Am Baltischen Meer

Blick auf die Werft in Stralsund

Peter van Heesen

Abenteuer zwischen Sonne, Segel und Wolken: Wie die Perform[d]ance-Initiative den ländlichen Raum mit Tanz befüllt.

Es ist einer dieser weichen Frühlingstage in Stralsund, an denen der Wind statt kühlen Meeresbrisen milde Seeluft in das Städtchen an der Ostsee bringt. In die Klarheit des Mittagslichts mischt sich ein Hauch von Gold, über den Dächern liegt leichter Glanz. Familien schlendern, Jugendliche ziehen durch die Straßen; die Touristen erkennt man – wie überall auf der Welt, wo es etwas zu erkunden gibt – an ihren mal staunenden, mal suchenden Blicken und der mitunter sehr zielstrebigen Art, die Altstadt zu durchschreiten. Am Hafen kreischen die Möwen. Man muss sich in Acht nehmen, dass sie nicht den Fisch aus den Fischbrötchen klauen.

Blick auf Stralsund

Peter van Heesen

Stralsund, das ehemals reiche und mächtige Handelszentrum, kennt man heute als Weltkulturerbestadt – Anziehungspunkt für alle, die das historische Flair in Deutschlands Norden lieben. Wer ans Meer, auf die Inseln Hiddensee oder Rügen möchte, kommt hier vorbei – auf ein Eis, einen Gang durch die Altstadt oder einen Besuch im Ozeaneum, dem berühmten Meeresmuseum mit seinen riesigen Aquarien und der elegant geschwungenen Fassade.

Auch ins Theater zieht es gelegentlich Touristen; der größte Teil des Publikums des Vierspartenhauses, das seit 2006 zusammen mit den Theatern in Greifswald und Putbus unter dem Namen ‚Theater Vorpommern‘ firmiert, sind allerdings Einheimische. Es ist ein überwiegend älteres Stammpublikum, das zahlreiche Intendantenwechsel miterlebt hat – einzig Choreograf Ralf Dörnen ist als Ballettchef über ein Viertel Jahrhundert im Amt und bestimmt seit 1997 die Geschicke des Ballettensembles. Zwischenzeitlich hatte er als Intendant die Leitung des gesamten Hauses inne eine Seltenheit für einen Choreografen in Deutschland.

Alter Markt, Stralsund

Peter van Heesen

Alte Eisengießerei

Peter van Heesen

Dass Stralsund für den Tanz in seiner zeitgenössischen Form so etwas wie ein Hotspot der östlichen Ostsee und zugleich kultureller Ankerpunkt der Region ist, ist vor allem dem 2001 gegründeten Verein Perform[d]ance zu verdanken. Er hat seinen Sitz im ‚Theaterpädagogischen Zentrum Mecklenburg-Vorpommern‘, mitten in der Altstadt und strahlt mit vielfältigen Aktivitäten in Sachen künstlerischer Tanzvermittlung und Tanzkunst für alle Altersstufen weit in die Umgebung aus, in die Dörfer und Ortschaften des Landkreises Vorpommern-Rügen.

Tanzende Kinder auf dem Alten Markt in Stralsund

Peter van Heesen

Claas Früchtenicht beim Klavierspielen auf dem Alten Markt

Sebastian Niendorf

Damit wird Stralsund in Sachen Tanz zwar nicht zur Großstadt, ist aber „auf keinen Fall ein Kaff“ – so sagt es zumindest der junge Mann, der an diesem Frühlingsnachmittag mitten auf dem Alten Markt ein Klavier aufgebaut hat und wie selbstverständlich seine Improvisationen vor sich hinfließen lässt. Claas Früchtenicht ist zwanzig, in Stralsund aufgewachsen, er kennt hier jede Ecke und jeden Stein.
Warum er die ganz große Bühne auf dem schönsten aller Stralsunder Plätze gewählt hat? Zufall, lacht er, er habe nur einen Platz gesucht, der weit genug von Geschäften und Restaurants weg liegt, so dass niemand ihn vertreiben kann. Und er wolle, um das Lampenfieber zu mildern, sein Publikum im Rücken haben. Am Alten Markt platzierten sich halt immer alle so, dass sie auf die Nikolaikirche und das berühmte Rathaus mit seiner Schaufassade gucken können. Dass genau die Mitte des Platzes ein akustischer Verstärker ist und selbst die zartesten Klaviertöne noch von Ferne zu hören sind, hat er erst bei Spielen rausbekommen.

Claas Früchtenicht ist nicht nur Straßenmusiker, sondern auch Tänzer. Einer, der alle Einflüsse aufsaugt wie ein Schwamm und sich gern und unermüdlich bewegt. Seit er vier Jahre alt ist tanzt er – erst in Kinderklassen, später in der Jugendcompany von Perform[d]ance. Jetzt gibt er gelegentlich selbst das Training für die Jüngeren, und er ist auf dem Weg zu einer professionellen Tanzausbildung. Warum Stralsund für ihn in Sachen Tanz nie Provinz war, beschreibt er so: „Wenn ich hier in den Tanzunterricht gehe, weiß ich, dass ich immer etwas Neues lerne. Egal, ob bei den Lehrerinnen und Lehrern, die ganz kontinuierlich unterrichten oder denen, die nur für eine Weile da sind. Manchmal steht jemand vor mir, der von ganz weit hergekommen ist, und zeigt mir, wer er ist und was man alles mit seinem Körper machen kann. Dass man bei Perform[d]ance viele unterschiedliche Einflüsse erleben kann, hat mir so viel gegeben. Und das ist auch der Grund, warum ich immer wieder in die Kurse gekommen bin: Ich wusste, es ist nie das gleiche!“

Claas Früchtenicht

Peter van Heesen

Was er bekommt, gibt er weiter. Gerade erst war Claas im Pflegeheim ‚Am Mühlgraben‘, wo überwiegend Menschen mit Demenz leben. Zusammen mit seiner ehemaligen Lehrerin, der Tänzerin und Choreografin Dörte Bähr, arbeitet er dort im Rahmen von Perform[d]ance einmal in der Woche mit Älteren, die sich vorher zum Teil kaum noch bewegen konnten und durch das, was die beiden dorthin bringen, ihre Beweglichkeit und Selbstständigkeit zurückgewinnen. Es ist weder Physiotherapie noch Gymnastik- oder Tanzstunde, eher eine Art von freudvoller, spielerischer und sehr individueller Körperarbeit, mit der die eigene physischen Möglichkeiten ausprobiert und in diesem Fall für eine Weile zurückgewonnen werden können.

