Hannibals Traum

Winzig wirkt die wild tanzende Horde vor der sich weit erstreckenden Gebirgslandschaft

Ernst Lorenzi

Die Kompanie Lawine Torren ist ein alpines Gewächs – so bergsüchtig, dass man sie in kein Theater sperren kann. Von Motoren so begeistert, dass die Choreografien von Hubert Lepka dröhnen und lärmen, entsteht alle zwei Jahre neu eine Alpenüberquerung hart am Limit für Mensch und Maschine.

Journalistin und Musikwissenschaftlerin aus Wien

Hannibal kam aus Karthago, einer mächtigen antiken Stadt, heute ein Vorort der Hauptstadt von Tunesien, wo sich nur noch Ruinen des alten Punierreichs finden lassen. Von hier, der nordafrikanischen Küste, brach Hannibal als Feldherr auf, um mit der Überquerung der Alpen von Nord nach Süd auch 2200 Jahre später noch im kollektiven Allgemeinwissen verankert zu sein.

William Turner 1775–1851: Hannibal und sein Heer überqueren die Alpen im Schneesturm

Wikimedia Commons

218 v. Chr. zog Hannibal mit mehr als fünfzigtausend Soldaten zu Fuß, mit neuntausend Reitern und 37 Kriegselefanten über einen Pass, wahrscheinlich im heutigen Frankreich, um einem römischen Angriff auf Spanien zuvorzukommen. Diese Geschichte sollte wieder erzählt werden, und zwar in Tirol, so befand es Ernst Lorenzi, spiritus rector dieses nun schon legendären alpinen Großraum-Events in der österreichischen Wintersport-Gemeinde Sölden. Die Idee kam ihm vor einem Vierteljahrhundert auf einer Bergspitze: „Ich hab da heroben den Sonnenuntergang gesehen, dann ist der Vollmond aufgegangen, und da dachte ich mir: ,Die Leute sind wirklich arm, wenn sie diese schöne Kulisse nicht sehen können. Die schauen immer nur bis zu ihren Skispitzen.’“

Ernst Lorenzi, im Hauptberuf ein ungestümer Ex-Fußballer, Ex-Rallyefahrer und heute Organisator von unzähligen Kultur- und Sportevents im Ötztaler Alpenraum rund um den Skiort, hatte sich früh mit dem Salzburger Hubert Lepka angefreundet und dessen exzessive Großinszenierungen etwa zur „Klangwolke“ in Linz begleitet.

Bernhard Spöttel

Hubert Lepka war gern mit von der Partie. Er findet: „Die Berge spielen die Rolle des Hindernisses, aber auch die Rolle der erhabenen Götter, die über allem thronen.“

Gemeinsam mit Firmen wie Bergbahnen und Tourismus Sölden, wie Red Bull und eben dem Künstlernetzwerk Lawine Torrèn des Regisseurs Hubert Lepka schuf Ernst Lorenzi 2001 die drei Säulen der seitdem alle zwei Jahre stattfindenden Veranstaltung. Die Bergbahnen hatten rasch erkannt, wie hoch der Werbeeffekt einer Kunstveranstaltung ist.

Hubert Lepka

Magdalena Lepka

Tourismus-Supermind Jakob Falkner

bu//etin

Die Gemeinde Sölden sollte weltoffener positioniert werden in einer Landschaft, „in der Sport und Kultur gleichermaßen willkommen sind“, so Bergbahnenchef und Tourismus-Supermind Jakob Falkner. Das alles spielte sich freilich vor der Zeit ab, als man über die Sinnhaftigkeit von Wintersport und die Klimakrise diskutierte. Eher dachte man daran, ob man für einen früheren Saisonstart bereits Ende Oktober auf dem Rettenbachferner diverse Weltcup-Rennen austragen solle.

