Überleben am deutschen Rand

Olaf Martens

Warum die Tänze der Sorben und Wenden nicht nur Folklore sind? Weil es gute, alte Politik war und ist, die Oberlausitzer und Niederlausitzer mit zwei Sprachen, zwei Religionen in zwei Bundesländern so zu spalten, dass sie mehr mit sich selbst beschäftigt waren als ihre eigene Kultur zu behaupten. Ihre erstaunlich wilden Tänze sind nicht nur historisches Relikt, sie sind immer öfter auch Punk, Zeitgeist und Widerstand.

Freie Autorin und Sprachdozentin aus der Lausitz

Der Choreograf Diefer Wendisch trägt seine Herkunft im Nachnamen

„Mensch, da passt ja ein Schwein durch“, Dieter Wendisch zeigt auf die Füße einer Tänzerin. Mathilda, 14, schlägt sie erschrocken zusammen. Sie gehört zum Nachwuchs. Die anderen, etwa 25 junge Frauen und Männer, die meisten von ihnen um die zwanzig, stehen stramm. Sie tragen Leggins, T-Shirts, Trainingshosen, leichte Schuhe. Ihre Gesichter sind verschwitzt, die Blicke nach vorn gerichtet. Manch einer pustet sich Luft ins Gesicht, andere unterdrücken ein Grinsen. Dieter Wendisch, 77, künstlerischer Leiter der Volkstanzgruppe läuft die Reihen ab, korrigiert die Haltung. „Ihr müsst Stolz zeigen“, sagt er, „gerade den Rücken, Fabian. Das machen wir noch mal.“

Es ist ein Samstagnachmittag im späten Februar. Die Volkstanzgruppe Schmerlitz hat nach monatelanger, Pandemie bedingter Pause die Proben wieder aufgenommen. Die, die hier tanzen, sind junge Leute aus den umliegenden Dörfern, zentriert um die Wallfahrts-Kirche Rosenthal im Kreis Bautzen, eine sorbisch katholische Kirche, deren mächtiger gelber Bau mit einem Dach wie eine Pickelhaube auf einer Anhöhe thront.

Schmerlitz liegt an einer dieser schmalen, hügeligen Landstraßen der Oberlausitz. Wie auf einem Schiff fahrend wogt man auf und ab, vorbei an Feldern, Wäldchen, Weiden, Wiesen und Weihern. Gesäumt sind die Straßen von kleinen, mittleren und großen Kreuzen mit Jesusfiguren. Kirchtürme tauchen auf und immer wieder die blauen Berge, das Zittauer Gebirge. Dahinter liegt Tschechien. Wir sind am ostdeutschen Dreiländereck, Grenzregion zu Polen und Tschechien.

In Schmerlitz leben knapp 200 Menschen, ein typisches Dorf im sogenannten Kernsiedlungsgebiet der Sorben zwischen Kamenz, Hoyerswerda und Bautzen im Bundesland Sachsen. Hier wird in den meisten Familien Sorbisch gesprochen. Obersorbisch muss man sagen. Denn Sorbisch ist nicht gleich Sorbisch.

In der Niederlausitz spricht beziehungsweise sprach man Niedersorbisch, das auch Wendisch genannt wird. Die Konfession ist, wenn vorhanden, evangelisch. In der Niederlausitz sind die Sorben und Wenden de facto assimiliert. Das bedeutet, das die lang eingesessenen Familien sorbische beziehungsweise wendische Wurzeln haben, ihre Sprache aber Deutsch ist.

Früher war das anders. Die gesamte Lausitz war sorbisch, die Bevölkerung war einsprachig, eben Sorbisch. Nur in den Städten und im Gebirge gab es deutsche Enklaven. Die Menschen, die das Land bestellten, die das Handwerk betrieben, waren jene Sorben, die man einst Wenden nannte: Nachfolger zweier westslawischer Stämme, die im Zuge der Völkerwanderung im 6. und 7. Jahrhundert in die heutige Lausitz einwanderten. Bis vor 150 Jahren noch waren die meisten Dörfer um die Städte Bautzen und Cottbus sorbisch und wendisch. Diese nebeneinander stehenden Begriffe als Unterscheidung zwischen den Obersorben und den Niedersorben gibt es jedoch erst nach 1945. Bis dahin hießen alle Slawen, die auf deutschem Gebiet lebten und kein anderes Mutterland hatten, Wenden. Das Wort hatte einen abwertenden Beigeschmack. In der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR ersetzte man die bis dahin üblichen Begriffe Wenden und Wendisch offiziell durch Sorben und Sorbisch. Schließlich kamen sie den Eigenbezeichnungen Obersorbisch „Serbja“ und Niedersorbisch „Serby“ näher. Während der neue Begriff in der Oberlausitz übernommen wurde, lehnten die Niederlausitzer diese Bezeichnung für sich ab.

