Auf Olchon

in Sibirien Shamanen
Treffen der Schamanen auf der Insel Olchon

Choy Ka Fai

Wir sind am Baikalsee, diesem riesigen Gewässer in Sibirien, dem wasserreichsten der Welt. Im Westen ist Irkutsk, und ein Flug dorthin dauert von Berlin aus fast dreißig Stunden. Von Phuket in Thailand oder Bali ist es nur ein Katzensprung, wie geschaffen für Sibirier, um dem Winter zu entkommen. Es gibt also Touristen auf beiden Seiten, solche aus Sibirien, die in den Süden ziehen, und die anderen aus dem Rest der Welt, die den Sommer hier verbringen.

Auf der östlichen Seite des Sees liegt Ulan-Ude mit einem Tempel am Rand des Sees.

Landkarte Baikalsee

Im Souvenirladen des Tempels findet man ein Buch, das diesen tiefsten See der Erde zeigt. An der Spitze des Baikalsees befindet sich der Felsen der Schamanen, der Burkhan-Felsen. Am Westufer befindet sich die Insel Olchon und im Süden die Grenze zur Mongolei. Die Karte scheint geografisch korrekt zu sein, aber sie symbolisiert auf eine bewusst wenig genaue Art die verschiedenen heiligen Bereiche, die Sitze der Götter rund um diesen heiligen See.

Landkarte Balkansee

Auf der Insel Olchon versammeln sich jeden Sommer etwa fünfzig Schamanen. Sie führen Rituale durch und geraten in Trance. Wir besuchen zuerst Arshan, ein Dorf mit wenigen Einwohnern, in dem eine schamanistische Kunstausstellung und eine Konferenz stattfinden, zu der auch Ärzte der westlichen Medizin eingeladen sind, darunter eine westliche Studentin, die östliche Medizin studiert. Künstler und Handwerker treffen sich hier am See zu einer Art Kunst- und Wissenschafts-Schamanenkongress.

Eine Unterkunft finden wir in einem für Busfahrer geschaffenen Ort. Es gibt nur zwei Herbergen und einen billigen Nachtclub gegenüber der einen. Wir werden in eine Schamanenvereinigung namens „Palast des Himmels” eingeführt.

Deren Tempel befindet sich in einem Vorort von Ulan-Ude, einer Art Detroit mit schmutzigen Garagen und brennenden Reifen.

Am nächsten Morgen sind wir eingeladen, einem besonderen lokalen Ritual beizuwohnen, einem traditionellen Kunstfest mit Gesang und Tanz. Man singt und tanzt die Mythen für die Schamanen aus den anderen Regionen. Es ist einer der seltenen Momente, an denen sie ihre Tracht tragen. Die Gewänder der Schamanen unterscheiden sich deutlich von Region zu Region und kennzeichnen die jeweilige Abstammung.

Ein Mann wird ein Lamm opfern. Ein Komponist der Nationalen Tanzkompanie Sibiriens, ein Forscher und eine Schamanin sind zugegen, um das Memorandum eines Oberschamanen von Tuva, südwestlich des Baikalsees, zu unterzeichnen. Hier in der Region Burjatien östlich des Sees geht es um ein Abkommen zur Zusammenarbeit, das durch ein Ritual zur Stärkung der Beziehungen zwischen ihren Stämmen bekräftigt wird. Das geistige Oberhaupt der Tuva-Schamanenvereinigung ist da, ebenso das Oberhaupt von Burjatien; beide bilden selbst Schamanen aus.

Das Ritual der Schamanen folgt bestimmten Notationen und einer bestimmten Methodik, die Bair Zhambalovich Tsyrendorzhiev entworfen hat, der Gründer des „Palasts des Himmels“ und Organisator dieser Konferenz. Von der ursprünglichen heiligen Stätte in den Bergen sind sie hierher an den Stadtrand gezogen, denn hier betreiben sie ihre Geschäfte.

Sie sprechen darüber, wie Krankheiten durch zu viel Yin oder Yang entstehen. Im Westen würde eher man Antibiotika geben. Hat man aber eine Krankheit, die die westliche Medizin nicht heilen kann, bittet man den Schamanen um Hilfe. In Sibirien gibt es zahllose Mythen zur Herkunft der Krankheiten. Wenn etwa dein Haar voller Knoten ist, die sich nicht lösen lassen, stimmt etwas mit deinem Lebensweg nicht. Dann geht man zum Schamanen.

