlafen unten im Tal. Ein Fischerboot vor einer Zeile von Fischerhäuschen, eine Kirche, Bootsgaragen, dahinter ein Parkplatz. Man sieht das perfekte Urlaubsziel. Tatsächlich ist das Fischerboot nur Dekoration. Milos’ Charme ist längst von Airbnb und Co. entdeckt. Niemand von der Insel lebt hier, nur die Touristen leben inmitten des „unverfälschten Charmes eines Fischerdorfs“. Auch das ist reales Theater. Vorgegaukelte Idylle. In Wahrheit herrscht auf Milos eklatante Wohnungsnot. Niemand vermietet noch an Einheimische, Lehrer oder Ärzte, wenn Touristen 200 Euro und sehr viel mehr pro Nacht bezahlen. Das sieht man aber nicht.
Zum Sehen nutzen wir Ferngläser. Links ist ein Tor zum Meer zu erkennen, heute beliebte Kulisse für Selfies und einst das Ladetor für den Export der Mineralien von Milos in die Welt. Wir nutzen den Vorhof des Steintors als Bühne. Diese Bühne ist von hier oben, vom Hügel aus, viel zu weit entfernt. Den Tanz da unten kann man nur mit dem Fernglas erkennen.
Rot ist deutlich. Niemand sieht den Tanz von Filio Louvari so deutlich, wie Sie ihn gerade auf diesen Probenfotos sehen, nah, in bewusst übergroßen Posen, mit ausladenden Schwüngen. Filio Louvari ist eine ehemalige Tänzerin der Choreografin Carolyn Carlson, die einzige professionell Tanzende unter den gut 5000 Einwohnern von Milos. Hier hat sie ihr Festival „From The Sea“ gegründet, in dessen Rahmen wir unsere Forschung auf dem Feld der (unmöglichen) Blicke vorantreiben können.
Geht man weiter auf dem Hügel, tauchen in einer Kurve die Minen auf. Die vordere ist stillgelegt, die hintere aktiv. Das Gelände rechts ist für den späteren Abbau gesperrt. Auch dieser Hügel, auf dem wir stehen, wird eines Tages so abgebaut werden wie man eine Theaterdekoration abbaut, hier, um nach vulkanischem Glas zu suchen, Perlit genannt, und nach schwarzem Obsidian, aus dem besonders scharfe Klingen entstehen. Die Staubstraßen nutzen schwere LKWs zum Abtransport.
Im Morgenlicht rahmen wir die Mine – rahmen die Landschaft im Stil der Landschaftsmalerei. Wir erhalten den Ausschnitt eines Genres, das gespickt mit christlichen Motiven in die Welt kam, später historische Schlachten und bukolische Allegorien zeigte, eine Landschaft, die erst im Industriezeitalter des Biedermeier als ein möglichst menschenloser Sehnsuchtsraum dargestellt wurde, um sich an der Naturgewalt und später am impressionistischen Lichtspiel zu ergötzen. Haben Landschaftstheater und Landschaftsmalerei irgendetwas miteinander gemein?
Die Landschaftsmalerei erfand in ihrer Hochblüte das Wimmelbild – jede Menge versteckter Zeichen, aufeinander verweisende Handlungen und symbolische Andeutungen. Für das Landschaftstheater wäre es – zumindest versuchsweise – naheliegend, diesen Ort als das zu nehmen, den er für die Kultur auch sonst darstellt: Entlegen genug zu sein, um Bauschutt, Altreifen und sonstigen Restmüll zu entsorgen. Derlei findet sich am Spielort wie überall – und wird behutsam ergänzt um ein altes, noch intaktes Megafon zur freien Nutzung. Und um ein weiteres Artefakt im Windspiel auf einer Spur aus frisch abgebautem Bentonit:
Klar ist: Die Landschaft ist nicht die Natur. Sie gehört immer irgendjemandem. Sie enthält zwar Natur, aber diese lugt nur hindurch durch die jüngste Erdschicht, die des Anthropozän, durch seine Betonschichten, Teerschichten, auch Ackerschichten (die manche noch zur Natur zählen wollen). Auf diesen Schichten findet sich – mit dem Fernglas aus der Ferne betrachtet – das Gewimmel der Kulturen:
Jenes afghanische Mädchen im Weizenfeld ist zweifelsohne Theater. Sie gehört nicht hierher, nicht ins erwartete Bild, nicht in diese Kultur aus Minen und Tourismus. Wäre Theater das, was Bezug nimmt auf das Verborgene und Fragen stellt, die eine Kultur an sich selber richtet, so wäre die Landschaft derjenige Ort, der die Kultur am ehesten repräsentiert. Denn alle Landschaft ist durch die Kultur bereits verfremdet.