Tanzklasse Perform[d]ance

Peter van Heesen

Claas meint, dass sich die Arbeit im Altenheim im Kern nicht sehr von den Kindertanzklassen unterscheidet: Nicht Schritte lernen, nicht gleich tanzen, stattdessen sehr viele Spiele und den Körper kennenlernen. Dörte Bähr habe ihm gezeigt, wie man sich bewegt ohne sich zu verletzen – und vor allem, wie man Spaß daran hat. Dem Zwanzigjährigen eine große Zukunft als Tänzer vorauszusagen, fällt nicht schwer. Claas Früchtenicht ist, wie er sagt, „mit Tanz sozialisiert – und mit Perform[d]ance groß geworden.“

Peter van Heesen

Gegründet wurde der Verein Perform[d]ance vor inzwischen über 20 Jahren – vom Choreografen Stefan Hahn und der Kulturmanagerin Dörte Wolter. Sie ist heute Anfang vierzig und in Stralsund aufgewachsen, er ist zwanzig Jahre älter, ursprünglich aus Hessen und nach dem Choreografie-Studium in Berlin erst für eine Inszenierung nach Anklam gegangen und schließlich nach Stralsund gezogen.

Tanzklasse Perform[d]ance

Peter van Heesen

Als künstlerischer Leiter ist Stefan Hahn mit viel Energie für Perform[d]ance im Einsatz: In den Studios des Theaterpädagogischen Zentrums unterrichtet er Kurse, inszeniert Tanzstücke mit der Jugendkompanie, hat ansteckende Ideen und manchmal große Visionen. Er ist eher ‚a character‘, wie es in Großbritannien mit vornehmer Zurückhaltung heißen würde, als ‚everybody’s darling‘, aber auch einer, der seine Ziele leidenschaftlich verfolgt und seine Schüler:innen unermüdlich für den Tanz zu begeistern versteht. Für Claas Früchtenicht ist er ein älterer Freund und Mentor, der ihm – neben der Liebe zum Tanz – vor allem eins mitgegeben hat: Wenn man mit dieser Kunst nicht nur Spaß, sondern auch Erfolg haben will, braucht man Disziplin und Kontinuität.

Stefan Hahn

Peter van Heesen

Dörte Wolter ist eine kluge und beharrliche Verknüpferin von Ideen, die den Überblick behält; für den Verein arbeitet sie als Managerin – eine ihrer unzähligen beruflichen Verpflichtungen, die sie überall hinbringen. Sie reist viel, sieht viel, bringt von ihr produzierte Tanzstücke auf internationale Festivals und vernetzt darüber hinaus Perform[d]ance mit Künstler:innen und Initiativen aus anderen Bundesländern sowie dem internationalen Feld.

Tanzklasse Perform[d]ance

Peter van Heesen

Über die Jahre haben die beiden eine Vielzahl an Kontakten entstehen lassen und nach und nach erweitert – erst in die Stadt und den Landkreis, dann nach Vorpommern und das ganze Bundesland. Die bislang produktivste und nachhaltigste Kooperation hat Perform[d]ance mit dem Residenzort Schloss Bröllin und dem Theater Vorpommern geschlossen. Zusammen realisieren die drei Partner im Projekt ‚Mecklenburg-Vorpommern tanzt an‘ – dank des mehrjährigen Förderprogramms ‘Tanzpakt’ – mit vereinten Kräften Produktionsresidenzen, Klassenzimmerstücke, Tanzfeste und inzwischen auch das wiederbelebte Greifswalder Festival, das jetzt ‚Tanzfusionen‘ heißt.

Dörte Wolter

Peter van Heesen

Es ist eine nicht immer reibungslose, aber überaus produktive Kooperation, die getragen wird von dem außergewöhnlichen Engagement einzelner Persönlichkeiten: Zusammen mit Dörte Wolter und Stefan Hahn von Perform[d]ance sind es der Choreograf Martin Stiefermann und die Kuratorin und Kulturmanagerin Sabine Gehm als Vertreter:innen für Schloss Bröllin, die gemeinsam mit der Dramaturgie und der Leitung des Theaters Vorpommern in Mecklenburg-Vorpommern enorm viel bewegt und das Bundesland in Sachen Tanz auf die Landkarte der vitalen Flächenländer gehoben haben.

TanzFusionen in Greifswald

Peter van Heesen

Über Perform[d]ance sagt Dörte Wolter: „Es braucht ganz viel Vernetzung, jeden Tag: etwa wenn es um die Etablierung neuer Angebote geht, mit Eltern, Schulleitungen, anderen Kulturträgern oder der Stadt- und Kreisverwaltung.“ Sie kennt die kulturpolitischen Strukturen, Akteur:innen und die Politik seit Jahrzehnten und ist zugleich vertraut mit der deutschen sowie der internationalen Tanzszene – eine ideale Ausgangssituation, um Tanzkünstler:innen aus verschiedenen Ecken der Welt nach Vorpommern zu bringen. „Perform[d]ance ist keine Insel, sondern eine Initiative, die in alle Richtungen ausstrahlt“, sagt Dörte Wolter.

TanzFusionen auf dem Marktplatz in Greifswald

Peter van Heesen

So gibt es nicht wenige Abende, an denen in einem der Stralsunder Restaurants international erfolgreiche Choreograf:innen und Tänzer:innen wie Roser López Espinosa aus Spanien, Tamara Cubas aus Uruguay, Raymond Liew Jin Pin aus Singapur, Patricia Apergi aus Griechenland und unzählige weitere Künstler:innen mit den Stralsunder Tanzschaffenden in verschiedenen Konstellationen zusammensitzen – sei es, weil sie im Rahmen einer Residenz an einer Tanzproduktion arbeiten, sei es, weil sie an einem Klassenzimmerstück proben oder mit PopUp-Stücken hier auf Tournee sind.

Tanzen am Sund in Stralsund

Peter van Heesen

Das Kernteam von Perform[d]ance bildet ein halbes Dutzend engagierter Menschen verschiedener Professionen mit Sitz in Stralsund: Sie kommen aus der Tanzkunst und -vermittlung, aus den Bereichen Organisation, Management, Licht- und Videodesign, Bühnen- und Kostümbild. Weitere Tanzkünstler:innen stoßen temporär dazu, bleiben ein Jahr oder zwei und ziehen dann weiter. Dann gibt es die, die nur für einen kurzen Input, zum Beispiel einen Workshop oder eine Residenz anreisen – und unbedingt wiederkommen wollen.