Valentin

Der Schamanenälteste der Insel Olchon heißt Valentine, ein rüstiger Mann über 60 mit einem zusätzlichen Daumen, mit sechs Fingern an einer Hand. Mit ihm führte ich ein Gespräch, das ich hier in Auszügen wiedergebe:

Wann sind Sie Schamane geworden?

Vor dreißig Jahren, als ich aus der Stadt zurück hierher nach Hause kam. Die Ältesten versammelten sich und weihten mich in den Schamanismus ein. Seitdem führe ich hier und in Ulan-Ude Rituale durch. Ich bin ein traditioneller Clan-Schamane und praktiziere diese Religion, die nicht irgendwo erfunden und meinem Volk gewaltsam aufgezwungen wurde. Sie wurde aus uns selbst geboren. Wir verehren die Natur und unsere Vorfahren.

Hatten Sie die Schamanenkrankheit?

Ich kann es nicht genau sagen. Ich glaube, ich war nicht ernsthaft krank. Vielleicht hatte ich ein paar Visionen. Sagen wir es so: Meine Schulter war ausgekugelt. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, und mein spiritueller Körper oder meine Seele sah sich selbst auf dem Operationstisch liegen. Und flog. Da waren Geister und einige andere Wesenheiten. Sie haben mich gewaschen. Sie stellten mir Fragen, wie „Was waren die guten und was die schlechten Dinge, die dir passiert sind?“ Sie zogen meine Knochen heraus und reinigten mein Fleisch, bevor sie alles wieder zu einem Ganzen zusammenfügten. Und dann glitt ich zurück in meinen Körper. Das war meine erste Einweihung. Die zweite wurde vom Ältesten durchgeführt, nachdem ich also gestorben und lebendig zurückgekehrt war. Eine Jurte wurde für zweihundert Leute gebaut und ein Lamm und Wodka wurden gekauft, um meine Leute zu bewirten. So ist es Tradition.

Es war ein klinischer Tod?

Richtig. Ich bin zweimal geboren. Siehst du, sechs Finger. In alten Zeiten hieß es, dass einmal in einem Jahrhundert ein Schamane mit einem zusätzlichen Knochen geboren wird. Man nennt mich einen Sarysandryl-Schamanen. Ein zusätzlicher Knochen bedeutet, dass der Himmel mich anerkennt.

Welche Art von Ritualen führen Sie durch?

Es gibt Rituale für fast alle Lebensereignisse: Geburt, Erwachsenwerden und Heirat. Es gibt vor allem Rituale zum Schutz. Was auch immer im Leben des Menschen geschieht, wir haben Rituale dafür. Wir feiern jedes Jahr Pastoralismus-Rituale, die an den Mongol-Burkhan gerichtet sind. Es geht dabi um das Überleben von Rindern, Kälbern und Lämmern. Und der Feldfrüchte. Wir führen Rituale für Ernten durch, wir rufen nach Regen. Und es gibt Rituale zum Schutz unserer Verwandten.

Aber: Wir zwingen diese Praktiken niemals anderen auf. Wir arbeiten nur, wenn wir darum gebeten werden, und rufen die Geister hauptsächlich der Vorfahren und der Verwandten. Wir richten auch Bitten an einige Tengri-Gottheiten. Ich rufe oft den Vater von Olchon an, weil ich aus Olchon stamme. Er ist der Schutzpatron der Schamanen.

Können Sie mehr über den Vater von Olchon erzählen?

Die Legende besagt, dass der Vater von Olchon, Khan Khotae-Baabae, ein Sohn der himmlischen Gottheit Khan Gudzjir-Tengri ist. Als sich verschiedene Krankheiten über das Land ausbreiteten, schickte der Himmel seine 13 Söhne auf die Erde. Sie kamen und besiegten die bösen Dämonen, die die Krankheiten verbreitet hatten. Sie hielten sich an verschiedenen Orten auf, unter anderem an den Ufern des Baikalsees. Der Vater von Olchon wählte einen zweiköpfigen Felsen, auf dessen Spitze Adler lebten.