Weil sie nicht Natur ist, beweist die Landschaft für uns, dass sie für das Theater nicht zu kompliziert, weil zu vielgestaltig ist, und sich zu wenig auf einen Fokus reduzieren lässt. Wie bei einer Wanderung das Unerwartete den Reiz ausmacht, erlaubt das Landschaftstheater die nahezu unendliche Vervielfältigung unerwarteter Ereignisse:
Oben auf den Hügel hoch über dem ehemaligen Fischerdorf Fyropotamos fühlt man die Brise des Windes, aber unten, vor dem verlassenen Gehöft, weht stürmisch ein Zelt heran – wie angetrieben von einem viel stärkeren, künstlich erzeugten Wind.
Auf einer Bühne würde man diese Szene nicht verpassen – sie wäre säuberlich eingebettet in einen linearen Handlungsstrang, dem man von einem bestimmten Anfang an bis zu einem bestimmten Ende hin zu folgen gezwungen wäre. Schon in den 1950er-Jahren schlug die berühmte amerikanische Autorin Gertrude Stein vor, mit dieser Abfolge endlich aufzuräumen und stattdessen den Blick immer wieder neu anzusetzen. Sie nannte das: „Landschaftstheater“. Was sie nicht in Frage stellte, war der Bühnenraum als solcher. Landschaftstheater war für die Theaterwissenschaft bald ein Synonym für die Theaterarbeit von Robert Wilson – denn dieser zwingt den Blick so sehr ins Detail und beschwört zugleich eine Dauer, als würde man eine Landschaft betrachten. Was mich stutzig und dann neugierig gemacht hat, war ein Satz des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann. Er sagte: „Anders als im Theater ist in der Landschaft alles immer viel zu nah oder viel zu weit weg.“ Mindestens so weit weg wie diese beiden Wesen, die von unserem Spielort aus gesehen westlich am Strand von Plathiena auftauchen.
Sie sind zu weit weg, um sie sich genau vor Augen führen zu können. Aber sie befinden sich zugleich an unserem Spielort, unter uns, sehr nah, vielleicht sogar zu nah.
Manousos Xidous, der hier in die Ferne schaut, ist der Älteste unserer Darsteller, der sich genau erinnert, wie er auf dieser Insel ohne Schuhe aufwuchs und wie deutsche Soldaten von Bunker aus, auf dem er steht, in Kriegsgefangenschaft gerieten. Er singt alte Lieder und wir schauen in die untergehende Sonne mit dem sicheren Gefühl, dass dies ein Anfang ist, eine Neuinterpretation von Landschaft mit den Mitteln des Theaters.
Denn Landschaft ist keine Kulisse, sie lässt sich nicht ignorieren, sie braucht keine Mimen, auch keine Verstärker, keine Windmaschinen, Lichtstände, Tontechniker. Sie braucht Eingriffe. Eingriffe in das, was in die Landschaft eingegriffen hat. Manche, wie Giorgos Petrarkis, Angestellter des Imery-Konzerns, der uns lange begleitet hat, glauben an die menschengemachte Re-Naturierung. Für diese Kulturleistung wird er von seinem Konzen bezahlt.
Ich hingegen glaube, dass die Landschaft immer von dem erzählt, was ihr geschieht. Und das es einer Choreografie der Blicke bedarf, um zu erkennen, wie sehr wir zugleich aus Angst, romantischer Sehnsucht und dem zwanghaften Wunsch, sich einen Ort einverleiben zu müssen, genau dieses Dilemma mit Mitteln der Kunst beschreiben können. Ein Landschaftstheater verehrt nicht naiv die Natur, weil es sonst ein Naturtheater wäre. Das Landschaftstheater ist die Kulturform, die dazu dient, unsere eigene Kultur zu spiegeln.