(LA)HORDE = (La)Revolte

Revolutionäre von unten: Arthur Harel, Jonathan Debrouwer und Marine Brutti

Tom de Peyret

Hier ist sie, die erste Monografie zu (LA)HORDE. Drei junge Wilde, Marine, Arthur, Jonathan, rocken Europas Tanzlandschaft und bestimmen die Geschicke von Frankreichs Ballet National de Marseille. Der Name des Kollektivs, (LA)HORDE, passt perfekt. Sie inszenieren Horden aller Art und jeden Alters: jugendliche Jumpstyle-Tänzer:innen, Senior:innen, Blinde oder ein georgisches Volkstanz-Ensemble. Die Drei sind Pioniere auf den Spuren jugendlicher Energie und Rebellion. Und der derzeit produktivste Think Tank der Tanzlandschaft.

Wer sind sie

Was ist eine Horde? Wie viele Individuen braucht es, um sich so nennen zu können? Einhundert? Fünfzig? Zwanzig? Zehn? Drei? Es eine ähnliche Frage wie die, ab wie vielen Sandkörnern man von einem Haufen sprechen kann, da nach der Paradoxie des Haufens, die auch eine der Horde sein kann, niemand je belegen kann, dass eine Menge, die man für gewöhnlich als Haufen oder Horde betrachtet, von 100 auf 99, von zehn auf neuen, von vier auf drei reduziert, keine Horde, kein Haufen mehr wäre… Genau das widerfuhr (LA)HORDE, als 2016 das Gründungsmitglied Céline Signoret den Haufen verließ. „Wir sind vier Autor:innen, die sich um ein Werk herum zusammenfinden“, sagte sie und deutete damit an, dass es als Autor:in bei ihnen nur eine kollektive Signatur gibt. „Jedes Werk situiert sich im Kreis unserer Diskussionen. Es gehört am Ende des Prozesses weder dem einen noch dem anderen.“ Eine geteilte, gemeinsame Autorenschaft. Hier spricht jede:r für alle. Sie wollen darum auch nicht einzeln zitiert werden, selbst wenn sie nicht immer gemeinsam einen Pressetermin wahrnehmen können.

Als sie mir im Januar 2015 in der Enge des Pariser Studios von Radio Libertaire in einer Livesendung gegenübersitzen, zeigt sich der Geist des Kollektivs. Die einen komplettieren die Sätze des anderen. Fallen sich nicht ins Wort, sondern demonstrieren, wie sehr sie auch gedanklich an einem Strang ziehen. Natürlich sprechen sie nicht im Chor. Aber Meinungsverschiedenheiten scheinen Fehlanzeige. Das ist nicht selbstverständlich, wenn so unterschiedliche, künstlerische Hintergründe aufeinandertreffen. Nur Céline Signoret, die das Kollektiv mitgründete, es aber bald verließ, war schon damals die Stillste im Bunde.

(La)Horde: Immer hungrig auf neue Erfahrungen und fremde Communities

Stephane Perche

Die drei Übrigen halten bis heute fest zusammen. Da ist die elegante, meist angespannt wirkende, gepresst sprechende Marine Brutti an der Seite von Jonathan Debrouwer, der oft das linke Auge zukneift, nicht nur, wenn er den adretten Arthur Harel anschaut, der sich stets wie aus dem Ei gepellt präsentiert. Harel studierte Schauspiel am staatlichen Pariser Konservatorium, während Marine Brutti und Jonathan Debrouwer einen Kurs in bildender und visueller Kunst an der Straßburger Haute École des Arts du Rhin, der früheren École des arts décoratifs, absolvierten. Vornehmlich Installationen und Video sind ihr kreatives Feld. „Das ist zwar nicht derselbe Bezug zum Raum,“ wie im Theater üblich. Aber sie haben als Trio durchaus gemeinsame Referenzen. Die Serien „Westworld“ oder „The Leftovers“ zum Beispiel. Die Bühnenarbeiten zwischen Tanz und Kunst von Romeo Castellucci. Oder die Filme von Christopher Nolan oder David Cronenberg. Und vieles andere, für das sie sich gegenseitig begeistern.

Gern gehen sie in die Clubs wie La Java in Paris, arbeiten mit Communities, die sie entweder ausfindig machen oder selbst konstituieren. Das erlaubt ihnen, immer neue Erfahrungen zu machen und daran auch zu wachsen. In einer Community interessiert sie nicht die Ästhetik des Tanzes oder der Körper, sondern der Prozess des Kennenlernens und der gemeinsamen Arbeit. Ihnen ist wichtig, dass sie einen neuen Geist in die Tanzlandschaft bringen und dabei auf einem Weg weitermachen, den sie sich eröffneten, als sie noch weit davon entfernt waren, auch nur davon zu träumen, eines Tages einer Institution vorzustehen. Dass sie nicht dem Trend nacheifern, von Clubbing-Tänzen auszugehen und diese als Inspiration missbrauchen, sondern die Community als solche zum Thema machen und deren Tänze mit authentischen Mitgliedern der jeweiligen Szene zum Ankunftspunkt einer künstlerischen Reise machen, ist nur eine ihrer Stärken.