Der Vater ist der jüngere Bruder und der irdische Stellvertreter von Aarlin Khan, der über das Jenseits herrscht. Auf der Erde hat er dreihundert Boten, die schnell wie ein Gedanke sind. Er kann Gedanken und Taten lesen, er weiß, was kommen wird. Nun, er hat den Burkhan-Felsen als seinen Wohnsitz gewählt. Auch andere Religionen kennen ihn. Im Buddhismus wird er Jam-Saran genannt, Bewahrer des Glaubens und Beschützer der Krieger.

Wie merken Sie, dass Sie mit dem Vater von Olchon in Kontakt kommen?

Als ich vor langer Zeit gebetet habe, sah ich seinen Boten: einen Adler. Ich war allein in der Prärie. Ich spürte, dass mich etwas oder jemand ansah. Ich drehte mich um und sah einen riesigen Weißkopfseeadler etwa zwanzig Meter von mir entfernt. Dann flog er weg. Es war derselbe Adler, den ich als fünfjähriges Kind gesehen hatte. Als ich Ulan-Ude verließ und den Burkhan-Felsen besuchte, um ihm meine Aufwartung zu machen, sah ich, dass er in dem Felsen wohnte, in einem spirituellen Palast um den gesamten Felsen herum. Dass ist keine Erfahrung in einer materiellen Welt. Du musst sie spüren können, durch Meditation oder so.

Heilen Sie auch?

Ich praktiziere keine Heilung, aber wenn mich die Leute danach fragen, ziehe ich das Große Lexikon der Traditionellen Medizin heran. Es enthält Informationen darüber, wie man tausend Krankheiten heilen kann. Etwa über die  Akupunkturpunkte, die verwendet werden können, um Krankheiten zu heilen, von einer laufenden Nase über Zahnschmerzen bis zu Husten …

Gehen Sie in Trance, wenn Sie arbeiten?

Nein. Ich sehe darin keine Notwendigkeit. Vor unserer Zeit sind die alten Schamanen nur in Trance gegangen, um bessere Plätze für die Mammutjagd zu finden und ihren Stamm zu retten. Aber so etwas, wie heute, zur öffentlichen Unterhaltung zu tun … Nein, ich gehe nicht in Trance, und es gibt auch keinen Grund dafür. Ich habe Zustände erlebt, die einer Trance nahe waren, aber sie geschahen spontan. Ich mache das nicht regelmäßig oder zur Show. Das machen die schamanischen Vereinigungen in den Städten, die dir so etwas wie Trance vorspielen. Die gibt es überall.

Valentin

Die Bewegungen in den Ritualen sind sehr tänzerisch. Welche Rolle spielt der Tanz?

Ich würde nicht sagen, dass ich wirklich tanze, aber man braucht Bewegungen, um sich an die Gottheiten zu wenden. Wenn ich Gänsehaut auf meinem Rücken spüre, bedeutet das, dass die Geister hier sind. Ich drehe mich, trage diese Krone und ein langes Kleid namens Orvy. Aber das trage ich nur, wenn Tausende von Menschen da sind.

Haben Sie Schüler oder Jünger?

Habe ich, ja. Sie sind Burjaten. Aber auch Russen kommen hierher. Sie respektieren mich und betrachten sich als meine Schüler, also ist es in Ordnung. Zu den Russen sage ich nur: „Lernt die burjatische Sprache!“, denn alle Zaubersprüche sind auf Burjatisch.

Wie lernen sie die Zaubersprüche?

Sie schreiben einfach die Worte ab und lernen sie auswendig. Ich sage: „Für die Feuergeister macht ihr das. Für die Geister der Ahnen müsst ihre diese Opfer bringen.“ Ich erkläre die Rituale und zeige sie ein- oder zweimal. Wir haben keine Universität. Ich erkläre nur, welche Opfergaben in den verschiedenen Fällen zu machen sind und wie sie gemacht werden. Das war’s.

Wie sehr brauchen die Menschen die Schamanen heute?