Perform[d]ance-Team (von links nach rechts: Claas Früchtenicht, Julia Krassow, Steffi Hielscher, Stefan Hahn, Dörte Bähr, Dörte Wolter, Olga Kiateva, Felix Grimm)

Peter van Heesen

Das Team ist international besetzt: Die Tänzer:innen und Choreograf:innen, die in Stralsund regelmäßig Kurse geben und Stücke inszenieren, kommen aus Deutschland, Ungarn, Brasilien, Russland oder – seit jüngster Zeit – aus der Ukraine. Einige von ihnen pendeln zwischen Stralsund und größeren Städten wie Berlin oder Hamburg, andere ziehen für eine Weile hierher. Es ist genau diese Mischung aus Kontinuität und immer wieder neuen Einflüssen, die die Qualität von Perform[d]ance ausmacht und die die 60.000-Einwohnerstadt Stralsund zu einem vitalen Ort des Tanzes hat werden lassen.

Olena Polianska

Peter van Heesen

Für Choreografin Dörte Bähr ist der Austausch mit neuen Kolleg:innen „unglaublich stärkend – etwas, das Mut und Kraft gibt zum Weitermachen“. Die 50-jährige, die nach Ausbildungs- und Arbeitsstationen in Leipzig, Essen, Dresden und Berlin in ihre Heimat Vorpommern zurückgekehrt ist, gehört seit 2004 zum Perform[d]ance-Team und erlebt den Wert der lokalen und regionalen Vernetzung nahezu täglich.

Welttanztag auf dem Alten Markt in Stralsund

Peter van Heesen

„Hier kennt jeder jeden: Wenn ich eine Gruppe Jugendlicher auf der Straße sehe, weiß ich genau: Dieser Junge da drüben tanzt bei mir und sein Bruder bei Stefan. Das sind die Kinder des Bürgermeisters oder der Pastorin, die so begeistert war von der letzten Aufführung, dass sie für das nächste Mal den Gemeindesaal angeboten hat. Diese vielfältigen und über die Jahre gewachsenen Verbindungen sind typisch für das Leben in ländlichen Kontexten – und unheimlich wichtig für unsere künstlerische Arbeit.“ Die findet in Nachmittagsunterrichten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt, in Schulkassen – und in einem Kurs, der ‚Tanz ohne Alter‘ heißt, den aber alle nur ‚die Landfrauen‘ nennen.

Öffentliches Tanzen vor dem Hansa-Gymnasium in Stralsund

Peter van Heesen

Dafür fährt Dörte Bähr jeden Mittwochabend von Stralsund ins vorpommersche Hinterland. In ihrem geräumigen Kombi, dem man die Jahre und unzähligen Transporte von Lautsprechern, Kostümen und Bühnenaufbauten, Hunden und Kindern ansieht, geht es vorbei an den Plattenbau- und Kleingarten-Ausläufern von Stralsund und Greifswald, an Feldern und durch kurze Waldabschnitte. An norddeutscher Backsteingotik, halb verfallenen oder schön renovierten Gutshäusern, einer Rundkapelle im schwedischen Stil, unzähligen neugebaute Einfamilienhäuser in Ocker und Giftgrün und – unvermeidlich in dieser Gegend – Windrädern in allen Größen: eine Gegend, nur wenige Kilometer entfernt von der Ostsee und doch ganz weit weg von dem Trubel des Tourismus.

Peter van Heesen

Jetzt im Sommer tanzt die Gruppe von Frauen zwischen 50 und 85 manchmal auf dem Hof von Nanni Mau, der zwischen Feldern und Straßen liegt. Um Haus und Stall wachsen in reizender Unordnung Kastanienbäume, Linden und Tannen, im Garten hinter dem Haus stehen die Apfelbäume so eng, dass ihr Blattwerk die dahinterliegenden Felder verbirgt, Beim Überqueren der buckeligen Wiesen verknackst man sich die Knöchel und kriegt Risse an den Schienbeinen von den riesigen Brennnesseln und Disteln. Bei der Ankunft scheint die untergehende Sonne auf den betonierten Platz vor dem Haus und der süße Duft des Flieders mischt sich mit der Würze der wilden, krautigen Kamille und dem Geruch des Schweinestalls. Der Blick wird sich an diesem Abend immer wieder im weiten, fast wolkenlosen Himmel verfangen.

Peter van Heesen

Nanni Mau, eine kräftige Mittfünfzigerin mit sonnengebräuntem Gesicht und warmen Augen, ist hier aufgewachsen, aber seit vielen Jahren im Nachbarort zuhause; heute leben hier, neben einer jungen Praktikantin, nur noch zwei Schweine von – aus Sicht der Städterin – schier unvorstellbarer Größe, zwei schottische Hochlandrinder, einige Schafe und Lili, die Kuh.

Peter van Heesen

Die Tiere werden an diesem Abend die einzigen Zuschauer sein und tatsächlich scheinen sie von der Energie, die beim Tanzen entsteht, angezogen zu werden. Udo, Nannis Ehemann, hat denselben freundlichen Blick wie seine Frau, winkt aber lachend ab als er gefragt wird, ob er heute eine Runde mittanzen möchte. Bevor er ins Auto steigt, fasst er sich spaßeshalber an den Rücken, um zu demonstrieren: Auf keinen Fall! Und so bleiben die nach und nach mit Autos und Fahrrädern heranrollenden Frauen unter sich.

Peter van Heesen

Bevor es losgeht und sie sich ganz auf die Bewegung konzentrieren werden, bauen Nanni, Annett, Elke und die anderen in einer windgeschützten, von der Abendsonne beschienenen Ecke am Haus ein Buffet aus selbstgemachten Köstlichkeiten aus ihren Gärten auf: Senfgurken, eingelegte Zucchini und Pflaumen aus der letzten Saison, gerade aus dem Boden geholte Radieschen, Löwenzahngelee, frische Spinattaschen, Brot und Suppe – alles für ‚hinterher‘, die gesellige Runde, die auf das gemeinsame Tanzen folgt.

Peter van Heesen

Der Kurs beginnt im kreisförmig angeordneten Stehen mit einem Bewegungsfluss aus unterschiedlichen Richtungen und Dynamiken: den Körper weit ausstrecken und eng zusammenziehen, Arme und Hände spreizen, drehen, verknoten und dehnen, Füße und Beine eng zusammen und weit in die Grätsche stellen, Schultern rollen, Rücken durcharbeiten. Sich schnell, langsam, fließend, eckig, impulsiv bewegen. Die Aufmerksamkeit, die den ganzen Tag überall, nur nicht auf dem eigenen Körper lag, soll wieder auf das eigene physische Empfinden zurückgelenkt werden. Dörte Bähr betont die regenerativen Elemente des Tanzes, aber auch die lustvollen und spielerischen Ebenen.

