Tanzen ist heftig

Deborah Colker
Deborah Colker

Leo Aversa

Wie sich zwei populäre Künste, die Ästhetik des Körpers und die Leistung des Körpers, in einer Choreografin vereinigen: in Deborah Colker aus Brasilien

In Brasilien als Tanzjournalist leben zu wollen, in einem Land, dem nachgesagt wird, dass alle den Tanz im Blut hätten, weil man ja immer gleich an den Samba im Karneval von Rio de Janeiro denkt, das ist schon eine Crux. Denn in Wahrheit haben auch in Brasilien die großen Zeitungen, für die ich arbeite, wie Folha de S.Paulo und O Globo (wo man mich eher als Musikredakteur betrachtet) mit Tanz so wenig am Hut, wie der Rest der Welt: Tanz ist für mein Kollegium die sportive Übersetzung, die Interpretation einer als dominant betrachteten Musik. Und wenn schon Sport, sagen meine britischen Abnehmer wie The Times UK, The Guardian und FourFourTwo, dann doch bitte richtig.

Rio de Janeiro

Sport ist ein Spiel mit Gewinnern und Verlierern. Als Reporter berichte ich über die Sieger: wie sie gewonnen haben, mit welcher Taktik, Finesse, zuweilen auch mit Glück. Die Live-Reportage bangt und fiebert mit. Sobald das Spiel entschieden ist, folgt die Analyse – und die unterscheidet sich nur wenig von dem, was einen Tanzabend entscheidet. Selbst wenn dort das Urteil nicht durch Tore legitimiert ist, zählen in beiden Fällen die Argumente. Und das Erlebnis, das die Körper erzeugen. Gibt es, so gefragt, überhaupt einen Unterschied zwischen dem populären Sport mit seinen Hierarchien (Football first) und der Tanzkunst?

Ja. Denn im Tanz sind diese Hierarchien genau andersherum aufgestellt: Je populärer ein Tanz ist (Samba first), desto weniger ist ein journalistisches Urteil gefragt. Nahezu weltweit lautet stattdessen die Devise: Ballet first. Eher schickt man mich zu „Schwanensee“, um Tschaikowski in Beziehung zur körperlichen Interpretation dieser Musik zu beurteilen, als zu einer Pantomime, die vielleicht gar keine Musik braucht. Noch schwieriger wird es für die Presse bei der Zirkusakrobatik, einer genuin populären Kunst, oder beim Breakdance und seinen sportiven Battles: Auch hier stehen äußerst populäre Tanzformen au contraire zu einer dominant weißen Kultur und ihrer letztlich feudalen Hierarchie, die das Königliche Ballett weit über den plebejischen Hip-Hop und die Akrobatik stellt. Je weiter die Kunst sich vom Volk entfernt, desto höher wird ihr Preis als Luxusgut. Dasselbe gilt in der Malerei, der Musik, der Literatur. Alle Künste wollen nichts dringender, als sich von der Masse unterscheiden, allerdings nur, wenn sie mit Elementen spielen, die der Masse gefallen.

Das gilt ganz besonders für Deborah Colker. Für manche ist die große kleine Choreografin aus Rio de Janeiro gerade deshalb eine ganz große Künstlerin, weil sie Ballett mit äußerst sportlichen Aktionen, mit Rhönrädern, dem Parkour (weiten Sprüngen von Dach zu Dach) oder Kampfkunst mischt. Zugleich entführt die Profi-Volleyballerin, die sie in ihrer Jugend gewesen ist, ihr Publikum immer in Regionen, in denen es um etwas sehr Handfestes geht: den Überlebenskampf, die Umweltzerstörung, das unerfüllte Begehren …

Deborah Colkers „Frühlingsopfer“: im Bambuswald

Flavio Colker

Colker vereint Hoch- und Volkskultur wie keine zweite, nimmt von beidem das Beste: von der Klassik vor allem die Präzision, das genaue Zusammenspiel aller Elemente aus Licht, Ton und Bewegung. Und schaut dabei genau aufs Volks, auf sein Können, seine Wucht, seine Energie, auf all das, was auch sie selbst repräsentiert, wenn man ihr persönlich begegnet … in einer sehr einfachen Bar mit wackeligen Stühlen mitten in Rio de Janeiro, wo meine Geschichte beginnt.

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Kreativer Durst

3,39

Um die große brasilianische Choreografin Deborah Colker zu treffen, reicht es, in eine Spelunke zu gehen, in die Bar Rebouças – Treffpunkt der wahren Bohème von Rio de Janeiero. Hier werden Konflikte noch beim Schopf gepackt. Hier wächst auch der Stoff für viele ihrer Choreografien, für „Cão Sem Plumas“ („Hund ohne Federn“) zum Beispiel

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