Die Nachfrage schafft das Angebot. Ich werde mich nicht dazu äußern, aber es gibt heute mehr Schamanen denn je. Schauen Sie sich all die Stadtschamanen nur an. Ich bin ein traditioneller Schamane. Traditionelle Schamanen sind ländliche Schamanen, die mit ihrem Clan leben. Jetzt sind Neo-Schamanen aufgetaucht, Stadtschamanen, die nicht von ihrem Clan in den Schamanismus eingeweiht werden, sondern von schamanischen Vereinigungen in den Städten, die ständig neue Schamanen hervorbringen. Auf einen traditionellen Schamanen kommen heute etwa zwanzig bis dreißig Neo-Schamanen. Sie führen keine Rituale für Feldfrüchte oder Vieh durch. Auch keine Jagdrituale. Sie kümmern sich nur um die Bürger.

Sie meinen so, wie sie beim Tailagan-Ritual tanzen?

Ja. Es sind Stadtschamanen aus Ulan-Ude und Irkutsk, die herumspringen, hüpfen und sich schütteln mit Schaum vor dem Mund. Die ganz große Demonstration. Dabei sollte ein Schamane ein Bewahrer von spirituellem Wissen sein. Ein Bewahrer von Bräuchen und Traditionen. Ein Bewahrer von Geschichten und Legenden. Sie aber denken, ein Schamane sollte mit Schaum vor dem Mund zu Boden fallen und düstere Prophezeiungen aussprechen. Sie drohen: „Solange du nicht 100.000 Rubel gibst, wird es dir richtig schlecht gehen!“ Das ist falsch. Das ist pervers. Das ist respektlos gegenüber dem Schamanismus. Er sollte den Geist, den Verstand und den Körper eines kranken Menschen inspirieren und stärken. Aber nicht andere erschrecken, schon gar nicht um des Geldes willen. Das ist … falsch.

Was halten Sie von Touristen, die sich für den Schamanismus interessieren?

Ich habe kein Problem damit, ich bin hier ansässig. Ich komme mit allen gut aus. Wenn Touristen uns danach fragen, führen wir sowohl Rituale als auch Exkursionen durch. Das ist in Ordnung. Wir leben alle in dieser Welt. Um ehrlich zu sein: Früher haben unsere Alten gesagt, das solle man nicht machen. Aber die Leute kommen. Sie respektieren dich, und sie glauben an den Schamanismus. Rituale führen wir nur durch, wenn sie darum bitten. Ohne ihre Bitte würden wir sie niemals durchführen. Ich erzähle den Touristen von unserem Volk, unseren Sitten und Gebräuchen, damit es sowohl einen kulturellen als auch einen spirituellen Austausch gibt.

Wie viele Schamanen gibt es im Bezirk Olchon?

Ich kenne die genaue Zahl nicht, weil viele Schamanen aus Olchon jetzt in den Städten leben. Aber ich denke, es sind zwanzig, vielleicht sind es auch dreißig oder vierzig. Es gibt traditionelle Schamanen, die Schamanen als Vorfahren und Verwandte haben, und die Neo-Schamanen. Für die soll ich nun auch arbeiten. Ein Schamane in Huzhir hat mich angerufen und gebeten, ein Ritual durchzuführen. Und ich habe gesagt: „Du bist doch selber ein Schamane, oder nicht?“ Für sie ist es einfacher, mit Autofahren Geld zu verdienen, als als Schamane Rituale durchzuführen. Darum versuchen sie mir Arbeit aufzudrängen. Und ich stimme auch noch zu. Ich meine, ich bin heute um 5 Uhr für ein Ritual aufgestanden. Ich habe ein zweites Ritual um 6 Uhr morgens durchgeführt und wieder eins um 7 Uhr morgens. Und dann habe ich Gäste, die auf mich warten. Das ist viel Arbeit. Ich war schon Schamane, als das noch nicht so war. Aber jetzt ist es ein Trend. Jeder ist ein Schamane, aber kennt die Zaubersprüche nicht und schiebt die komplexen Fälle weg, weil er die Rituale nicht studiert hat, sondern den Vereinigungen der Schamanen eine bestimmte Summe zahlt, nachdem er für 70.000 oder 100.000 Rubel (1200 Euro) sich hat einweihen lassen, um als Schamane gelten zu dürfen.

Sind Sie hauptberuflich als Schamane tätig?