Peter van Heesen

Nach und nach werden aus den ungelenken, noch steifen oder kantigen Ausführungen der Frauen weiche Bewegungsflüsse. Den Genuss dieses Tuns ohne Beobachtung und Bewertung kann man den Teilnehmerinnen in den offenen, manchmal lachenden Gesichtern ablesen. Mehr Stirnrunzeln und Anstrengung gibt es später während der Koordinationsübungen: bei Schritt- und Armbewegungen in verschiedene Richtungen müssen die Synapsen erst verdrahtet werden. Nach und nach arbeiten sie sich durch den ganzen Körper: von den Füßen über die Beine und dem Rumpf zu Armen, Händen, Hals, und Kopf.

Peter van Heesen

Nicht alles gelingt. Gescheiterte Versuche werden mit zärtlicher Selbstironie oder Seufzern quittiert oder gleich abgehakt. In Dörte Bährs Kursablauf muss niemand bis zur Perfektion an Übungen arbeiten; es geht ums Spüren, Entwickeln und Wiederfinden des Körpergefühls, Ausprobieren und Spielen – auch mit der physischen Darstellung von Emotionen: Wie drücken sich Aufregung, Langeweile, Wut, Freude und Liebe im Körper aus?

Peter van Heesen

Hier gehen die Frauen lustvoll bis an die Grenzen zur Karikatur, recken die Nasen in die Höhe, blicken sich verachtungsvoll oder mit vor Zuneigung triefenden Hundeaugen an, wenn sie aneinander vorbei tanzen. In der ein oder anderen kann man die Schauspielerin entdecken, die sie – vielleicht – in einem anderen Leben geworden wäre.

Peter van Heesen

Die deutlich erkennbaren Unterschiede in Temperament und Charakter können nicht verbergen, dass in ihren gelebten Leben von allem etwas steckt: Kraft, harte Arbeit, Durchhaltevermögen, Pragmatismus, Verlusterfahrungen, Erschöpfung, Enttäuschungen, aber auch eine große menschliche Wärme und Schönheit, die Fähigkeit zur Freude und die Sehnsucht nach Glück. Deswegen sind sie hier: Weil sie im Tanz etwas finden, das im Alltag nicht so einfach zu erreichen ist – das Gefühl von Leichtigkeit, Gelöstheit und Sinnlichkeit, die Erfahrung, sich selbst zu spüren.

Dörte Bähr (rechts)

Peter van Heesen

Als Gruppe strahlen sie, bei aller Bewegungsfreude und -lust, eine große Ruhe und Vertrautheit miteinander aus, ein Selbstverständnis, das entsteht, wenn man sich schon viele Male im Tanz und Spiel gegenseitig gezeigt, gesehen und angefasst hat. Hier zeigt sich deutlich, was Dörte Bähr meint, wenn sie sagt: „Beim Tanzen gibt es immer eine Auseinandersetzung mit den anderen – selbst, wenn man alleine tanzt.“

Dörte Bähr (rechts)

Peter van Heesen

Jeder Mensch ist ein Tänzer – Rudolf von Labans berühmtes Diktum gilt auch für die Arbeit von Perform[d]ance in Vorpommern. Von Anfang an war Dörte Wolter und Stefan Hahn zweierlei klar: Möglichst viele Menschen zwischen Barth und Richtenberg, Rügen und Demmin sollten mit Tanz in Kontakt kommen und es soll aus einer tanzkünstlerischen, nicht -pädagogischen Haltung heraus gearbeitet werden. Neben zeitgenössischer Tanztechnik als Grundlage wird vor allem der kreative Anteil betont – ob als Tänzerische Früherziehung, Kreativer Kindertanz, Zeitgenössischer Tanz für junge Menschen oder in Kursen mit fantasievollen oder sprechenden Namen wie ‚BoysBoysBoys‘, ‚Inge tanzt‘ oder eben ‚Tanz ohne Alter‘.

Peter van Heesen

Um auch Kinder zu erreichen, die nicht freiwillig zu Tanzkursen kommen, kooperiert das Team von Perform[d]ance im großen Stil mit Schulen und Kindertagesstätten. Über vierzig Einrichtungen in der Umgebung konnten sie für den Tanz gewinnen – darunter die Jona-Grundschule, das Hansa-Gymnasium und die Integrierte Gesamtschule Grünthal in Stralsund sowie Schulen und Kindergärten auf Rügen und um Greifswald herum. Mehr als 170 Schulklassen wurden durch Perform[d]ance-Projekte in den letzten zwei Jahrzehnten in Bewegung versetzt. Mit der Freien Schule Rügen in Dreschvitz gibt es eine besonders intensive und kontinuierliche Kooperation. „Wir holen die Kinder dort ab, wo sie ihre meiste Lebenszeit verbringen: in der Schule“, sagt Stefan Hahn.

Steffi Hielscher mit Kindern beim Tanzkurs

Peter van Heesen

Unabhängig ob Vormittagsunterricht oder Nachmittagskurs, eines ist für die Arbeit von Perform[d]ance charakteristisch: Gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen, Tanzstudierenden und professionellen Künstler:innen sollen anspruchsvolle Choreografien kreiert und präsentiert werden – gern auch jenseits von Studios und Theatern. Vor allen in den ersten Jahren nach der Gründung im Sommer 2001 hätten sie mit ihren Inszenierungen ungewöhnliche Orte in Stralsund und Umgebung bespielt, erzählt Dörte Wolter.

Olga Kiateva mit Jugendlichen beim Tanzkurs

Peter van Heesen

Zum Beispiel in den damals noch existierenden Sundlichtspielen – ein ehemaliges Kino, im Spaßbad Hansedom, an der Stralsunder Volkswerft, in Kulturkirche St. Jakobi, an einer Bootswerft in Lauterbach auf Rügen, im Historisch-Technischen Museum in Peenemünde oder in einer Industriehalle des Unternehmens Ostseestaal. Die Tanzkunst soll die Menschen an Orten erreichen, die nicht sofort mit der Kunst assoziiert werden – und daher eine andere Realitätsnähe garantieren.

Blick auf die Werft in Stralsund

Peter van Heesen

Dann erst kamen auch etablierte Kulturorte für die Präsentationen dazu: die Theater in Putbus und Stralsund, der Marstall auf Rügen und schließlich – als Stammspielort – die beim Theaterpädagogischen Zentrum gelegene Alte Eisengießerei. Über fünfzig größere und kleinere Inszenierungen sind mit den Jahren entstanden, in Kursen, aber auch mit Schulklassen. Die öffentliche Sichtbarkeit bleibt ein zentrales Moment in der Arbeit von Perform[d]ance: Bis heute wird am Welttanztag jedes Jahr auf den Straßen Stralsunds, dem Alten und Neuen Markt getanzt.