Das Ballet national de Marseille

Die Gebäude des Ballet National liegen in einem Park im Westteil von Marseille und wirkt beinahe wie ein Raumschiff. Der futuristische Bau von 1992 ist ein Werk des französischen Architekten Roland Simounet, dessen Schaffen im Algerien der 1950er Jahre wurzelt. Simounet war es auch, der u.a. in Paris das Picasso-Museum neu gestaltete. Für das Ballett und dessen Schule in Marseille imaginierte er eine „weiße Kasbah“, eine Architektur zwischen Brutalismus und Orientalismus. Da sind die Probenstudios, der Saal für die Aufführungen und die Apartments der Elev:innen. Die Adresse des Komplexes: Boulevard de Gabès, benannt nach einer Wüsten- und Hafenstadt in Tunesien. Sonne gibt es satt auf den Dächern der brutalistisch gebauten Medina, auf denen die Tänzer:innen während der Mittagspause ihr Sonnenbad nehmen. Ein weites Panorama erschließt sich dort oben und offenbart, was Marseille ausmacht. Die schönen offiziellen Bilder des Gebäudes, geschossen bei dessen Eröffnung, entsprechen nicht mehr ganz dem Stand der Dinge. Die Farbe bröckelt, was nach dreißig Jahren keine Schande ist. Doch wer wird je sagen: „Lasst uns mal die Fassaden erneuern“?

Am Mittelmeer blättert schnell der Putz, auch am Ballet national, aber der Kern ist wie frisch gestrichen

Thomas Hahn

Bei ihrer Nominierung an die Spitze des Ballet National de Marseille, dem größten der insgesamt neunzehn Centres Chorégraphiques Nationaux Frankreichs, durfte man sich schon fragen, ob (LA)HORDE ihre Frische und ihre Fähigkeit, die Tanzwelt auf den Kopf zu stellen, auf dem Altar des Erfolgs würden opfern müssen. Ein so komplexes Gebilde aus Beziehungen mit und zwischen diversen Kategorien des Personals, dem politischen Umfeld und den Financiers, der Geschichte und der Zukunft der Institution und natürlich auch zum Publikum erfordern extrem viel Energie sowie Geschick und hat gerade in Marseille schon einige hochbegabte Choreograf:innen zur Verzweiflung getrieben. „Nach Meinung vieler hatten wir dort nichts zu suchen“, erinnert sich das Kollektiv. Doch es entwickelte, nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch, ein derartiges Geschick, dass es derzeit über alle Zweifel erhaben ist. Ein Hauptvorwurf von Politikern, die die Direktion zum Teufel wünschen, ist immer wieder, dass die Institution und ihr Symbol kultureller Macht sich zu passiv verhalte. Das ist das wirklich Letzte, wessen man (LA)HORDE schuldig sprechen könnte. Inzwischen müsste man ihnen das Gegenteil vorwerfen.

Auch ein “Room with a view”: auf dem Dach des Ballet national de Marseille

Thomas Hahn

Es gab auch die Frage, was ein Trio, das zeitgenössisch und zukunftsorientiert denkt, mit einer Schule anstellen würde, in der klassische Technik gelehrt wird. Selbst das sind Gegensätze von gestern. Wer nur Klassik beherrscht, wird heute in Frankreich schwerlich Engagements finden. Vielseitig müsse man sein, am besten auch noch singen können. Und vor allem: sich aktuellen Ästhetiken öffnen. Genau das fördern (LA)HORDE, indem sie den Nachwuchs ermutigen, den Puls ihres Tanzes direkt zu fühlen. Im Untergeschoss. Dort liegen die Probenstudios der Kompanie und die Studios der angeschlossenen Schule, die gerade ihr dreißigjähriges Bestehen feiert. Roland Petit, Frankreichs Starchoreograf der Nachkriegszeit, hatte sie 1992 gegründet. 40 Prozent der Elev:innen kommen heute aus der näheren Region, 45 Prozent aus dem restlichen Frankreich und 15 Prozent aus dem Ausland. Die Gänge verbinden die Probenstudios der Kompanie mit jenen der Schule. Eine Trennung gibt es nicht, jedenfalls keine räumliche. Nur eine institutionelle Sperrlinie existierte. Bis (LA) HORDE kamen. „Es war den Elev:innen verboten, die Studios der Kompanie aufzusuchen. Wir haben damit Schluss gemacht und ermutigen die Jugendlichen, uns regelmäßig bei den Proben zuzuschauen. Schließlich sind sie zu einem Teil die zukünftigen Tänzer:innen der Kompanie.“