Mein Job ist es, Führer für die Touristen zu sein. Als Schamane arbeite ich morgens, bevor ich als Führer in die Berge gehe. Alle Rituale habe ich vor 10 Uhr beendet.

Was passiert, wenn Sie Schamanen aus anderen Kulturen treffen? Zum Beispiel solche aus Südamerika und Südostasien?

Wir tauschen Geschenke aus. Wir beten zusammen. Wir finden eine gemeinsame Basis, um uns zu verstehen. Aus Indonesien wurden mir Geschenke mitgebracht, und ich habe ihnen etwas im Gegenzug geschenkt, weil ich ihnen nichts schuldig sein will. So ist das hier. Ich habe beobachtet, wie andere Schamanen ihre Rituale durchführen. Ich habe gesehen, wie sich Schamanen in Indonesien in Bettlaken einwickeln. In Übereinstimmung mit ihrer natürlichen Umgebung hat jeder seine eigene Art entwickelt, ein Ritual durchzuführen. Wir respektieren ihre Kulturen, und sie respektieren meine.

Wenn Sie in die Zukunft des traditionellen Schamanismus schauen…

… wird der traditionelle Schamanismus Seite an Seite mit dem Neo-Schamanismus zwar weiter existieren. Aber wir stehen am Rande des Aussterbens. Im Moment koexistieren wir mit den neuen Schamanen. Alte Schamanen wie ich sind in unseren Sechzigern. Die neuen Schamanen sind jung und ehrgeizig. Sie wollen uns verdrängen. Sie sagen: „Ihr seid archaisch. Geht weg!“ Wir weigern uns, das zu tun, und bleiben. Es sollte gegenseitiger Respekt herrschen. Auch finde ich es nicht gut, dass sie nur Show machen und die ganze Zeit herumspringen wie die Ziegen.

Mit dem Direktor des Burjatischen Staatlichen Akademischen Opern- und Balletttheaters in Ulan-Ude, Bayarto Tsyrendorzhievich Dambaev, fahren wir zum Tailagan-Ritual. Dass Künstler zu dieser Versammlung eingeladen sind, heißt auch: Es gibt eine starke Verbindung der Schamanen zu den Künsten, zumindest in Bezug auf Kunsthandwerk, Gesang und Tanz. Man sieht bestimmte Tänze, die man im Nationaltheater nie zu sehen bekommt. Dort wird eher eine Art Propaganda-Tanz aus kommunistischen Zeiten gezeigt, eine folkloristische, sehr rustikale Art von Tanz, die es im Volk nicht gibt.

Vier Schamanen unterschiedlicher Sippen treffen sich zu einem Ritual auf dem Land – ohne Beteiligung von touristischen Gästen.

Nach diesem Besuch wollte ich noch in die Mandschurei reisen, an die Grenze zwischen China und Nordkorea. Bewusst nicht nach Südkorea, weil ich denke, dass der Schamanismus dort zu exponiert und auf eine gewisse Weise kommerzialisiert betrieben wird. In der Mandschurei grenzen Nordkorea und China am Weißen Berg aneinander, wo einst Kim Jong Il auf dem Gipfel stand, dem heiligsten Ort für die Nordkoreaner, dem Paektu-Berg. Die Chinesen nennen ihn Changbai. Direkt an der Grenze hat China ein Schamanendorf errichtet. Die Schamanen in der Mandschurei sind eine Mischung aus Burjaten, Mongolen und Nordkoreanern.

Die Provinz an der Grenze zu Nordkorea heißt Jilin. Am 8. März 2021 wollte ich dorthin fahren, Corona hat mich gestoppt. Das mandschurische Schamanentum ist eine interessante Mischung zwischen dem sibirischen und dem nordkoreanischen. Kein Wunder, denn die Burjaten sind Nomadenstämme und haben ihre Kultur von Sibirien immer schon an die Mongolen und die Koreaner weitergegeben. Heute erst sind sie durch nationale Grenzen getrennt. Ihre Praktiken sind dieselben. In Nordchina, in der Provinz Heilongjiang, mischen sie sich mit dem Taoismus, tragen aber die gleiche Kleidung wie die Sibirier. Der einzige Unterschied ist: Anstelle eines Lamms opfern sie ein schwarzes Schwein und trinken dessen Blut. Aber beide zelebrieren die gleichen vibrierenden Tänze.