Die Themen und inhaltlichen Aufhänger der Stücke sind so verschieden wie die Menschen. Mal kommen sie aus der Lebensrealität der jungen Menschen – die Fragen nach der eigenen Identität, nach Gefühlen und Situationen, denen sie als Heranwachsende ausgesetzt sind, nach Träumen, Ängsten und Hoffnungen oder auch nach digitalen und realen Kommunikationsmethoden. Oder es sind politische Inhalte wie die Auseinandersetzungen mit dem Fremd- oder Anderssein, die Zerstörung der Natur und des Planeten. Manchmal dienen auch andere Künste zur Inspiration: Märchen von Hans Christian Andersen, Geschichten von Theodor Storm oder Mark Twain, die wilde Welt der Comics oder die bunte der Farben.

Welttanztag auf dem Alten Markt in Stralsund

Peter van Heesen

Während Dörte Bähr Themen und Choreografien gemeinsam mit den jungen Tänzer:innen entwickelt, beginnt Stefan Hahn jede Produktion mit einer konkreten künstlerischen Idee. „Ich geh mit einer Vision in die Inszenierung. Das mag old-school sein im Vergleich zu neueren Ansätzen im partizipativen Tanz, bei denen erst gemeinsam ein Thema erforscht wird. Das ist aber nicht mein Ding.“

Szene aus ‚Die Regentrude‘ von Dörte Bähr in der Alten Eisengießerei

Peter van Heesen

Ausgesprochen erfolgreich ist er mit seinem Ansatz im Rahmen der Jugendkompanie, deren Mitglieder naturgemäß alle paar Jahre wechseln, aber immer stark gefordert werden. Dreimal wurden sie bereits zum Tanztreffen der Jugend nach Berlin eingeladen: 2022 mit „ÜberLeben“, 2018 mit „Babel“ und 2014 mit „COMIX“. Es ist nicht nur die höchste Auszeichnung, die eine von und mit Jugendlichen erarbeitete Tanzproduktion erhalten kann; diese Einladungen zeigen auch: Perform[d]ance holt die Welt nach Stralsund, aber es trägt ein Stück Stralsund auch in die Welt.

Szene aus „ÜberLeben“ von Stefan Hahn in der Alten Eisengießerei

Felix Grimm

Für die verschiedenen Kurse, Unterrichte und Proben fahren Stefan Hahn, Dörte Bähr und ihre Kolleg:innen oft weite Wege – nach Barth am Bodden, Bergen auf Rügen oder eben ins vorpommersche Hinterland. Innerhalb einer Woche kommen manchmal Hunderte von mit dem Auto zurückgelegte Kilometer zusammen. Wenn man nur ein Merkmal nennen dürfte für den Tanz in ländlichen Regionen, dann wären es die langen Fahrten und das ständige Auf-Achse-sein, um die Tanzkunst unter die Leute zu bringen.

Karolina Serafin

Doch ohne diesen Aufwand an Fahrt- und damit Lebens- und Arbeitszeit geht es nicht in ländlichen Regionen – nicht dann, wenn der Anspruch an die eigene Arbeit lautet: Jedes Kind im Landkreis soll einmal in seinem Leben mit Tanz in Berührung gekommen sein, bevor es erwachsen wird. Ein Satz, mit dem Choreograf Stefan Hahn die Perform[d]ance-Philosophie auf den Punkt bringt – und entsprechend häufig zitiert wird. Jedes Kind einmal in seinem  Leben mit Tanz in Berührung bringen, das funktioniert in Vorpommern am besten auf Rügen. Die Freie Schule Rügen in Dreschvitz ist eine Grundschule der besonderen Art, ein Ort des Lernens, wie man ihn sich erträumt. 

Rügenbrücke

Peter van Heesen

Auf einem weitläufigen Gelände mitten in der Natur sind Schule und Hort auf mehrere Gebäude verteilt; der angegliederte Waldkindergarten ist in zwei bunten Bauwagen untergebracht. Es gibt einen üppigen Garten mit Kräutern und Gemüseanbau, in dem die Kinder erste botanische Erkenntnisse gewinnen können, einen Park mit alten Bäumen und Wasserläufen zum Spielen und Erkunden – und gleich dahinter die sanfte Hügellandschaft, die Rügens Hinterland so reizvoll macht. Rund 130 Schüler:innen gehen hier zur jahrgangsübergreifenden, Montessori basierten Grundschule, heißt, die Klassen eins bis drei und vier bis sechs werden je gemeinsam unterrichtet.

Freie Schule Rügen

Peter van Heesen

Mit der Freien Schule verbindet Perform[d]ance eine lange Zusammenarbeit. Seit sechszehn Jahren erarbeiten die Tanzkünstler:innen und -vermittler:innen ein Schuljahr lang mit einer Jahrgangsmischung aus Klasse vier bis sechs eine Tanzinszenierung – inklusive drei Schulstunden Tanz pro Woche, Bühnen- und Kostümproben sowie zwei Vorstellungen am Theater Putbus. Auch Vorstellungsbesuche gehören dazu; das eigentliche Gewicht liegt aber auf dem gemeinsamen, kreativen Erarbeiten eines Tanzstücks, das schließlich auf der Bühne des Theaters Putbus gezeigt wird.

Aufführung in der Freien Schule Rügen

Dörte Wolter

Das Schuljahr der intensiven Auseinandersetzung mit dem Tanz läuft an der Freien Schule im Rahmen des sogenannten ‚kulturellen Dreiklangs‘: ein Jahr lang wird getanzt, im nächsten Jahr Theater gespielt und Kulissen gebaut und im übernächsten im Chor gesungen und im Orchester musiziert. Damit hat jedes Kind drei Jahre lang die Möglichkeit, unterschiedliche künstlerische Herausforderung zu erleben und mit verschiedenen kreativen Ausdrucksweisen auf der Bühne zu stehen.

Peter van Heesen

Ex-Schulleiterin Monika Morawietz, die durch die Schulgemeinde beauftragt wurde, den kulturellen Dreiklang einzuführen, meint: „Damit sind Tanz, Theater und Chorsingen nicht Schulfächer im Verborgenen, sondern drei Chancen, drei Mal so richtig zu brillieren.“ Im Jahrgang Tanz seien Schüler:innen und Eltern durch die erweiterten Tanzproben, die in der Endphase auch an den Wochenenden stattfinden, besonders gefordert. Vieles muss organisiert werden, vor allem die Transporte. Wie in vielen ländlichen Regionen ist auch auf der Insel die öffentliche Infrastruktur zwar vorhanden, aber nicht so ausgebaut, dass die Kinder mit dem Bus zu den Probenorten fahren können. Sie müssen gebracht werden.