Der streitbare Präsident des Tourismus-Think-Tanks „Future Mountain“ und Aufsichtsratsvorsitzender des Ötztal Tourismus, Jakob Falkner, reagiert noch heute gereizt auf die Frage, wie denn die Bespielung des Gletschers mit dem Klimawandel zusammengehe: „Was man gerne vergisst: Hundert Jahre im Klimageschehen beziehungsweise in der Geologie sind nichts. Die Gletscher waren immer in Bewegung. Das einzige Problem ist, es gibt bei diesem Thema nur eine Meinung, die wirklich zählt: Die Natur ist immer stärker als wir.“ Trotzig aber fügt er hinzu. „Was sehr oft verwechselt wird: Wir sind davon betroffen, aber wir sind nicht die Ursache dieses Klimawandels.“

Als würde der Berg brennen: Hannibals Heer auf Skiern

Ernst Lorenzi

Natürlich ist ein choreografisch minuziös ausgearbeitetes Spektakel wie „Hannibal“ nicht die Ursache für Eisschmelze und Klimawandel. Sie findet aber statt vor der sichtbaren Schmelze als ein über Wochen geprobtes und genau austariertes Kulturevent, das auch nur durch die Einbindung der einheimischen Bevölkerung und die Mitwirkung zahlreicher ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchführbar ist. Tatsächlich scheint irgendwie jeder und jede in Sölden involviert und mit spürbarer Begeisterung dabei zu sein. Viele Familien, mittlerweile zum Teil schon in der zweiten Generation, sind an der Produktion beteiligt, oben auf dem Gletscher und unten im Dorf. Zwei der Skischulen steuern ihre besten Lehrerinnen und Lehrer bei, Bergführende sorgen für Sicherheit im Gelände, Schneeskulpturen wie ein imposanter Elefant und das Kriegsschiff mit dem eindrücklichen, göttergleichen Kopf werden alle zwei Jahre von Fachkundigen neu errichtet. Fragt man in Sölden nach dem Stellenwert der Produktion, hört man mit stolzgeschwelltem Ton: „Wir sind Hannibal!“

Das Heer des Hannibal nähert sich aus der Luft

Ernst Lorenzi

Nach einem präzise ausnotierten Storyboard agieren die dreihundert Beteiligten, koordiniert von mehreren Einsatzleitungen, zuständig für die Fahrzeuge, Ski-Akteure, die Projektionen oder für alles, was sich in der Luft bewegt. Einzig das Wetter, ein wichtiges und manchmal recht spontan wechselndes Element in diesem Mikroklima, lässt sich nicht koordinieren. Plötzlich auftretende Windböen sind gefährlich. Hier gilt kompromisslos, so Flugleiter Hans Huemer: „Sicherheit zuerst!“ – wodurch eine kurzfristige Streichung von Auftritten etwa der Paraglider vom Bergkamm erfolgt.

Magdalena Lepka

Im Zielhang der Gletscher-Weltcup-Strecke steht bei „Hannibal“ als zentrales Bühnenelement eine gewaltige Schneepyramide, so auch bei der heuer 16. Aufführung in 23 Jahren. Es ist Anfang April. Die Wände der Pyramide sind mit Schalungselementen verstärkt, zwischen die der Schnee geschleudert und stark verdichtet wird. Damit wird das Material beinah so hart wie Beton, aus dem Motorsägen die Stufen schnitzten. Direkt vor der Pyramide ist der Schauplatz für die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den mythologischen Römern und ebensolchen Puniern – ausgeführt von einer Heerschar an alpinen Fortbewegungsmitteln und deren Piloten und Pilotinnen: Pistenraupen, Skidoos, Motocrossmaschinen, (Propeller-)Skies und Snowboards, dazu beleuchten Bergführende die Hänge, Fallschirmspringende fallen aus der Dunkelheit, Paraglider, Hubschrauber und historische Propellerflugzeuge lassen die Luft vibrieren. Den feierlichen Auftakt gibt ein von der Pyramidenspitze gespieltes Tuba-Solo, bevor die Show mit emotionsdrohender Filmmusik von Peter Valentin startet.

Auftakt mit Stößen aus der Tuba

Magdalena Lepka

Timing und Koordination aller Beteiligten sind der Schlüssel zu dieser Inszenierung. Aber das Wetter lässt das Schloss nur schwergängig öffnen. Heuer behinderten ein tagelanger Sturm und Schneefall über Ostern die Vorbereitungen und Präparierungen und natürlich auch die Probenarbeiten. Der Gondelbetrieb war eingestellt und die Gletscherzufahrt gesperrt.