„Um uns ist etwas wie eine Mauer, ein magischer Kreis“, sagt Gabriel Schneider. Er ist der Vereinsvorsitzende der Schmerlitzer Volkstanzgruppe. Mit „um uns“ meint er das Kernsiedlungsgebiet, die Region, in der Sorben noch als Sorben leben. Es liegt an der „Abgeschiedenheit vielleicht, und auch dass wir weit weg sind von den Kohlerevieren.“ Ein anderer Grund sei die Religion. „Drei Faktoren trennen uns von den Deutschen; die Religion, die Sprache und die Kultur. So blieben wir unter uns.“ Eine Unterbrechung der sorbischen Kontinuität war die Zeit des Nationalsozialismus. Es gab ein totales Sprachverbot. Aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die kulturellen Aktivitäten und die Förderung der Sprache in der Oberlausitz sofort wieder aufgenommen. „In der DDR wurde das ja sehr gefördert.“

Das vom örtlichen Handwerk unterstützte Schmerlitzer Vereinshaus im Kernsiedlungsgebiet der Sorben

An diesem Probentag sitzt der 57-jährige Agrar-Ingenieur Schneider in der Ecke des Schmerlitzer Gemeindehauses. Er bedient den Laptop. Auf ein Zeichen von Dieter Wendisch drückt er auf Wiedergabe. Slawische Volksmusik erklingt für den Schmerlitzer Volkstanz, die eigens für die Gruppe komponiert wurde. Die Musik erinnert an Polka. Sie ist schnell, slawisch, ein wenig melancholisch, auch freudig. Die Paare wirbeln umeinander, die Hand des Mädchens liegt locker auf der Schulter des Jungen. Der Junge hält sie an der Hüfte, sie sehen sich in die Augen, das Kinn vorgestreckt. Es wird gesteppt, auf die Schenkel geklopft, dann kommen die Sprünge und ab und zu ein Juchzer.

„Eins, zwei, drei, hopp“ – ruft Dieter Wendisch. „Und hopp … Stopp“.

Die Musik ist aus, die Tänzer:innen stehen.

„Also Ihr wisst doch, umso höher die Mädchen springen, umso höher wächst der Flachs. Der Junge ist der Kran, aber die Mädchen müssen helfen. Springt richtig ab, also hoch mit euch.“ Und wieder geht’s von vorne los.

Der Schmerlitzer Verein zählt 60 aktive Mitglieder. Die sogenannten Nachwuchsgruppen sind die zwölf bis 16-Jährigen, danach gehört man zur Hauptgruppe, das sind 16 bis 30-Jährige, die in der Lausitz, im In- und im Ausland sorbischen Volkstanz präsentieren. Eine von ihnen ist Theres Wenk, 25. Die Erzieherin tanzt seit 15 Jahren in Schmerlitz. „Es ist sehr familiär und intim“, sagt sie. „Wir sprechen Sorbisch miteinander, es ist ein großes Gemeinschaftsgefühl.“ Stolz mache sie, daran teilzuhaben, „zu zeigen, dass es unsere Kultur gibt, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen“.

Antonio Mattick, 19 Jahre, Medizinstudent, tanzt seit seinem 12. Lebensjahr im Verein. „Sein Vater war schon ein sehr guter Tänzer“, sagt Dieter Wendisch, der in manchen Fällen schon die dritte Generation trainiert. Antonio Mattick gefällt der hohe Anspruch, den der Trainer, der Profi, an sie stellt. Höhepunkte seien die gemeinsamen Reisen. In normalen Zeiten ginge es einmal im Jahr ins Trainingslager und dann gibt es die vielen Festivals, überall in der Welt. „Auf den Fahrten singen wir die ganze Zeit sorbische Volkslieder“, fügt Theres Wenk hinzu. „Erstaunlich wie viele wir kennen.“

Von jeher gelten die Sorben und Wenden als musikalisches Volk. Es gibt eigene Instrumente, den großen und den kleinen sorbischen Dudelsack, die große und die kleine dreisaitige Geige und die Tarakawa, ein der Oboe ähnliches Instrument. Als „erstaunlich wild“ beschrieben Volkskundler die Tänze schon im 18. Jahrhundert. Mancherorts sorgten sich die Kirche und preußische Beamte um die Einhaltung der Sitten bei den Tanzveranstaltungen. Der Tanz sei recht freizügig, berichtete man. Jede Gelegenheit würden sie nutzen, um ausgelassen zu feiern, mit Musik, Trank und Tanz.