Obwohl es ein traditioneller Tanz ist, entwickelt sich dieser Tanz ständig weiter. So bleibt er bis heute in jeder Generation relevant. Auch wenn das Ritual heute anders aussieht als vor hundert Jahren, bleibt es in seiner Essenz erhalten.

Was die Trance betrifft, so wird sie in Sibirien hauptsächlich praktiziert, um den Körper zu reinigen. Manche Schamanen verwenden dazu bestimmte Choreografien, je nachdem, welchem Gott sie Einlass in ihren Körper gewähren wollen, um gereinigt und geleert zu werden. Und sie verwenden Trommeln, um diesen Zustand zu erreichen. Das ist in Sibirien häufiger der Fall als in China, Taiwan oder Vietnam, wo das daoistische Mantra vorherrscht, ein Gesang, der in die Trance führt, um den Geist in einen veränderten Zustand zu versetzen. Die Trommel in Sibirien erzeugt eine Vibration im ganzen Körper. Es ist meiner Meinung nach die reinere Form des Schamanismus, weil er ihren Ursprung hier in Sibirien hat.

Die Konferenzen, Feiern und Rituale, all das geschieht zwischen Mitte Juli und Mitte August. Vor allem im Sommer wird die Olchon-Insel mit Touristen überschwemmt. Vielen kommt es so vor, als wäre es ein besonderes Erlebnis, in den Bergen zu wandern und ein Ritual mit einem echten Schamanen zu erleben, der jeden einzelnen an einem heiligen Ort inmitten der Weite dieses wunderschönen Landes segnet. Russische Touristen, die nach Sibirien reisen, kaufen dazu ein Reisepaket und machen Fotos von allem und jedem. Der Tourismus hat großen Einfluss auf die religiösen Stätten, wie überall auf der Welt, auch auf die lokalen Kulturen, auf ihre Tänze und Musik. Für die Einheimischen ist es notwendig, ihre Traditionen aufrechtzuerhalten, sie müssen aber auch Geld verdienen. Wenn ich grob schätze, sind es 25 Prozent russische Touristen; 75 Prozent sind Chinesen, die hier mit Bussen anreisen. Seit einiger Zeit wird auch immer mehr Land auf der Insel gekauft, um immer neue Herbergen und Hotels zu bauen.

Wenn man um sechs Uhr morgens aufwacht, um den Sonnenaufgang zu erleben, sieht man den prächtigen Felsen der Schamanen. Oder auch nicht, denn es wimmelt nur so von Menschen. Alles ist erfüllt vom Lärm der Touristen, deren Drohnen geräuschvoll über sie hinwegfliegen. Es ist aber auch kein Geheimnis: Einige chinesische Touristen benehmen sich ziemlich laut, wie überall auf der Welt sonst auch. Die Insel Olchon hat jede Art von Magie verloren, seit ein Folk- und Popsänger ein Lied über den Baikalsee so populär zum Besten gab, dass es reiche chinesische Touristen in Massen anlockte. Das Lied handelt von der Schönheit des Landes rund um den Felsen der Schamanen. Auch wenn davon nichts mehr zu spüren ist, gibt es aber auch Menschen, die als Yogis am anderen Ende der Insel leben. Man sieht sie in Gruppen, die um sechs Uhr zum Sonnenaufgang meditieren. Man hat sogar ein Schild angebracht, auf dem steht, dass es sich um eine heilige Stätte handelt. „Bitte nicht betreten“. Aber selbst russische Touristen, die dieses Schild lesen können, ignorieren jegliche Heiligkeit des Ortes.

Nichts gegen Touristen. Die Einheimischen leben von ihnen. Da gibt es keine Moral im Sinn von gut oder schlecht. Das gilt auch für die Schamanen. Sie sind die Ärzte des Ostens und bieten auch Ausländern für viel Geld ihre Hilfe an. Nicht alle schaffen ein Wunder. Es gibt viel Unsinniges. Ein Schamane hat fünf teure Kamele zum Wohl der sibirischen Wirtschaft opfern lassen, was noch weniger nützt als die weit üblicheren Naturopfer bei anhaltender Dürre, um um Regen zu bitten oder zu beten.