Szene aus der Aufführung ‚Quasi nix‘ von Julia Krassow und Dörte Bähr im Theater Putbus

Peter van Heesen

Mittlerweile, so Monika Morawietz, hätten auch die Eltern den Zyklus des ‚kulturellen Dreiklangs‘ verinnerlicht; sie wissen: Das eigene Kind in Dreschvitz zur Schule schicken bedeutet, auch eigene Zeit und Aktivität investieren – ganz besonders im Tanzjahrgang, dem Jahr der großen Herausforderungen. Aber es bedeutet auch: Das Kind wird auf der großen Bühne stehen und eine einmalige, wertvolle Erfahrung machen.

Peter van Heesen

Von den Kindern werde das Tanzjahr „gefürchtet und geliebt“, lacht Monika Morawietz: „Aber sie gehen unendlich gestärkt aus dieser Erfahrung hervor.“ Nicht nur ihre Körperhaltung sei viel überzeugender als vorher, sie entwickelten auch eine neue, selbstbewusstere Ausstrahlung. „Wenn man die danach im Unterricht bei einem Vortrag erlebt, dann sieht man: Sie leben den Vortrag mit ihrem ganzen Körper, mit ihrer ganzen Gestik und Mimik. Das ist einfach ein Geschenk.“ Niemals, so Monika Morawietz, hätten sie sich in der Schule dafür entschieden, auf diese Weise Tanz in den Schulalltag zu integrieren, wenn sie nicht geglaubt hätten, dass diese Kunst eine enorme Wirkung auf Heranwachsende habe.

Szene aus der Aufführung ‚Quasi nix‘ von Julia Krassow und Dörte Bähr im Theater Putbus

Peter van Heesen
Elisabeth Nehring

So einfach wie in Dreschvitz war und ist es nicht auf jeder Schule. Dass Tanz eine wertvolle Erfahrung für Kinder und Jugendlichen sein kann – diese Überzeugungsarbeit hat das Team von Perform[d]ance an anderen Schulen erst mühevoll geleistet. Schulleiter:innen und Lehrer:innen mussten überzeugt, erbitterte Widerstände gegen das jeweilige Tanzprojekt von Schülerinnen und vor allem Schülern aus dem Weg geräumt werden. Stefan Hahn erinnert sich an ein Projekt, in dem sie mehr als die Hälfte der Probenzeit damit verbracht hätten, Abwehr und Skepsis der Schüler:innen zu überwinden. Mit einem Schüler, der bereits als ‚Krisenfall‘ eingeführt wurde, hat er Soloproben gemacht und hat schließlich mit ihm zusammen in der Vorstellung getanzt.

„Ich will sie alle auf der Bühne sehen“, lautet eine von Stefan Hahns zentralen Aussagen. Den Tanz nennt er ein „urdemokratisches künstlerisches Medium.“ „Ich will niemanden ausgrenzen, wie groß der Widerstand auch sein mag. Das braucht viel Kraft. Man muss loslassen können, darf Beleidigungen und Kämpfe nicht zu persönlich nehmen. Man braucht ein gewisses Maß an Fähigkeit zur Distanzierung, sonst ist man im falschen Job.“ Integration und Transformation sind zwei wesentliche Ziele, für die Perform[d]ance den Tanz in ländliche Regionen bringt.

Duett mit Stefan Hahn und Schüler

Thomas Aurin

An die transformierende Wirkung der ersten Bühnenerfahrungen erinnert sich auch Claas Früchtenicht. Er ist in Stralsund auf die Jona-Schule gegangen und hat dort das Wahlpflichtfach ‚Tanz‘ belegt, geleitet von Dörte Bähr und Stefan Hahn. Zum ersten Mal auf der Bühne der Alten Eisengießerei hätte er in der dritten Klasse gestanden – in dem Stück ‚Kümmert euch‘, eine ‚Trashedy‘ über Kinder, die auf einer Müllhalde gestrandet sind und inmitten einer riesigen Plastikmüllsammlung ihren eigenen Konsum hinterfragen. Obwohl er bei den Proben „nicht aufhören wollte zu tanzen“, war der Schritt vor ein voll besetztes Publikum schwierig. „Stefan hat mich nicht gefragt, ob ich auf die Bühne will. Er hat mir einen kleinen Schubser gegeben und gesagt: Mach! Es klingt vielleicht harsch, aber das ist das Beste, was mir passieren konnte.“ Drei Soli hätte er in dieser Produktion gehabt, quasi „die ganze Zeit durchgetanzt“. Eine Erfahrung, die vieles verändert hat.

Szene aus dem Stück ‚Kümmert euch‘

Richard Rocholl

Und er erinnert sich an noch etwas anderes: „In den Proben gab es kein ‚Richtig und Falsch‘. Wenn jemand zurückhaltend war, durfte er das bleiben.“ Und ergänzt nach einer kurzen Denkpause lachend: „So war ich nicht drauf. Ich war total aufgedreht und aktiv. Stefan hat mich oft erst mal meine zwanzig Runden laufen lassen. Und einmal hat er entschieden, dass wir ein Stück mit Radschlagen auf der Bühne anfangen, weil ich so viel Energie hatte, die raus wollte.“

Peter van Heesen

Nicht nur Claas Früchtenicht, auch andere ehemalige Schüler:innen, die in ihrer Jugend bei Perform[d]ance getanzt haben, sind heute auf dem Weg, professionelle Tänzer und Choreografinnen zu werden, oder sie stehen schon lange auf der Bühne. Für Dörte Bähr liegt ein entscheidendes Erfolgskriterium in der Kontinuität, mit der sie ihre Art der künstlerischen Tanzvermittlung an einem Ort realisieren kann. Deswegen ist die Arbeit an der Freien Schule in Dreschvitz für sie etwas Besonderes. Jeder Drittklässler an dieser Schule habe schon einmal einen älteren Jungen gesehen, der beim Tanzen auf der Bühne ‚cool‘ aussah – das erleichtere ihr als Tanzvermittlerin den Zugang auch zu denen, die sich nicht gerade zum Tanzen berufen fühlen.

Peter van Heesen

Wie bekommt sie die tanzfernen Schüler:innen in die kreative Arbeit, insbesondere in einer Umgebung, in der es sonst – selbst an der Freien Schule Rügen – doch eher um kognitive Leistungen geht? „Du musst sie verrücken, in einen anderen, nicht alltäglichen Zustand versetzen. In eine Bewegung bringen, die sie sich selbst spüren lässt. Egal, was du machst – ob du auf einem Stuhl tanzt, ihn umkippst, laut schreist, hüpfst, springst – wenn du sie nicht in eine neue Erfahrung bringst, passiert nichts!“

Peter van Heesen

Genau das ist auch das Prinzip der sogenannten ‚Klassenzimmerstücke Tanz‘, die vor fünf Jahren erstmalig in Vorpommern entstanden – eine Pionierarbeit im Feld ‚Tanz für junges Publikum‘. Das Entscheidende: Die Stücke müssen nicht nur in höchst unterschiedlichen Räumen in Klassenzimmergröße gezeigt werden können, sondern auch in einen Kleinbus passen – inklusive Cast, Requisiten und Kostümen. Immer sind sie eingebettet in einen Workshop, in dem Schüler:innen sich körperlich ausprobieren und ein Nachgespräch, bei dem sie ihre Eindrücke besprechen können. Seit 2018 sind im Rahmen des Projekts ‚Mecklenburg-Vorpommern tanzt an‘ unter der Federführung von Perform[d]ance drei Produktionen realisiert worden. Seitdem sind sie, dem etwas sperrigen Namen zum Trotz, mit diesem Modell äußerst erfolgreich in Schulkassen innerhalb Vorpommerns unterwegs.