Land ohne Vaterland

„Für uns ist es Identität“, sagt Volkmar Scholze. Der 57-jährige Sorbe lebt in Höflein (Obersorbisch in Wudwor) und ist ein weiterer engagierter Förderer des sorbischen Volkstanzes. Als junger Mann, Sportler und Laien-Tänzer wurde er vom Sorbischen National-Ensemble entdeckt und zum Berufs-Tänzer ausgebildet, der aktiv von 1983 bis 1993 getanzt hat. Danach gründete er eine Malerfirma und widmete sich dem heimischen Folklore-Ensemble Höflein. „Der Nachwuchs ist uns sehr wichtig“, sagt er. „Wir sind ein Land ohne Vaterland“. Jeder bewusste Sorbe begreife es als seine elementare Aufgabe, die Tradition weiterzugeben. Sonst gehe sie verloren. „Der Tanz ist in erster Linie Geselligkeit. Aber er ist eben auch die Weitergabe von Traditionen.“

Das Tanzensemble Höflein ist das andere großes Laien-Ensemble in der Oberlausitz. Zu den 75 aktiven, jungen Menschen als Mitglieder, kommen noch etwa 30 „älteren Semesters, die mit dem Tanzen nicht aufhören können“, so Volkmar Scholze.

Der Polterabend

Eigentlich sollte an dieser Stelle der „Sorbische Polterabend“ beschrieben werden. Ein Folklore-Gala-Abend, den das Sorbische National-Ensemble im Spielplan hat. Premiere wäre Ende März gewesen. Kurz vor dem Auftritt in der Bautzener Stadthalle Kronen grassierte noch einmal das Corona-Virus durch Ballett und Chor. Die Premiere musste abgesagt werden. Stattdessen fand ein Benefizkonzert zur Unterstützung der Ukraine statt.

Das Sorbische National Ensemble, abgekürzt SNE, ist das professionelle Gesang- und Tanzensemble der Sorben mit Sitz in Bautzen. In diesem Jahr jährt sich dessen erster Auftritt zum 70. mal. (Die erste Aufführung fand zu Stalins 73. Geburtstag im Dezember 1952 in Cottbus statt). In seinen sozialistischen Anfängen bestand die Aufgabe des SNE darin, die nach dem Nationalsozialismus nur noch aus Reliquien bestehende sorbische und wendische Volkskultur in Lied, Musik, Tanz und Trachten neu zu heben und sie bühnenwirksam aufzubereiten. Dazu wurden in der DDR umfangreiche Feldforschungen durchgeführt. Journalist:innen, Soziolog:innen und Künstler:innen zogen über Land und dokumentierten alles, was an wendisch-sorbischer Kultur zu finden war. Diese Feldforschungen, Interviews, Tonaufnahmen, Beschreibungen, was wann wie gesprochen, getanzt und gesungen wurde, sind bis heute das Fundament, auf dem die sorbische Volkskunst fußt.

Die ersten Mitglieder des Ensembles stammten aus der Laienbewegung. Sie waren Sorben, die genug Talent hatten und zu Berufskünstlern ausgebildet wurden. Zur Anleitung kamen Profis aus dem benachbarten slawischen Ländern und aus anderen Regionen in der DDR. Der einflussreichste Choreograf am SNE war der Slowake Juraj Kubánka, verstorben 2021 im Alter von 92 Jahren. In seiner Heimat und in der Lausitz ist er eine Legende. Kubánkas neue Ausdrucksformen für das Ballett hoben das Drei-Sparten-Ensemble (Ballett, Orchester, Chor) auf sein heute weithin anerkanntes hohes künstlerisches Niveau.