Schamanka Rock

Aber zurück zur schamanischen Konferenz. Es kommen hier viele verschiedene Experten zusammen, auch Künstler, obwohl nur wenige von ihnen einen Bezug zum Schamanismus haben. Man könnte das aber ändern. Ich habe vorgeschlagen, eine Schamanin in Deutschland ans Tanzhaus nach Düsseldorf einzuladen. Ich kenne eine, die in der Nähe der Stadt Köln in Overath lebt. Ihr Name ist Mara Ohm. Sie wurde in Ulan-Ude ausgebildet, in der gleichen Schamanen-Akademie, die ich besucht habe, und sie betreibt in ihrem deutschen Dorf eine eigene Praxis. Sie ist keine Sibirierin, sie ist Deutsche, aber sie spricht Burjatisch, die Sprache dieser sibirischen Region. Sie nutzt den Schamanismus, um Menschen im urbanen westlichen Kontext ihre Dienste anzubieten. In ihren Sommercamps bietet sie verschiedene Kurse an, darunter Trommelunterricht und Unterricht in Trance-Tanz.

Instagram-Post: Im Westen wird Schamanismus als Heilmethode angepriesen

Wenn man in einem urbanen Umfeld geistig feststeckt, ist man empfänglich für solch alternative Heilmethoden und folgt bereitwilliger Einladungen wie der, die eigene Seele zu erweitern. Ehrlich gesagt bin ich skeptisch gegenüber diesem Anders-Sein-Wollen, selbst wenn es um so einfache Dinge wie das Ansingen einer Klangschale oder das Räuchern von Zitronengras geht, was ja durchaus positive Schwingungen im Körper erzeugt.

Wenn man diese Praktiken von Sibirien in den Westen oder in die Erste Welt trägt, ist man dort mit hochgradig von Technologie abhängigen Wesen konfrontiert. Der Aufstieg des Individualismus in der westlichen Welt und seine Idee einer liberalen Demokratie im Gegensatz zur Religion erzeugt zwar selbstbewusste Individuen, aber diese glauben eben auch, es gehe immerzu um die Optimierung des eigenen Ichs. Genau dazu wird der Schamanismus in der westlichen Welt benutzt, ebenso wie die östliche Medizin als eine alternative Behandlungsform. Beides scheint ideal zu sein für die Optimierung des Selbst. Dabei ist genau dieses Selbst das Problem.

Es will immerzu ein Coaching, eine Verbesserung, und darum sagt dir dein Lebenscoach, dass du jeden Tag dein Leben positiv gestalten und selbst entscheiden sollst, was du heute erreichen möchtest. Es ist Teil eines Wettlaufs, auch der Religionen, und zu diesen gehört der Schamanismus, nun im Gewand einer alternativen Heilpraxis.

Das trifft auch bei Mara Ohm zu, die den Menschen hilft, sich selbst zu optimieren. Meine Recherchen in Sibirien, die Begegnung mit verschiedenen Schamanen und ihre unterschiedliche Praktiken und Kulturen ließen sich aber ebenso gut auch zu einer fiktiven Akademie im Westen zusammenführen. Die Leute würden sogar glauben wollen, dass sie real existiert. Man bräuchte dazu nur zwei oder drei Assistenten, die in Chatbots interagieren und als Instagram-Manager oder als TikTok-Redakteure den Künstler oder Schamanen als Popstar verteidigen.

Schamanen heilen durch Kommunikation. Heute könnten sie darum problemlos auch im Bereich der interaktiven Medien agieren – nicht etwa, um irgendwelche Vorurteile gegenüber dem Schamanismus zu bekämpfen. Das ist nicht nötig. Was die Menschen antreibt, ist eher die Neugierde, der Wunsch, der Welt zu entkommen, wie ihn auch eine Website namens Blue Sky Escape bewirbt. Die Betreiberin, Krystal Tan, stammt aus Singapur. Sie war früher Unternehmensanwältin, hatte aber genug vom Krieg der Unternehmen gegeneinander und gründete ihr eigenes Geschäft. Sie bietet Reisen an, etwa Wanderungen in die heiligen Berge von Peru oder Mexiko oder die Möglichkeit, eine Weile mit einem Schamanen zu leben.

