Diese „unendlichen Türen“ sind es, die Kor’sia eine Freiheit geben von den Beschränkungen und Zwängen, die Werke der Klassik auf ihre scheinbar einzige „korrekte“ Lesart reduzieren zu müssen. „Mont Ventoux“, das ist nichts weniger als eine herrlich zu genießende Metapher für das schreckliche, beschleunigte Leben, ein Aufruf zur Entschleunigung, eine Einladung, die Natur in unser digitalisiertes Leben aus Pflaster und Beton so mit einzubeziehen, wie wir sie manchmal von unserem Fenster aus als eine von Sonne und Wetter durchflutete Landschaft betrachten, die wir trotz aller Kraft dieser imposanten Natur nur selten auch wirklich wahrnehmen.
Das Tandem Russo/Rosa teilt raffiniert mit einen gigantischen Glasfenster, durch das ein Berg zu sehen ist, den Theaterraum in zwei Räume: in den der Geschwindigkeit und des Schwindels der Stadt und in den der Natur und Kontemplation: ein Raum, der auch zwei Tanzformen beherbergt: auf der Seite das Virtuose und Präzise, auf der anderen das Lyrische, Gefühlvolle, Langsame. Hier hat sich zu ersten Mal bei Mattia Russo und Antonio de Rosa ein Sinn für das Spektakel artikuliert, natürlich immer noch im Dienst der Idee für den Maelstrom unserer technologischen Gesellschaft ohne Atempause, ohne Ruhe, ohne Zeit zum Nachdenken.
An einer Stelle in „Mont Ventoux“ sieht man Tänzer in legerer Straßenkleidung, die von Zeit zu Zeit ihren wilden und ungezügelten Marsch durch den Raum unterbrechen, um sich für das zu interessieren, was auf der anderen Seite des Glasfensters geschieht. Dort drüben herrscht offensichtlich ein anderer Rhythmus. Auch die Menschen dort drinnen scheinen mit langsamen Bewegungen neugierig zu sein auf die Unruhe da draußen. Sie schauen sich fremdelnd an, sie versuchen, sich trotz des Glases, das sie trennt, zu berühren, als ob sie das, was auf der anderen Seite geschieht, sowohl wünschen als auch ablehnen. Kor’sia setzt die Welt in zwei Geschwindigkeiten in Bewegung. Dabei erscheint ihr Blick auf den „Mont Ventoux“ als sehr klar, präzise und relevant. Nichts wirkt überflüssig, alles stimmig. Das wirkungsvolle Bühnenbild, das wieder von Amber Vandenhoeck entworfen wurde, und der allgegenwärtige, zugleich diskrete Klangraum mit seinen zarten barocken Reminiszenzen von Alejandro Da Rocha verschaffen dieser Inszenierung eine Ästhetik, die sich wahrhaft das originale Kor’sia-Siegel verdient hat. Vorläufig sind sie auf dem Gipfel ihres Ruhms angelangt.