Auch Dieter Wendisch kam über das SNE zum Sorbischen Volkstanz. 1964 begann er dort als Tänzer. Später machte er eine Weiterbildung zum Tanzpädagogen an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden, wurde Ballettmeister, Assistent und Choreograf am SNE. Seitdem hat ihn, den Nicht-Sorben, der Sorbische Volkstanz nicht mehr losgelassen. „Sie nennen mich Knjes Wendisch“, sagt er, Knjes heißt Herr auf Sorbisch, „darauf bin ich stolz“.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Ensemble 1991 gründete er eine Tanzschule in Bautzen und unterstützte als künstlerischer Leiter die Schmerlitzer Volkstanzgruppe, für die auch er die Choreografien erarbeitet.

„Volkstanz kommt aus dem Volk“, sagt Wendisch. Es habe mit dem Leben der Bauern und Handwerker zu tun, hier in der Lausitz“. Es hat also einen starken regionalen Bezug. Wenn er eine neue Choreografie erarbeite, dann schaue er ganz genau, wie die Leute getanzt haben könnten. Das sei immer auch eine ethnologische Arbeit. „Als erstes nehme ich Musik aus der Region, die von einem sorbischen Musiker bearbeitet wird. Dann tauche ich ein in die Zeit, in den Ort, ich gehe ins Museum, schaue Bilder an, die Trachten und frage mich, wie sie sich wohl bewegt haben könnten. Es ist eben ein Unterschied, ob in einer Choreografie ein Fischer aus dem Spreewald eine Rolle spielt oder ein Schmied aus den Bergen. Sie laufen ganz anders.“ Wendisch zeigt das Schwanken eines Mannes auf einem Kahn und das betonte Stampfen, wenn man einen steilen Hügel besteigt.

Die Vielfalt

Der „Sorbische Polterabend“, wie ihn das SNE auf dem Spielplan hat, spiegelt die Breite der sorbischen Kultur. Nach dem „Dumbańca“ (sorbisch für „Polterabend“) führt das Ensemble durch vier sorbische Hochzeiten. Zuerst durch die katholische Hochzeit. Das ist die Hochzeit, die heute noch am häufigsten gefeiert wird, Sie ist typisch für das Kernsiedlungsgebiet. Danach kommt die Schleifer Hochzeit. Schleife ist eine Grenzregion, zwischen der Nieder- und der Oberlausitz, magere Böden und seine von dichten Wäldern relativ abgeschirmte Lage prägten das regionale Brauchtum. Schleife ist die kleinste der insgesamt elf Trachtengebiete. Es gibt einen Schleifer Dialekt, Schleifer Melodien und zahlreiche Volkswaisen. Dann folgt die Blunoer Hochzeit, und schließlich die niedersorbische Hochzeit. Alle vier Hochzeiten unterscheiden sich in Musik, Trachten, in der Erzählung und in der Art der Tänze.

„Dass es vier Hochzeiten gibt, zeigt wie ausgeprägt und vielfältig die Kultur der Sorben und Wenden war“, sagt Tomas Kreibich-Nawka. Der 42-jährige Musiker hat 2021 die Intendanz am SNE übernommen. „Als Kulturbotschafter haben wir die Aufgabe, diese Vielfalt zu zeigen. Das heißt, die Sorben in ihrer Ganzheit zu präsentieren, einerseits.“ Andererseits hält er es für überlebenswichtig, auch außerhalb der Lausitz ernst genommen zu werden. Dazu müsse die Folklore modernisiert werden.

Tradition modernisieren? Ist das kein Widerspruch? „Überhaupt nicht“, sagt Kreibich-Nawka. „Um uns auch außerhalb des heimischen Radius Gehör zu verschaffen, ist genau das notwendig. Wir brauchen mehr Außenwirkung.“ Dazu müsse man die Tradition mit dem Zeitgenössischen verbinden. Kreibich-Nawka denkt dabei er an eine Spielbreite, die von Tracht bis Punk reichen könne. Bisher würde zum Beispiel traditionelle Musik verwendet, aber nicht die ursprüngliche, sagt der Musiker, der selbst mit alten Tonaufnahmen jener Feldforschungsarbeiten experimentiert. Sorbische Folklore mit Elementen des Gaga-Tanzes zu verbinden, wäre zum Beispiel etwas, was er sich als radikale Erneuerung vorstellen könnte.