Peter van Heesen

„Die Schüler:innen erleben Tanz als Kunstform, die wir zu ihnen bringen“, meint Dörte Wolter. „Das ist viel einfacher, als eine ganze Schulklasse mit dem wahnsinnig schlecht ausgebauten öffentlichen Nahverkehr ins Theater nach Stralsund fahren zu lassen.“ Neben diesem Pragmatismus, der typisch für das Leben und (künstlerische) Schaffen in ländlichen Regionen ist, gibt es aber noch einen anderen Grund, mit Tanz die Klassenzimmer aufzusuchen: Die Künstler:innen nehmen sich andere Freiheiten, trauen sich andere Dinge und verändern damit den Raum, der für die Kinder Alltag ist. Das Klassenzimmer, das sie in und auswendig zu kennen glauben, transformiert sich durch die Performances zu einem Ort mit neuen Regeln.

Szene aus dem Klassenzimmerstück ‚Cometa‘ von Roser López Espinosa

Peter van Heesen

In der ersten Klassenzimmer-Produktion arbeitete Choreograf Stefan Hahn mit zwei sehr unterschiedlichen Tänzerinnen zusammen: die eine mit, die andere ohne körperliche Behinderung. Dajana Voß und Magali Saby testen in ihrem Duett ‚Augenhöhe‘ aus, was alles an Tanz geht, wenn die eine im Rollstuhl sitzt und die andere nicht. Dabei kommen sie sich sehr nahe – und verändern ganz nebenbei die oft festgefahrenen Überzeugungen, wer alles tanzen ‚darf‘ – und wer nicht. In über dreißig Schulen sind sie mit ihrem Stück ‚Augenhöhe‘ bislang gewesen.

Szene aus dem Klassenzimmerstück ‚Augenhöhe‘ von Stefan Hahn

Peter van Heesen

„Ob wir in einer Förderschule oder in einer eher elitären Einrichtung gespielt haben – die Kids waren berührt und sehr konzentriert dabei. Keine Performance wurde gestört, die Gespräche waren wunderbar, sie haben viele Fragen gestellt“, erinnert sich Stefan Hahn. „Obwohl ich erst große Zweifel hatte, ob es für mich choreografisch interessant ist, ein Stück für einen Klassenraum zu machen, bin ich sehr froh, dass wir dieses Format entwickelt haben. Hier nach Vorpommern passt es gut. Aber es ist auch Rock ’n‘ Roll.“

Szene aus dem Klassenzimmerstück ‚Augenhöhe‘ von Stefan Hahn

Peter van Heesen

Denn mit dem Tanz in die Klassenzimmer zu gehen bedeutet in der Realität: morgens um Halbsieben den Transporter packen, zwei Stunden zu einer entlegenen Schule fahren, Workshop, Aufführen, Gespräche und dann wieder zurück. Manchmal müssen Künstler:innen und das Team die Klassenräume vor der Vorstellung fegen, mitunter sogar noch ausräumen, weil die Absprache mit der Schule nur suboptimal funktioniert hat. „Diesen Alltag muss man mögen, das ist der Preis, den man zu zahlen hat. Aber was man bekommt, ist ein Publikum mit einer großen Begeisterungsfähigkeit!“

Szene aus dem Klassenzimmerstück ‚Hero‘ von Patricia Apergi

Peter van Heesen

Viele Kinder und Jugendliche in den Schulen Vorpommerns sind darüber hinaus auch ein Publikum, das selten oder nie ins Theater geht – und noch seltener mit internationalen Künstler:innen in Kontakt kommt. Deswegen haben sich Dörte Wolter und Stefan Hahn entschlossen, für die Produktion von Klassenzimmerstücken auch Choreograf:innen aus dem Ausland einzuladen.

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Mit großem Erfolg: Das Solo „HERO“, das die griechische Choreografin Patricia Apergi 2019 erarbeitet hat, ist ein kraftvolles Stück geworden über das Hinfallen und wieder Aufstehen und die Verwandlung von Niederlagen in Siege und hat nicht nur Schüler:innen, sondern auch Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen zum Nachdenken über die eigene Courage gebracht.

Szene aus ‚Hero‘ von Patricia Apergi

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In „COMETA“, 2021 choreografiert von Roser López Espinosa, fällt Tänzerin Nora Baylach als Astronautin quasi vom Himmel, also durch die Tür in das Klassenzimmer, stellt dort die Gesetze der Schwerkraft und des Lernens spielerisch auf den Kopf und bringt am Ende die versammelte Schülerschaft lustvoll in Bewegung.

Dass Klassenzimmer zu Orten für fremd anmutende Besucherinnen und überraschende Partys werden können, kommt gut an. Roser López Espinosa konnte „COMETA“ seit der Premiere bereits über 150 Mal zeigen – in Vorpommern, aber auch in spanischen Schulen. Inzwischen gibt es sogar eine Version für die große Bühne.

Szene aus ‚Cometa‘ von Roser López Espinosa

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Das ist auch für die spanische Choreografin, die für ihre Tanzproduktionen mit den wichtigsten Tanz- und Theaterpreisen Spaniens ausgezeichnet wurde, etwas Besonderes. Über die Wirkung dieser eigens für sie entwickelten Tanzproduktionen auf Schüler:innen sagt Dörte Wolter: „Es ist eine besondere Form der Wertschätzung, wenn sich Tänzerinnen und Choreografinnen aus Spanien oder Griechenland auf den Weg in eine kleine Schule nach Prerow, Binz oder Sagard machen.“

Szene aus ‚Cometa‘ von Roser López Espinosa

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Mit den Klassenzimmerstücken traf Perform[d]ance den Nagel auf den Kopf – oder besser: man hat das Zeichen der Zeit erkannt. Seit der ersten Produktion sind auch in anderen Bundesländern zahlreiche PopUp-Stücke für junges Publikum entstanden, die in ihrer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an verschiedene Räumlichkeiten ähnlich funktionieren. Die Arbeiten sind nicht nur, aber ganz besonders für die Präsentation in Flächenregionen geeignet, in denen Orte weit auseinander liegen und oft lange Wegstrecken gefahren werden müssen.

