Ein Geschrei im Gebirge

Ein Geschrei im Gebirge - tanz.dance
Die Luft ist dünn im Gebirge, hier im Bogdo-Baskuntschak-Naturreservat in Astrakhan Oblast nahe des Kaspischen Meers

Andrey Belavin

Wer bleibt? Wer muss gehen? Zum großen Auswechseln von Oppositionellen wie Alexei Nawalny gehört auch der Rauswurf von Direktoren aus Russlands Ballett-Etagen wie der von Wladimir Urin aus dem Bolshoi in Moskau.

Dies ist die Geschichte einer Reise durch ein weites Land, das ich schon seit gut einem halben Jahrhundert befahre – von Perm im Osten über Jektarinburg am Ural bis nach Astrachan unweit des Kaspischen Meers im Süden. Es ist die Geschichte eines Zeitgenossen, der schon hunderte Male den Zug von Moskau nach Sankt Petersburg genommen hat und dem die Landschaften Russlands so vertraut sind wie die weichen Samtsitze in den Theatern, deren Namen die ganze Welt kennt: das Bolshoi in Moskau ebenso wie das Mariinsky in Sankt Petersburg.

Sankt Petersburg

Vitali Adutskevich

Es ist die Geschichte, die ein Zeitzeuge nicht etwa in der Bemühung erzählt, das heutige Russland in irgendeiner Weise mit einem anderen Russland zu vergleichen, dem Russland der Perestroika oder dem der Sowjetunion. Alle Welt weiß, dass Russland und sein Ballett untrennbar miteinander verbunden sind, ein Ballett, das unter Zaren und Zarinnen zur Blüte gelangte, und von dem niemand hoffen kann, dass unter der gegenwärtigen Autokratie noch einmal Vergleichbares zu erwarten sei.

Man könnte allenfalls denken, dass in Russland die gute alte eigene Balletttradition nun intensiver denn je verehrt wird, und sie wieder pur hervortritt, weiß gewaschen von allen über Jahrzehnten gewährten Einflüssen aus New York, Paris, London oder Madrid. Aber bereits das wäre zu viel verlangt von den Gralshütern der Theater und auch den Ballettakademien. Sie sind Traditionalisten, das stimmt, aber sind sie auch ausreichend gewappnet, jenes neue Personal, jene Motivation zum Kunstwollen, jene Ambition zur interpretierenden Fortführung des großen russischen Tanzerbes in einer jüngeren, jetzigen Generation anzufachen?

Tanzen an der Peripherie von Moskau

Ekaterina Glushchenko

Ich bin darum noch einmal gereist und habe mit eigenen Augen gesehen, dass wir in einem Land leben, dass sich den Einflüssen von außen mehr denn je zu entziehen versucht, dass sich dem Publikum, wahlweise dem Volk hemmungslos an den Hals wirft, um ihm die Rubel aus der Tasche zu ziehen, nicht etwa, um es zu maßregeln oder zu erziehen, wie dies früher einmal der Fall war.
Sondern? Was wollen sie uns heute bieten, all die Häuser, die Kompanien, die Choreograf:innen? Wo stehen sie geistig, und auf der Höhe welcher Zeit? Fragen, deren Antworten für einen Moment lang kulminierten in dem angeblich „selbst gewählten“ Rauswurf des langjährigen Intendanten und Hausherrn Wladimir Urin aus dem Zentrum von Moskau, dem Bolshoi, ein Mann, der im Dezember 2023 ersetzt wurde von keinem Geringeren als Valery Gergiev. Mit diesem für mich spektakulären Wechsel beginnt meine Reise durch ein Land auf der immer verzweifelteren Suche nach seinen Künsten.

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Reisen auf Russisch

3,26

Dies ist die atemberaubende Reise ins Land des Nussknackers und ins Land der freiwilligen Selbstzensur – eine Geschichte voll korrupter Mäusekönige und Duckmäuserei, verzweifeltem Tanz-Idealismus und einem zweifelhaften Verständnis von Tradition

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