Pistenbullies

Jürgen Skarwan

Vorbereitungen zu „Hannibal“ beginnen darum schon viele Wochen vor der Aufführung. So wird etwa für die 37 Pistenraupen ein eigener Weg auf der Anhöhe präpariert. Durch ihre nächtliche Fahrt wird im Licht der Scheinwerfer die gewaltige Dimension des Bergs spürbar.

Ernst Lorenzi

Regisseur Hubert Lepka hat diese wie nahezu alle seinen Produktionen rund um die Trias Mensch, Maschinen und Natur mit seiner 1992 gegründeten Kompanie Lawine Torrèn geschaffen. „Alles Echte und Vorhandene behandeln wir mit größtem Respekt“, sagt er: „Und natürlich spielt der Rettenbachferner mit. Er wird zum Akteur, den wir in all seiner Naturschönheit schätzen.“ Natürliche Umgebungen und Landschaften waren seit jeher aussagekräftige Kulissen seiner Arbeiten, in denen er menschliche Körper Extrem-Situationen und manchmal auch Gefahren aussetzt, um sie dadurch verletzlich und stark zugleich zu machen.

Aber ist „Hannibal“ wirklich noch zeitgemäß? Lepka antwortet: „Unser ‘Hannibal’ wurde von Anbeginn als ein bedeutendes Werk zeitgenössischer, österreichischer Tanzkunst rezipiert. Die Frage, ob ein Kunstwerk zeitgemäß ist, finde ich unzeitgemäß. Meine Arbeit findet meist in großen Landschaften statt und führt Menschen in und mit ihren Maschinen in eine choreografierte Beziehung zur Natur. Der sich unablässig bewegende Gletscher ist Teil dieser Choreografie. Dabei spielen wir nicht auf dem Gletscher, sondern davor. Die Aufführung findet ausschließlich auf bereits für das Skigebiet erschlossenen Flächen statt.“

Ernst Lorenzi

Manche Mitwirkenden sind seit Beginn dabei, andere sind frisch dazu gestoßen. Wie etwa die junge belgische Tänzerin Jeanne Procureur.

Richard Walch

Sie ist 2024 erstmals für die Rolle der Venus bei „Hannibal“ dabei. Das ist nicht die einzige Premiere für sie. Noch nie hatte sie bis dato an einem Seil unter einem fliegenden Hubschrauber eine Performance abgeliefert.

Richard Walch

An den Beginn dieser Zeit erinnert sich Jeanne Procureur noch ganz genau. Der Licht-Designer der Produktion, Frank Lischka, hat sie unverblümt gefragt, ob sie sich zutraut, von einem Helikopter zu hängen und zu tanzen …  Ebenso unverblümt erzählt ihr Regisseur Hubert Lepka später, dass sie als Venus hoch oben am Berghang von einem Heeres-Hubschrauber abgeholt und dann an einem Seil hängend mit wehendem roten Umhang zur Bühne gebracht werden würde. Ihre „innere Stimme“, sagt sie, war alarmiert. Zugleich hat sie gespürt, dass sie es auf immer und ewig bereuen würde, wenn bei diesem „Once in a life time“-Angebot nicht zusagt.

Ernst Lorenzi

Jeanne Procureur hat vier Jahre lang an der Salzburg Experimental Academy of Dance (SEAD) studiert und ist nun Mitglied der dort angeschlossenen Bodhi Project Dance Company, mit der sie tourt und Workshops gibt. Zu ihrer Start-Position im Steilhang kommt sie auf Skiern, die sie schon ewig nicht mehr benutzt hat, weil der Tänzerin das Risiko, sich eine Verletzung zuzuziehen, zu groß ist, um beides zu wagen: zu tanzen und abzufahren. Nun wartet sie eine knappe Stunde im Schnee, bis sie vom Helikopter abgeholt wird – live übertragen auf die Videowall am Veranstaltungsgelände.