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Erprobt wurde das bei einem viertägigen Tourneeprojekt, in dem drei PopUp-Produktionen für junges Publikum mit den Titeln ‚Pasta ohne Ende‘, ‚1000 Kisses‘ und ‚Hero‘ parallel durch Klassenzimmer, Turnhallen und Gemeinschaftssäle Vorpommerns tourten. Für die Tänzer:innen und Choreograf:innen ging es von Kindergärten und Schulen im Hinterland bis zum Grundtvighaus in Sassnitz auf Rügen – immer begleitet von Tanzvermittler:innen, die für den Austausch vor und nach den Aufführungen verantwortlich waren.

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Das Theaterpädagogische Zentrum als Sitz von Perform[d]ance fungierte in diesem Tagen als Headquarter, von dem aus die verschiedenen Künstler:innen-Teams sich jeden Morgen um Sieben in alle Himmelsrichtungen verabschiedeten, um erst am Nachmittag randvoll mit neuen Eindrücken zurückzukehren.

Nach der Aufführung von ‚Pasta ohne Ende‘ mit dem 5elephants tanzkollektiv und Pascal Sangl als Tanzvermittler

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Wie zum Beispiel Raymond Liew Jin Pin und Jascha Viehstädt, die sich in ihrem Duett ‚1000 Kisses‘ zwar nicht ganze eintausend, aber doch sehr viele Male küssen und dabei auf humorvolle Weise festgefahrene Geschlechterbilder und gestrige Vorurteile in Frage stellen. Ein Stück, das sehr wahrscheinlich überall auf der Welt bei 12-Jährigen Kichern und ein Gefühl von ‚Ich weiß nicht, was ich davon halten soll‘ auslösen würde. Auf der Regionalen Schule in Binz auf Rügen, in der die beiden Tänzerchoreografen das Stück in einer Turnhalle gezeigt haben, sind sie auf große Offenheit, Aufmerksamkeit und viele Fragen gestoßen.

Szene aus ‚1000 Kisses‘ von Raymond Liew Jin Pin und Jascha Viehstädt

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Küsst ihr euch wirklich eintausend Mal? Kriegt ihr davon trockene Lippen? Seid ihr ein Paar? Warum zählt ihr eure Küsse? Warum dieses, warum jenes? Die Fragen der Schüler:innen hörten nicht auf und die Sozialarbeiterin bat beim Abschied: Bitte kommt bald wieder!

Szene aus ‚1000 Kisses‘ von Raymond Liew Jin Pin und Jascha Viehstäd

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Möglich wurde dieses logistisch äußerst aufwändige Touring-Projekt durch das Netzwerk ‚Tanz weit draußen‘, in dem sich Tanzinitiativen verschiedener Bundesländer zusammengetan haben, um den Tanz in ländlichen Regionen zu stärken. Hier ist die Kooperation ‚Mecklenburg-Vorpommern tanzt an‘ und damit auch Perform[d]ance aktiv. Dank einer umfangreichen Alimentation durch das Förderprogramm ‚Verbindungen fördern‘ können in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg Residenzen für Tanzkünstler:innen in ländlichen Regionen angeboten, Vernetzungsangebote entwickelt und bereits existierende Tanzproduktionen von einem Bundesland in andere geschickt werden.

Szene aus ‚1000 Kisses‘ von Raymond Liew Jin Pin und Jascha Viehstäd

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Die PopUp-Tournee durch die Weiten Vorpommerns war somit auch ein Versuchsballon für eine bessere Zukunft für den Tanz jenseits der urbanen Zentren – ein Pilotprojekt, an dessen Erfolg viele verschiedene Kräfte mitgewirkt haben und dessen Konzept in drei Worten auf den Punkt gebracht werden kann: Input für alle!

Szene aus ‚Hero‘ von Patricia Apergi

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Kinder und Jugendliche an Schulen fernab der urbanen Zentren haben in diesen Tagen eine künstlerische Unterbrechung ihres Schultags durch Tanz erlebt. Die angereisten Choreograf:innen und Tänzer:innen konnten Produktionen zeigen, sich austauschen und dabei Einblicke in die Lebens- und Arbeitsrealitäten in Mecklenburg-Vorpommern erhalten. Lokale Tanzkünstler:innen wie Dörte Bähr, Stefan Hahn und Claas Früchtenicht haben ihr Wissen und ihr Netzwerk durch die Begegnungen und den Austausch enorm erweitert. Und die zum Gespräch geladenen Politiker:innen aus Stadt, Landkreis und Region trafen auf die geballte Ladung künstlerischer Kompetenz und organisatorischer, logistischer und menschlicher Erfahrung mit Tanz in ländlichen Räumen.

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Die Erkenntnis dieser Tage: Trotz des großen Aufwands an Zeit und Ressourcen, sind die immer vielfältiger werdenden Verknüpfungen und Kooperationen von Engagierten, die über viele Jahre Erfahrungen mit dem Tanz in ländlichen Regionen gesammelt haben, Schlüsselmomente für die kulturelle Strukturstärkung ländlicher Regionen. So kann Wissen weitergegeben werden. Und, was mindestens genauso wichtig ist: Aus vielen Einzelkämpfer:innen in weit auseinander liegenden ländlichen Räumen kann auf diese Weise eine Community entstehen.

Austausch mit Tanzkünstler:innen und Politiker:innen in Stralsund

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Dafür allerdings – auch das ist eine Erkenntnis – braucht es Geld. Viel Geld für die Realisierung von nachhaltigen Projekten und professionellen Netzwerken.
Der Gewinn dieser Tage – über alles Gesagte hinaus: eine selbstverständliche Nähe, die entstehen kann, wenn Menschen über den Tanz zusammenkommen. Wenn nach der Rückkehr aus den Weiten Vorpommerns sich alle Künstler:innen – Gäste und Gastgeber:innen – im Restaurant erschöpft, aber zufrieden treffen, sind die Gespräche erfüllt von Erfahrungsaustausch, von Fragen und Verständnis, Offenbaren und Zuhören

Peter van Heesen

Und da war er wieder: Dieser Hauch von Gold, diese spezielle Stralsund-Magie, die entsteht, wenn hier einander Unbekannte zusammenkommen und eine temporäre Gemeinschaft bilden, vereint in der Überzeugung, dass sich die langen, mühevollen Wege lohnen, um die Tanzkunst dort hinzubringen, wo sie sonst nur selten oder nie hinkommt.

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Unterstützt durch

Bureau Ritter
Mecklenburg-Vorpommern Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten