Das Katz- und Maus-Spiel mit den Traditionen führt (LA)HORDE auch auf ein Terrain, das sich auch aus der Tradition des Ballet National selbst ergibt: Die Konzeption von Mehrteilern aus unterschiedlicher, choreografischer Feder. Ein gemischter Abend mit Stücken von Balanchine, Hans von Manen und vielleicht einem Cunningham oder Marco Goecke findet sich im Saisonprogramm jeder klassisch-modern orientieren Kompanie. In Marseille gab es so etwas bisher nicht. Brutti, Debrouwer und Harel ändern auch das. Schon zwei solcher Programme haben sie inzwischen auf die Beine gestellt. Eins davon heißt Roommates. Damit soll deutlich werden, was die drei im Schilde führen: Sie geben verschiedene Epochen und Tänze zusammen in eine Ausstellung, oder eine Gemeinschaft. Nur wer hätte gedacht, dass sich in dieser Stilübung auch ein Stück von Lasseindra Ninja finden könnte? Die Queen der Pariser Voguing-Szene hat sehr genau verstanden, was in der neuen Truppe aus Marseille steckt und entzündet die Interpret:innen wie ein Feuerwerk. Nicht eins aus Voguing, sondern eine Kreation im Geist einer Offenheit für die Lust am Körper. Tanz muss Spaß machen, meint (LA)HORDE und wollen zeigen, dass sie auf keinem Auge blind sind. So begannen sie ihre Exploration der Tanzlandschaft gemeinsam mit Lucinda Childs. Die hatte 2009 dem damaligen Ensemble – zu jener Zeit unter der Leitung von Frédéric Flamand – ein Stück namens Tempo Vicino auf den Leib geschrieben. Aber die Leiber sind heute andere, und der Geist ist es auch. So klappte vieles nicht zwischen der Truppe und Lucinda Childs. In der präzisen Mechanik und Rhythmik wirkten die Tanzenden 2009 noch ein wenig wie freche Kinder, die zum Kirchgang in den Sonntagsanzug gestopft wurden.
Während des Lockdowns diskutierten sie mit Lucinda Childs regelmäßig per Zoom und stellten bald fest, dass sie deren Stil nun viel besser verstehen. Das Ergebnis war in Roommates zu bewundern, ihrem zweiten gemischten Abend, den sie im Mai 2022 vorstellten. Childs war freizügig und hielt ihnen die ganze Schatztruhe ihrer 60-jâhrigen Karriere als Choreografin entgegen: „Sucht euch aus, was euch gefällt!“ Die Wahl fiel auf Concerto, ein Stück, das nun bald dreißig Jahre alt ist und zu hämmernden Rhythmen am Spinett von Henryk Gorecki getanzt wird. Normalerweise wird daraus eine puristische Übung in einem Bewusstseinszustand, der irgendwo in höheren, abstrakten Sphären schwebt. Das Mirakel von Marseille war, dass hier eine Art Götterdämmerung beschworen wurde, ein Furor aus der Unterwelt, wo die Körper und Seelen wallen und brausen, und wo das reine Exerzieren zu einem Kampf zwischen Körper und Seele wird: im Grunde die Intention Goreckis mit seinem Konzert aus Wut und Rebellion. In Marseille verkörpern sie das, ohne dabei die Präzision oder Konzentration von Lucinda Childs zu verlieren. Was damit zu tun hat, dass Childs‘ Concerto hier als Roommate, also als Mitbewohner einer WG der Tanzgeschichte betrachtet wird, die Lucinda Childs nicht nur selbst überrascht, sondern auch verzückt haben dürfte. Daneben steht zum Beispiel das Duo Les Indomptés der französischen Choreografen Claude Brumachon und Benjamin Lamarche, das ein Jahr vor Concerto entstand. Es ist ein heißblütiges Plädoyer für die Liebe zwischen Männern, die sich mit jeder Bewegung in eine Art Abgrund zu stürzen scheinen. Mit diesen beiden Werken zeigt (LA)HORDE zugleich die Werke, die sie in ihrer Jugend als Tanzpublikum geprägt hat.
Auch machen sie klar, wer für sie in der heutigen Szene zum festen Inventar gehört. Zum Beispiel Oona Doherty, die Nordirin aus Belfast, die mit ihrem streetlife-appeal etwas von der Authentizität sozial schwacher Viertel und deren Sehnsucht nach Sanftheit und Hoffnung versprüht. Wie in einem Film von Ken Loach, sagen manche dazu. Aus ihrem Solo Hope Hunt and the Ascension into Lazarus entstand ein Unisono für das gesamte Ensemble. Allein das hätte Doherty nie für möglich gehalten. So zeigten (LA)HORDE wiederholt, dass bei ihnen jegliche Denkblockade chancenlos bleibt. Sie helfen, Denkblockaden bei anderen aufzuheben. „Gleich nach unserer Nominierung boten wir Oona an, mit der Truppe zu arbeiten“, sagen sie. Und erhielten eine Abfuhr: „Ich mache keinen klassischen Tanz!“ Das Wort Ballett schockte Oona, doch es gab ein Happy End: „Sie kam schließlich in unser Büro, dann haben wir eine Begegnung mit den Tänzer:innen herbeigeführt, fast gegen ihren Willen. Und konnten sie überzeugen, einen Nachmittag mit der Truppe im Studio zu verbringen. Am Ende hatte sie Tränen in den Augen und sagte: Ich will Lazarus machen, mit der ganzen Kompanie.“