Das funktioniert vor allem in den Ländern der ersten Welt. Die Menschen werden reicher, haben mehr Zeit. Sie haben das Normale satt und wollen neue Erfahrungen machen abseits der ausgetretenen Pfade. Im Grunde stellt Blue Sky Escape diese Erfahrung her, mehr oder minder maßgeschneidert, um Kunden eine andere Welt zu zeigen, um neue Schwingungen erfahren oder sich selbst neu zu kalibrieren, wenn es denn nur ein bisschen abseitig und ein bisschen unbekannt zugeht. Die Idee ähnelt sehr den Reisen aus dem Silicon Valley südlich von Los Angeles zum Burning-Man-Festival. Es sind Menschen, die genug haben von der stressigen, weil unsicheren Welt, in der sie innerhalb ihrer Firmen zu überleben versuchen. Sie machen für eine kurze Zeit eine Kehrtwende, lieben Yoga, bevorzugen die ökologische Landwirtschaft, mögen alte Technologien und sogar alte Überzeugungen. Auch der Schamanismus wird heute immer seltener belächelt oder mit berechtigten Zweifeln an seiner Wirkungsweise konfrontiert.

Vielmehr wird der Schamanismus als volkstümliche Tradition betrachtet. Aber nicht alles, was so aussieht, ist unbedingt schamanisch. Ein paar schamanische Elemente genügen schon, um Touristen anzulocken. Das Spirituelle ist eben sehr verlockend.

Exkursionen mit einem Schamanen gehören zum festen Programm für die Sommertouristen aus aller Welt.

Spiritualität habe ich das erste Mal wahrgenommen, als ich im Alter von 13 Jahren den Geist von Christus empfing. Das war in einer evangelistischen Kirchengemeinde in Singapur. Meine Eltern sind Buddhisten, die nichts damit zu tun haben wollten. Ich aber hatte von da an das Gefühl, dass mein Leben Hilfe braucht und dass ich Hilfe von Jesus erhalten kann. Wenn ich heute über Schamanismus nachdenke, denke ich, er ist mehr als nur eine spirituelle Bewegung.

Es ist eher wie beim Tanz, der deshalb gerne angeschaut wird, weil es in ihm so viele Dinge gibt, die über den Tanz hinausgehen. Daraus haben wir eine Kultur geschaffen, eine Tradition seit Hunderten und Tausenden von Jahren. Die Menschen wollen eine Beziehung haben, auch zu den Göttern, weil sie sie brauchen und Spirituelles erfahren wollen. Ein Gott kann meiner Meinung nach durch einen Geruch oder im Fall des Schamanismus durch einen schönen Berg repräsentiert werden, der im Laufe der Zeit wie ein Mensch mit individuellen Symbolen dargestellt wurde. Ein Gott mit Bart steht für Weisheit, der Gott mit der Axt steht für Krieg, und so repräsentieren Götter verschiedenen Aspekte der Menschheit selbst. So geschah es auch im Taoismus und im antiken Griechenland. Erst das Christentum und vor allem die muslimische Welt haben auf Götterdarstellungen verzichtet. Natürlich geht es im Schamanismus immer noch um einen Berg oder einen größeren spirituellen oder heiligen Raum auf ihm. Aber in einem vermenschlichten Sinn wirkt dieser Gott eben fast selbst wie ein Mensch, als einer, mit dem man leichter sprechen kann. Interessanterweise geschieht dies in einer Kultur, die als animistisch bezeichnet wird. Sie betet zur Sonne, zum Mond und zum Meer, und sie vermischt diesen Glauben mit Fundstücken aus anderen eindringenden Religionen oder Traditionen. Kultur ist dabei eine Form edelster Verschwendung. Überall in Asien werden riesige Götter-Skulpturen durch Crowdfunding geschaffen, etwa in Taiwan, wo man sie aus Holz errichtet. In diesem Monat hat man 5000 Euro zur Verfügung, um den rechten Arm fertigzustellen. Und später, wenn wieder Geld da ist, machen wir den linken Arm. Der in diesem Phänomen zugrunde liegende Schamanismus ist auch im entferntesten Ostasien auffindbar. Aber davon erzähle ich das nächste Mal.

Gottheit Shamanen