Magdalena Lepka

Es ist der Tag der Generalprobe: In Begleitung von Tomaz Simatovic, dem langjährigen Darsteller von Hannibal, der – allerdings kopfüber – mit dem Helikopter abtritt, lässt sie sich mit Haken am Seil befestigen. Eisig wirbelt der sogenannte Downwash, der abfallende Wind des Hubschraubers, Schneebrocken durch die Luft.

Tanz im Downwash des Holkopters

Ernst Lorenzi

Ihr mondänes Pailettenkostüm in Rot ist ihr sichtbarer Schutz und dient zugleich dem Glamour. An der Bergwand entlang zu fliegen, das ist für sie „unglaublich sensationell“. Sie schwärmt, dass es sich direkt unter dem Hubschrauber, im Windschatten, „anfühlt, als ob man schwebt, als ob man selbst fliegt“. So windstill ist es dort. Es fällt ihr nicht leicht, sich auf die Choreografie zu konzentrieren, weil sie „einfach nur Kind sein und lächeln will“, was mit der „starken, wilden, wütenden Figur der Venus“ nicht vereinbar ist. So zelebriert sie über dem Publikum von einem Seil hängend ihre Göttinnenkraft mit flatterndem, langen rotem Umhang, ihre Füße in Highheels, ihr Körper voller Superwoman-Gesten, bis sie, einer Diva gleich, in Paillettenrüstung zur Erde herabsteigt. Das Publikum sieht ihren Auftritt per Livevideo-Übertragung aus der Perspektive der hoch auf dem Gletscher gelegenen, rotglühend erleuchteten Einstiegsstelle.

Ernst Lorenzi

Die Landung am Spielfeld versucht Jeanne Procureur „so anmutig wie möglich“ zu gestalten. Doch mit diesem Stunt-Auftritt ist es für die 25-Jährige nicht getan. Sie tanzt danach im Ensemble und vorne weg. Ihre Position befindet sich auf der obersten Stufe der Schneepyramide im kalten Wind der Generatoren, grell vom Licht der Scheinwerfer bestrahlt: „Man darf die Orientierung nicht verlieren, aber wenn man sich einmal akklimatisiert hat, dann ist es eine wirklich verrückte Angelegenheit. Du tanzt mit und gegen den Berg und versuchst, so große Bewegungen wie möglich zu machen.“

Donna Jewell

Magdalena Lepka

Die Choreografie geschaffen hat die gebürtige Detroiterin Donna Jewell. Als Tänzerin war sie eine Spätberufene. Als mehrfach prämierte Cheerleaderin studierte sie Geschichte, unterrichtete und startete erst im Alter von 24 Jahren eine fundierte Tanzausbildung. 1994 kam sie nach Salzburg, um an der dortigen Tanzakademie zu unterrichten. Hier saß auf einmal Hubert Lepka mit Kollegen in ihrer Klasse, um die – in dieser Region neue – Künstlerin kennenzulernen. Seitdem hat sie in einigen der Arbeiten seines Künstlernetzwerks Lawine Torrèn als Choreografin und Performerin mitgewirkt. Sie schätzt Lepkas sehr eigene Ästhetik, die viel diskutiert wird. Donna Jewell versteht seine Herangehensweise, seine Naturnähe, ganz gleich wie viele Maschinen oder auch Tiere er einsetzt. Sie schätzt, wie er sich auf die Konkurrenz der beeindruckenden Natur einlässt, die immer wie eine Manifestation des Menschen als eminenter Teil der Welt zurückwirkt: „Sein Ansatz kann sehr freudvoll sein, zeigen, wie wunderschön diese Welt ist, aber auch, dass wir sehr verletzlich sind.“

Über die Jahre beobachtete sie, dass Lepka diese Verletzlichkeit der Körper und der Menschen zunehmend betont, in dem er für seine Stücke immer gefahrvollere Settings entwirft. So bei „Hannibal“, wenn die Tanzenden sich beweisen inmitten von springenden Skidoos, also auf Kufen rasenden Motorrädern, eingekreist von Motocross-Maschinen und wild im Kreis sich drehenden Pistenraupen unter rotierenden Hubschraubern im choreografierten Gruppenkampf auf Schnee und Eis. Da schwingt wie eine Botschaft mit: „Wir können diese Sache überstehen, wenn wir nur zusammenhalten.“

Donna Jewell auf der Probe

Magdalena Lepka

Donna Jewell denkt zurück ans Jahr 2001, als sie das erste Mal am Rettenbacher Gletscher war und die Choreografie für das Stück entwarf: „Ich kam damals ein paar Tage früher hierher und habe viel Zeit auf der Pyramide verbracht, um herauszufinden, wie ich die Stufenstruktur am besten nutzen kann. Ich dachte über Nordafrika nach, über die Herkunft Hannibals, über tänzerische Positionen, die an Hieroglyphen erinnern. Das war es, worauf ich hinauswollte.“

Lorenz Seidler

Um die Choreografie in dem Open-Air-Umfeld gut sichtbar zu machen, setzt Donna Jewell auf eindeutige und ausladende Bewegungen, die in den Kunstfell-Kostümen mit ihren klaren Konturen stecken und die menschlichen Figur größer erscheinen lassen. Ganz entgegen den fließenden Bewegungen, dem Flow, den die Tänzerinnen und Tänzer sonst so großartig beherrschen, fordert Donna Jewell Akkuratesse und kantige Stopps ein. Für sie sei das „ein Bewegungsdesign, das auch aus der Ferne wahrgenommen funktioniert“.

Lorenz Seidler

Wie das gesamte „Hannibal“-Team auch, ist die Tanzkompanie international besetzt. Seit Donna Jewell als Professorin an der University of New Mexico unterrichtet, bringt sie alle zwei Jahre zur Produktion am Gletscher ausgewählte Studierende mit – von der Wüste direkt ins alpine Eis. Für einige war es das erste Mal, dass sie so viel Schnee gesehen haben … Wichtig sei, dass sie mit der körperlichen Arbeit oben am Gletscher zurechtkommen. Dort ist alles – zumindest in den ersten Tagen – ungleich anstrengender. Eine weitere Voraussetzung ist, dass sie „wirklich rasch lernen und präzise sind“, denn die Probenzeit ist äußerst knapp bemessen.

Es gibt nur eine einzige Aufführung alle zwei Jahre. Daher sind für Donna Jewell die Tage in den Tiroler Alpen immer von einem besonderen Teamgeist geprägt und von Situationen, die es sonst wohl nirgends gibt. Bei der Manöverkritik mahnt sie ihre Tänzerinnen und Tänzer: „Passt auf, dass ihr keine Schneebälle auf die Pistenbullys werft.“ Und meint im Gespräch lachend:

„Bei welcher anderen Tanzprobe würdest du so etwas je sagen?“

Doch es ist nicht nur die Arbeit vor Ort, die außergewöhnlich ist. Die besonderen Bedingungen relativieren so manche Situation im Bühnenalltag der Choreografin: „Wenn ich zurück ans Theater komme und die Bühne betrete, fühlt es sich wirklich sehr leicht an. Weil es all diese anderen Dinge nicht gibt, mit denen ich mich bei ‘Hannibal’ beschäftigen muss. Wenn ich am Theater bin und jemand verzweifelt sagt: ,Oh, ich weiß nicht, wo mein Lichtspot ist …‘ antworte ich ganz lapidar: ,Ach, Sie haben ja keine Ahnung, wie einfach es ist, auf einer echten Bühne zu tanzen.‘“

Marion Hackl

Magdalena Lepka

Als Dido, als Königin von Karthago, ist Marion Hackl gemeinsam mit Didos Lover, dem von Troja kommend an die Küste gespülten Aeneas (Ekke Hager) seit Beginn an mit am Rettenbachferner dabei.

Die Garderobe im Pressebüro

Magdalena Lepka

In diesen knapp 25 Jahren hat sich einiges verändert, vieles ist professioneller geworden, und auch etwas komfortabler. So gab es etwa die Tribüne, in deren oberen Räumen mit Blick auf die Zieleinfahrt bei Skirennen sonst die Presse sitzt und kommentiert; im Jahr 2001 war das noch nicht der Fall. Das „Hannibal“-Team nützt diese beheizten Zimmer als Garderobe, für die Maske und zum Aufenthalt. Marion Hackl bezeichnet die ersten Jahre als „Pionierarbeit“, auf der die heutige Aufführung fußt: „Wir konnten alle nicht super Skifahren und waren überhaupt nicht darauf vorbereitet, was diese extreme Höhe mit einem macht.“ Alle zwei Jahre lässt sie sich seither auf diesen speziellen Flow am Berg ein, der aus dem außergewöhnlichen Zusammenhalt des Teams heraus entsteht.

Ernst Lorenzi

In der Rolle als Dido liebt Marion Hackl ihren Aeneas in einem Bett, das an der schrägen Außenkante der Pyramide hängt. Nicht einfach in dieser steilen, exponierten Position: „Es ist eine künstlerische Herausforderung, weil es eine gewisse Intimität mit Aeneas erfordert und dann folgt ihr plötzlicher Entschluss, Selbstmord zu begehen. Also einerseits etwas sehr Privates, das andererseits halt auch diese Außenwirkung haben muss – eine Gratwanderung zwischen keinesfalls Overacting und großem Gestus. Es muss wie auf einer normalen Bühne authentisch und stimmig sein, zusätzlich wird es auf die Leinwand übertragen, muss aber trotzdem auch mit freiem Auge sichtbar sein.“

Als skurrile Besonderheit der ersten Produktion im Jahr 2001 erinnert sich die bayerische Schauspielerin daran, dass damals echte Elefanten am Gletscher eingesetzt wurden. „Das ist bei den Tierschützern gar nicht gut angekommen und wurde dann auch nicht weitergeführt. Dafür gibt’s jetzt seit einigen Jahren einen großen weißen Elefanten aus einer Opernproduktion der Salzburger Festspiele.“ Dass die überraschend wendigen Pistenbullies als Hannibalsche Elefanten agieren, passt für sie zu Hubert Lepkas technikaffine Inszenierungen, in denen auch ein Hubschrauber „ein Eigenleben bekommt“ und problemlos als Libelle interpretiert werden kann. „So habe ich durchaus gelernt, diese technischen Gerätschaften in ihrer Grandiosität zu schätzen. Die Pistenbullies sind per se spannende Tiere, und wenn sie mit ihren Schneekanonen wie mit den Flossen wackeln, erscheinen sie als ganz spezielle, faszinierende Tierwesen.“

Magdalena Lepka

Marion Hackl hat, wie einige im Team, im Lauf der Jahre auch bei anderen Produktionen von Lawine Torrèn mitgewirkt, zum Beispiel bei „Friedl mit der leeren Tasche“. Zehn Jahre lang spielten sie im Spätsommer, ein wenig weiter hinten im Ötztal, direkt am Talschluss oberhalb des idyllischen Dorfes Vent das „alpine Drama“, angesiedelt im 15. Jahrhundert, bei dem das Publikum mitwandert. Es sei eine Art stilles, intimes Gegenstück zu dem mit viel Außenwirkung und Show inszenierten „Hannibal“, sagt sie.

Die Historie von Hannibals von Karthago ausgehender Alpenüberquerung wird aus dem Off von der Stimme des TV-Schauspielers Harald Krassnitzer erzählt. Es fällt nicht immer leicht, dem märchenhaften Duktus zu folgen, was auch der zu Manierismen neigenden Sprache von Joey Wimplingers Texten geschuldet ist, noch dazu, wenn es rundherum ständig etwas zu sehen gibt. Immerhin erzeugt die Erzählungen mit feinen satirischen Anspielungen, verbunden mit mythologischem Pathos, eine eigenständige Sprachmelodie und den dazugehörenden Rhythmus.

Talkshow mit Gast Hamilcar (Jeremy Xido)

Magdalena Lepka

Das Wort persönlich ergreifen nur die Moderatorin von Karthago TV, die Choreografin Donna Jewell, und ihre Gäste. Ein Kunstgriff der Regie, durch den die Protagonisten zu Persönlichkeiten, zu individuellen Charakteren werden. Donna Jewell beschreibt ihre Rolle so: „Ich berichte als Nachrichtensprecherin über Hannibals Aktivitäten in der Welt. Zusätzlich habe ich noch eine Talkshow, zu der ich General Hamilcar, Hannibals Vater, einlade. Später interviewe ich Scipio und Hannibal“ am Vorabend der „Entscheidungsschlacht“, deren Notwendigkeit Hannibal infrage stellt. Bei diesem Gespräch treffen zwei völlig gegensätzliche Personen aufeinander: der in sich ruhende Hannibal, souverän und überlegt, und sein römischer Gegenspieler Scipio, aufbrausend, provokant und psychisch auffällig. Dementsprechend ist die kurze Szene angelegt: „Es sollte wie ein großer Wrestling-Kampf sein. Ein Interview, das ein bisschen übertrieben ist. Hannibal erscheint als ein ziemlich selbstbewusster Charakter, ein bisschen älter und ein bisschen müde von der immer gleichen Geschichte aus Angriff und militärischer Strategie. Scipio ist dagegen wie ein junger Punk, der versucht, sich zu beweisen, und nicht so nett zu sein und nicht so selbstbewusst.“

Peter Rigaud
Ernst Lorenzi

„Hannibal“ ist mit nur einer Aufführung alle zwei Jahre ein Publikumsmagnet. Doch das Publikum, das mit Shuttlebussen aus ganz Tirol über die Gletscherstraße anreist, hat sich verändert, sagt Donna Jewell: „Vor zwanzig Jahren schrien die Leute, ja, sie brüllten förmlich vor Freude und Aufregung, als final die Lawine ausgelöst wird. Jetzt haben alle ihre Handys, die mit ihren kleinen Lichtern im Publikum leuchten. Alle filmen die Show und schauen auf ihr winziges Viereck vor sich. Sie sollten die Handies weglegen, ihre Augen aufmachen und das Bergmassiv wahrnehmen, denn das ist das Besondere. Wir treten auf einer Pyramide aus Schnee und Eis auf, das ist herausfordernd und wir möchten, dass das Publikum mit seinem Bewusstsein und seiner Präsenz ganz bei uns ist!“

Die Geschichte spielt historisch an vielen Orten, vor Rom, in den Alpen, an der nordafrikanischen Küste. Und Hannibals Abenteuer mit seinem unübersehbaren Heer aus Europa und Afrika, seinen Elefanten, all das erklärt sich einem uneingeweihten Publikum nicht direkt. Es ist weitaus faszinierter von einem Cinemascope-Erlebnis mit immer noch dreihundert Mitwirkenden, die auf einer Fläche von sechs Kubikkilometern in hochalpiner Theaterlandschaft mit dem Eintreten der Dämmerung ein Choreografie wie ein Abenteuer erleben.

Im nachtdunklen Gebirge sind Explosionen am Bergkamm zu hören. Bewusst eingesetzte Feuerwerke werden gezündet. Menschen auf Skier wedeln mit bengalischen Fackeln das freie Gelände herunter. Eine Lawine donnert herab. Die Macht des Bergmassivs auf 3000 Meter Seehöhe wird nun restlos spürbar. Pistenbullys stampfen hintereinander immer weiter hinauf in die kaum erkennbaren Höhen, angeführt von lichtprojizierten Elefanten, die einen Eindruck von den Dimensionen des Bergmassivs vermitteln.

Und dann kulminiert alles in der atemberaubend spektakulären Kriegsszene. Die Pistenbullys drehen Pirouetten wie einst die Reiter, Motocrossfahrer springen mit kreischenden Motoren über Schanzen wie über ihre Gegner hinweg, Skidoos fliegen hoch auf und mittendrin kämpfen die Tänzerinnen und Tänzer. Alles verdichtet sich durch Schneekanonen und Windmaschinen zum eisigen, auch für das unmittelbar davorstehende Publikum fühlbaren Showdown. Der Helikopter mit dröhnenden Rotorblättern und eisigem Downwash kommt zum Einsatz. Hannibal schluckt Gift und entschwindet im Himmel, kopfüber an einem Seil hängend.

Showdown: Hannibal gegen Helikopter

Magdalena Lepka

Die Gletscher schwinden

Vielleicht fand nicht ganz zufällig am 5. April auch die Pressekonferenz des Österreichischen Alpenvereins zum Schwund der Gletscher statt. Deren Länge hat sich im Schnitt um 24 Meter im letzten Jahr verkürzt. An zweiter Stelle der 93 vermessenen Gletscher befindet sich der Rettenbachferner in den Ötztaler Alpen mit 127 Metern Verlust.

Ernst Lorenzi

Ein Aspekt, der den „Hannibal“-Produzenten durchaus bewusst ist und sich auch durch die laufende Veränderung der Kulisse manifestiert hat: Waren in den Anfangsjahren noch ins Eis geschnitzte Elefanten eine Attraktion, ist von dieser Wand heute nur noch ein kleiner Rest übrig. Bereits im vergangenen September ließ Greenpeace mit der Meldung aufhorchen, dass der Gletscher mit Baggern zerstört würde und sogar Sprengungen durchgeführt worden wären. Gleichzeitig stellte die Weltcup-Branche den Saisonstart im Oktober grundsätzlich in Frage. Die notwendigen Diskussionen gehen  weiter, auch wenn der Deutsche Skiverband zumindest in Hinblick auf die Arbeiten am Gletscher zu beruhigen versuchte, dass nur Steine zerkleinert worden sind, um die Beschneiung so gering wie möglich zu halten. Gefragt nach seiner eigenen Position dazu, sagt Hubert Lepka: „Der Klimawandel ist Realität und betrifft die Gesellschaft als Ganzes, und zwar weltweit. Wir alle sind verantwortlich. Sichtbar wird er zuvorderst an Meeresküsten und Gletschern, spürbar durch dreißig Grad am 7. April hier heroben. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Ötztals wissen um den Wert ihrer Gletscher, sie kennen ihre Dynamik und tun alles, um dieses Juwel so gut es geht zu bewahren.“

Juergen Skarwan

Als Regisseur ist er fest davon überzeugt: „Meine Arbeit ist immer als Partnerschaft zwischen Menschen, Maschinen und Natur angelegt: Alles Echte und Vorhandene behandeln wir mit größtem Respekt. Bei ,Hannibal’ spielt der Rettenbachferner als Akteur mit, den wir in all seiner Naturschönheit schätzen.“ Vor 25 Jahren habe er ganz bewusst einen Gletscher für diese Geschichte gewählt: „Wir beschäftigen uns in ,Hannibal’ mit dem Zweiten Punischen Krieg und lasen diesen als eine Warnung vor der Illusion, die Geschichte sei zu Ende.“

Peter Rigaud

„Zugleich kann dieses Stück, kann ‘Hannibal’ auch als Selbstermächtigung des Tales verstanden werden“, die für Hubert Lepka gerade durch die weltpolitische Entwicklung der letzten Jahre eine besondere Aussagekraft entfaltet: „Als ich Ende der 1990er Jahre den Stoff näher studiert habe, ist mir aufgefallen, wie nahe die Welt damals, 218 vor Christus, an einer Weggabelung stand. Es war nicht klar, dass das römische Imperium zur kulturell treibenden Kraft für die nächsten zweitausend Jahre wird, denn es hätte auch anders ausgehen können. Die Phönizier, die in Karthago herrschten, waren eine kulturell sehr etablierte Kraft im Mittelmeer. Es hätte ohne Weiteres passieren können, dass die phönizische Kultur die Oberhand gewonnen hätte. Wir würden uns heute dann wohl in einem komplett anderen Ambiente wiederfinden. Nichts wäre so, wie es jetzt ist, und das ist möglicherweise nur deshalb so, weil sich Hannibal, vor Rom stehend, gefragt hat: ,Was haben wir davon, Rom einzunehmen? Wir können damit nichts anfangen.‘ Das sollte uns auch passieren, finde ich.“

Ernst Lorenzi