Tradition und Moderne

„Tradition hat immer auch mit Zukunft zu tun“, sagt Mia Facchinelli. Mit dieser Dialektik zu arbeiten, sei einer der besonderen Reize ihrer Arbeit am Sorbischen National-Ensemble. Die 48-jährige Italienerin kam 1994 nach einer Ausbildung in der Schweiz als Tänzerin ans SNE. Damals hatte sie keine Ahnung von den Sorben im Allgemeinen und deren Volkstanz im Konkreten. Heute leitet sie als Ballettmeisterin und Choreografin die international besetzte Tanzcrew des Ensembles. Wir treffen sie bei den Proben für den „Sorbischen Polterabend“. Aktuell sind zwölf Tänzer:innen und zwei Eleven engagiert. Sie kommen aus Großbritannien, (West-)Deutschland, Italien, Brasilien, Irland, Österreich und der Slowakei. Niemand von ihnen ist gebürtige Sorb:in.

„Für uns als Profis spielt es keine Rolle“, so Facchinelli. „Wir sind zu allererst Tänzer:innen“.

Und doch sei es etwas Besonderes bei einer klassischen Tanzausbildung, Volkstanz zu machen. Es sind zwei sehr verschiedene Tanzformen, die nebeneinander stehen. Das Repertoire des Ensembles reicht von Folklore-Abenden bis zum modernen Tanztheater und Operetten, immer mit sorbischem Bezug.

Im Vergleich zum klassischen Tanz und zum Ballett sei der Volkstanz viel „peripherer“, die Bewegungen ausladender, erklärt sie. „Wir schweben nicht leicht wie eine Feder. Auch auf die Spitze gehen wir selten“. Die Atmung ist anders, andere Muskelgruppen werden beansprucht. Der Volkstanz ist derber, kraftvoller. „Wir springen viel, stampfen und steppen. Und wir können sofort wechseln, zack“, sie schnippt mit dem Finger, „von einer Sekunde zur anderen wechseln wir vom Volkstanz zum modernen Tanz.“ Das sei in einer westlichen Kompanie einzigartig.

In den slawischen Ländern spiele Volkstanz durchaus eine Rolle, aber in der westlichen Welt wenig, und schon gar nicht im professionellen Bereich.

Ein freies Bekenntnis

Heute sind die Sorben eine von vier nationalen Minderheiten Deutschlands, neben den Dänen, Friesen und den deutschen Sinti und Roma.

Schätzungsweise leben 60 000 Sorben in der Lausitz, davon 40 000 in der Oberlausitz und 20 000 in der Niederlausitz. Geschätzt sind die Zahlen deshalb, weil zum sorbischen Volk gehört, wer sich zu ihm bekennt. Das Bekenntnis ist frei. Es darf weder bestritten noch nachgeprüft werden. Als Sorbe kann sich also jeder bezeichnen, der sich als Sorbe fühlt. Theoretisch zumindest. Wäre da nicht das Problem mit der/den Sprache(n).

Sorbisch ist nicht gleich Sorbisch

Grundsätzlich gibt es zwei Schriftsprachen, Obersorbisch und Niedersorbisch, auch Wendisch genannt. Das Obersorbische ähnelt dem Tschechischen und dem Slowakischen, das Niedersorbische ist dem Polnischen näher. Daneben existieren einige Dialekte, überwiegend Varianten des Niedersorbischen, denn bis ins 18. Jahrhundert hinein gab es viel mehr Wenden, also Niedersorben als Obersorben, und so entwickelten sich auch verschiedene Varianten.

Beide Sprachen stehen auf der UNESCO Liste für gefährdete Sprachen, Obersorbisch gilt als gefährdet, Stufe zwei, Niedersorbisch als „ernsthaft gefährdet“, das ist Stufe drei von insgesamt vier. Danach kommt nur noch „moribund“, sterbend. Aktuell gibt es schätzungsweise nur noch 5000 Sprecher:innen des Niedersorbischen/Wendischen.

Niedersorbisch

Eine dieser 5000 Sprecher:innen ist Franziska Albert. Die 39-jährige studierte in Leipzig Sorabistik. Erst da lernte sie Niedersorbisch, als Fremdsprache. Dabei ist sie selber Sorbin/Wendin und hat sich immer für die Sprache interessiert. Sie ging auf das niedersorbische Gymnasium in Cottbus. Dort wurde zwar Niedersorbisch gelehrt, das aber habe wenig zu tun gehabt mit der Sprache, die man in der Niederlausitz sprach.

Heute arbeitet Franziska Albert als Sprachwissenschaftlerin mit Jugendlichen im Cottbuser Umland. In Zusammenarbeit mit dem Niedersorbischen Kulturinstitut, das erst jüngst gegründet wurde, macht sie Freizeitangebote für Jugendliche auf Niedersorbisch. Die Jugendlichen, die Niedersorbisch an den Schulen lernen, sollen die Sprache auch in ihrer Freizeit verwenden. Anders als im obersorbischen Kernsiedlungsgebiet wird das Niedersorbische nicht in den Familien gesprochen. Die Sorben und Wenden in der Niederlausitz sind so gut wie assimiliert. Das heißt, ihre Identität, ihre Sprache ist Deutsch. Niedersorbisch steht auf der Kippe.

Damit die Sprache und mit ihr die Kultur der Niedersorben überlebt, muss sie in die Familien zurück. „Es ist mühselig, weil die Jugendlichen einfach viel zu tun haben, und Deutsch ist allgegenwärtig. Es verlangt ein sich Bemühen, Niedersorbisch wirklich zu sprechen“, sagt Franziska Albert.

Wir treffen uns auf dem Parkplatz vorm Netto in Cottbus. Auch sie tanzt sorbischen Volkstanz. Ihre Gruppe ist in der Region bekannt unter dem Kürzel TEF. Die drei Buchstaben stehen für den Namen TanzErFolk. Früher, zu DDR Zeiten, waren sie das Kürzel für „Tanz-Ensemble Freundschaft“. Die Ursprünge dieser Laientanzgruppe liegen, wie bei den Oberlausitzer Gruppen auch, in der frühen DDR. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf. TanzErFolk zählt derzeit zwölf Mitglieder, davon zehn aktive. Das Durchschnittsalter liegt bei 50 plus. „Ich bin mit 39 Jahren die jüngste“, sagt Franziska Albert, „und die einzige Sorbin, besser gesagt Wendin.“ Für die anderen ist der sorbische Volkstanz vor allem lokale Tradition. Die Schule, in der das Training stattfindet, liegt am sogenannten Nordrand von Cottbus, hier reihen sich Discounter an McDonalds an Tankstellen an Wohnblöcken, eine Ein- und Ausfahrtstraße, wie sie vielerorts anzutreffen ist, wo Umland in Stadt übergeht.

Franziska Albert kommt von der Arbeit, ein Meeting, das wieder mal länger gedauert hat. In einer Stunde beginnt das Training, vorher muss sie die Tochter nach Hause bringen. Ob ich mitkommen will? Klar. „Franziska“, bietet sie ihr Du an und lächelt breit. Ihre langen braunen Haare sind locker zu einem Zopf gebunden, ein Mädchengesicht, mit einem entschlossenem Kinn und Brille. Parka, Pullover, Jeans. Sie wirkt ein wenig angestrengt, gehetzt und hoch konzentriert. Wir fahren nach Werben, das liegt zwanzig Minuten von Cottbus entfernt.

„Unser Problem ist die Sprache“, sagt sie. „Ich habe ja, wie viele hier, Sorbisch an der Schule gelernt. Ich habe das richtig gerne gemacht. Aber wenn ich in der Familie versucht habe zu sprechen, haben mich meine Großmutter und meine Urgroßmutter immer so komisch angeguckt. Viele Jahre habe ich geglaubt, dass ich es wohl nicht richtig sage.“

Franziska redet schnell, sie hat viel zu erzählen. Die Rede ist von der Urgroßmutter, die ihre Kinder trotz Sprachverbot in der Nazizeit Wendisch erzogen hat, dann aber in den 1960er Jahren doch die Tracht ablegte. Sie spricht von Bibeln auf Niedersorbisch, die schon vor der Nazizeit aus den Häusern der Sorben und Wenden geholt wurden. Und von den Umstrukturierungen hier in der Region. Die Kohle, Bevölkerungsexplosion, Industrialisierung einer ehemalig ländlich geprägten Region, dazu die Kraftwerke, das Energiezentrum und dann deren Zusammenbruch. „Wir haben hier den größtmöglichen Strukturwandel gleich zweifach erlebt, in nur fünfzig Jahren.“ Was blieb, ist das Brauchtum, die Feste in der Lausitz, der Volkstanz, die Musik, die Trachten. „Es ist eine Art uns festzuhalten“, sagt sie. Technisch gesprochen nennt man es „vertanztes Brauchtum“.

Ihr „coming out“ als Sorbin/Wendin habe sie erst mit 18 Jahren gehabt. Zwar habe sie immer gewusst, dass sie aus einer sorbisch/wendischen Familie stamme, „aber das Thema wurde irgendwie gemieden“. Immer wenn sie neugierig nachfragte, habe es so ein betretenes Schweigen gegeben. „Das war total krass. Es gab ja die Fotos, meine Urgroßmutter in Tracht, eine typisch sorbische Hochzeit, das war 1937, da waren ja schon die Nazis an der Macht. Dann, nach dem Krieg, da trug sie immer noch ihre Tracht, aber sie hat sie abgelegt, in den 1960er Jahren.“ Dabei hat man doch in der DDR die sorbische Kultur so gefördert?

„Das Obersorbische schon“, erklärt sie, „aber nicht die Sprache der Niedersorben.“

Die Stadt liegt hinter uns, die Straße ist von Wald gesäumt, ab und zu ein paar Häuser. Wir biegen ab in die Dunkelheit, folgen einem Feldweg. „Dort, wo es am dunkelsten ist, da wohnen wir“, sagt sie und strahlt. Es ist eine sternenklare Nacht, fernes Hundegebell, das Rauschen der Bäume, die Lichter der Autos auf der wenige hundert Meter entfernten Landstraße Richtung Burg. Der Wind zieht über die Felder, die man nur erahnen kann. Es ist ein Moment wie in einer Zwischenwelt. Werben, Franziskas Heimatdorf, ist eins der ältesten Dörfer des Spreewaldes, ein ursorbisches Dorf. Der Name geht auf das sorbische Wort wjerba zurück, was Weide bedeutet.

Der magische Kreis

„Ostern ist die Hoch-Zeit bei den Sorben und Wenden“, sagt Franziska, wobei sie das „hoch“ mit einem langen o spricht. Hoch als Gegensatz zu „niedrig“. Eine hohe Zeit. Das sei sie deshalb, weil zu Ostern so viele sorbisch/wendische Bräuche gefeiert würden.

Da sind die bunt bemalten Ostereier aus dem Spreewald, die vielen Osterfeuer, das Ostersingen und das spektakuläre Osterreiten in der Oberlausitz. Das sind tausend Reiter, die mit Zylinder, Gehrock und Stiefeln gekleidet, singend und betend in neun Prozessions-Zügen auf reich geschmückten Pferden durch das Oberlausitzer Land ziehen. Sie künden von der Auferstehung Jesus Christus. Das wichtigste dabei, die Züge dürfen sich nicht begegnen. Es würde Unglück bringen.

„Das finde ich so toll, an den Bräuchen“, sagt Franziska, „sie haben bei aller Religiosität immer einen heidnischen Ursprung. Es geht um den Schutz der Felder und der Dörfer, darum, böse Geister zu vertreiben, einen magischen Kreis zu schließen.“

Wenn ihre Zeit das zulasse, gehe sie zum Ostersingen. Dazu treffen sich die Frauen in Trachten in der Nacht zum Ostersonntag. Am Rand eines Feldes singen sie bis zur Dämmerung, Richtung Osten, sorbisch-wendische Lieder. „Es ist sehr spirituell und ganz besonders. Letztlich habe ich erfahren, dass meine Oma auch beim Ostersingen mitgemacht hat.“ Dieser Brauch diente dem Schutz des im Frühjahr wieder aufkeimenden Lebens. Im 17. Jahrhundert waren es noch die Männer, die singend die Felder umschritten. Später stiegen sie auf die Pferde und die Frauen übernahmen das Singen.

Truhentrachten

Die Trachten sind heute aus dem Alltagsleben der Lausitz verschwunden. Doch bei Bühnenpräsentationen, Umzügen und Festen dürfen sie nicht fehlen und natürlich nicht bei einer sorbisch gefeierten Hochzeit. Auch das kommt häufiger wieder vor. Trotzdem, die Tendenz geht nach unten: „Noch vor fünfzehn Jahren“, erinnert sich SNE-Intendant Kreibisch-Nawka, „sah man in Bautzen noch wowkas, alte Frauen in Trachten“. Wowka ist das obersorbische Wort für Großmutter. „Heute gibt es das gar nicht mehr.“

Konkret zählte man in den 1950er- Jahren mehr als 10 000 Frauen in der gesamten Lausitz, die täglich Trachten trugen. 60 Jahre später waren es nur noch 400 vor allem ältere Frauen und das auch nur im Bautzener Raum. Seitdem sind es Truhentrachten, historische Kleidung, die im Alltag nicht mehr verwendet werden.

Das Tragen einer Tracht war und ist immer ein Bekenntnis zur ethnischen Identität, sowohl nach außen als auch nach innen. Jede Tracht vermittelt eine Reihe von Informationen über die Träger:innen. Man konnte anhand der Tracht erkennen, aus welchem Dorf er oder sie kam, auch, ob es einen Trauerfall in der Familie gegeben hatte, ob die Trägerin Witwe oder eine verheiratete Frau war. In einer Tracht, die die Schmerlitzer noch heute bei ihren Auftritten verwenden, zeigt die Form des Blütenstempels, ob die Trägerin vergeben oder noch unverheiratet sei.

In der Niederlausitz ist der Zapust das Fest aller Feste. Ursprünglich bedeutete er das Ende der Arbeit in den Spinnstuben. Die Spinte war eine Dachkammer, in der sich die Frauen, meist Mägde, im Winter zum Spinnen trafen. Dabei wurde viel gesungen, erzählt und auch vermittelt. Am Ende dieser Zeit gab es ein Fest, das letzte vor der Fastenzeit. Der Zapust läutet den Frühling ein und ist als Brauch bis heute erhalten.

Die sorbischen Schulen organisieren ihren eigenen Umzug, und als Franziska endlich eine Tracht bekam, ging sie damit zu ihrer Urgroßmutter. „Ich war so stolz“, erzählte sie, „aber sie reagierte sehr zurückhaltend und war alles andere als begeistert“. Darauf angesprochen, habe sie gesagt: „Ach Franzi, was du da immer erzählst, das verstehe ich nicht. So haben wir nicht gesprochen. Unser Wendisch, das kannste vergessen. Die ganzen Fotos von mir, die kannste verbrennen, und die Trachten, die habe ich schon 1961 weggeschmissen.“

Es ist eine typische Geschichte in der Niederlausitz. Die meisten Frauen, die sich nach dem Krieg noch als Sorben/Wenden zeigten, gaben irgendwann auf. Sie waren auf einmal eine Minderheit, belächelt, nicht verstanden, Leute von gestern.

Und das obwohl in der DDR das Sorbische gefördert wurde?

„Die Folklore ja.“ Vielleicht war alles nur ein Art Ausgleich? „Das weiß ich nicht, Fakt ist, was wir in der Schule als Niedersorbisch gelernt haben, war stark vom Obersorbischen beeinflusst“, sagt die Sprachwissenschaftlerin. In der DDR wollte man das Niedersorbische an das Obersorbische anpassen, die Aussprache, die Grammatik und im Wortschatz. Eine Art realsozialistische Rationalisierung.

Die Lausitzen – Divide et imperi

Früher sprach man von den Lausitzen im Plural, wegen ihrer geografischen Unterschiede, aber auch, weil sie unterschiedlichen, häufig wechselnden Herrschaften zugeordnet waren. Selbst die sorbisch/wendische Bevölkerung entstammte zwei verwandten, dennoch verschiedenen westslawischen Stämmen. Im 6. Jahrhundert waren in die heutige Oberlausitz die Milzener eingewandert. In der heutigen Niederlausitz ließen sich die Lusizers nieder. Deshalb gibt es zwei verschiedene Schriftsprachen. Zudem sind die Obersorben meist katholischer Konfession, die Niedersorben, wenn überhaupt, lutherisch. Bis zur Reichsgründung gehörte der Großteil der heutigen Niederlausitz zu Preußen, die Oberlausitz zu Sachsen. Ähnlich dieser historischen Grenze, aber nicht identisch, gehört die heutige Oberlausitz zum Freistaat Sachsen und die Niederlausitz zu Brandenburg. Allerdings haben sich einige Kreise der Grenzregion entschieden, zu Sachsen zu wechseln, ist doch in erster Sicht die sorbische Kultur hier präsenter. Das aber hat deutliche Nachteile, weil ihre Sprache historisch gewachsen Niedersorbisch ist. Sie zu erlernen, wird in Brandenburg als Fremdsprache anerkannt, in Sachsen aber nicht. Überhaupt führt die Teilung der Sorben und Wenden, die administrative Aufgliederung über zwei Bundesländer und verschiedene Kreise immer wieder zu Schwierigkeiten, um flächendeckende Projekte durchzuführen. Bei aller Minderheitenpolitik bleibt eines offen: „Warum gewährt man uns immer noch nicht die territoriale Einheit?“, fragt – nicht nur – Franziska Albert.