Auf ähnliche Weise soll auch das übrige Personal eingebunden werden. Zuerst mussten Marine, Jonathan und Arthur sich mit den Personen und Abläufen im Haus vertraut machen. Sie beobachten: Was läuft gut, wo drückt der Schuh? Dann erst ging es um ihre eigenen Visionen. Das Ziel: Alle, die am BNM arbeiten, sollen sich eingebunden fühlen, Austausch und Verbindungen mit den Tänzer:innen herstellen. Wertschätzung für alle: „In unserer ersten Woche haben wir für das gesamte Personal einen Integrations-Workshop im Tanzstudio veranstaltet. Vielleicht machen wir das jedes Jahr.“ Da nämlich geschah ungeheuerliches: „Indem die Personen aus der Belegschaft sich gegenseitig ganz einfache Fragen stellten, wurde klar, dass von keiner Gruppe irgendeine Bedrohung für die andere ausging.“ Allein das ist Gold wert in Marseille und kann vieles verändern. Eine Frage war zum Beispiel: „Warum kommt ihr nicht einfach im Studio vorbei und schaut, was wir machen?“ Die Antwort der Nichttänzer:innen lautete: „Das ist normaler Weise nicht erwünscht. Wir dürfen es nicht.“ Fortan dürfen sie. „Es kann nicht sein, dass eine Buchhalterin oder Sekretärin sich nicht willkommen fühlt, wenn sie im Tanzstudio vorbeischauen will oder sich vorwerfen muss, dass sie damit ihre Arbeitszeit schlecht ausfüllt“.

Teambuilding nicht nur mit dem Tanz-, sondern auch mit dem Gesamtensemble

Thomas Hahn

(LA)HORDE zitieren den von ihnen so geschätzten Romeo Castellucci und dessen Traum, bei jedem neuen Stück völlig unwissend von Null anzufangen. Sich selbst definieren sie als genau solche „Idioten“ in Bezug auf ihre Anfänge in Marseille. Es ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen, dass ihre Unschuld in Sachen Institution ihnen in die Hände gespielt hat. Womöglich hatte die Kommission, die ihrem Projekt den Vorzug gab, genau das im Blick: Junge Leute, die – noch unschuldig und in positiver Weise naiv – die Institution aus ihrer Perspektive durchleuchten würden. (LA)HORDE sind bekannt für ihre Intelligenz und ihre Bereitschaft zur Erneuerung. Sie führten wöchentliche Meetings ein, in denen jede Abteilung die anderen über ihre Aktivitäten informiert. Zum Teambuilding gehört auch der gemeinsame Dreh eines Kurzfilms in dem wegen der Pandemie geschlossenen Musée des Beaux-Arts von Marseille. Gerade in Zeiten der Lockdowns und geschlossenen Kulturstätten mit ihren frustrierenden Annullierungen und Verschiebungen aller Aufführungen half das Gefühl der Zusammengehörigkeit über das Tal hinweg. (LA)HORDE, wären es nicht Choreograf:innen, könnte auch als Unternehmensberatung auftreten.

Senior:innen

Das Ensemble von “Void Island”

Noëmie Bottiau

Eines ihrer ersten Stücke war Void Island. 2015. Da ging es los mit den Horden und deren Definition. Immer weiß man zunächst nur, dass man weiß, was man nicht will. Von daher „haben wir nicht eine Gruppe alter Menschen aufgesucht, um ein Stück über das Altern zu machen. Wir suchten vielmehr ganz normale Interpret:innen, keine Alten, keine Amateure. Das Thema war der utopische Körper bei Foucault.“ Es ging darum, ein Stück mit Personen aller Art zu machen. „Wir haben per Annoncen die Teilnehmer:innen gesucht und es haben sich etwa vierzig gemeldet, um an einer Audition teilzunehmen. Sie alle waren zwischen 48 und 83 Jahren alt. Aber wir hatten keine Altersgrenzen gesetzt. Auch ein Sportler, der mit 35 aufhört, kann sich eventuell als Senior empfinden, während ein anderer noch mit 80 in seinem Beruf steht.“ Es ging nicht um Berufe, nicht mal darum, ob jemand je Tanz praktiziert hatte. Es ging nur um die Präsenz und die Körper. Nicht um Technik. Es ging darum, etwas über die eigene Energie und Lebenserfahrung ausdrücken zu können. „Da war zum Beispiel eine, der das Gehen schwerer fiel als anderen. Das hat uns sofort interessiert.“ Alle Haare wurden weiß gefärbt, als „eine Form von Annullierung, da sie das Zeichen das Altsein derart überzeichnet, dass man es am Ende vergisst. Letztendlich ging es nur noch darum, dass 22 Personen auf der Bühne in ihrer eigenen Ausstrahlung existieren. Es entstand das Gefühl eines Urzustands, einer fremdartigen Schönheit. Der Körper wurde zur Utopie. Nur welchen Blick wirft man auf ihn? „Bei manchen führte der Prozess wirklich dazu, dass sie sich ihre Körper wieder aneigneten.“ Oder wie es bei Michel Foucault in Le corps utopique steht: „Ich war dumm, als ich vorhin dachte, der Körper komme nie von anderswo her und sei unabänderlich ein Hier, das aller Utopie entgegenstehe.“

Aus dem Alter des Körpers Schönheit erzeugen

Noëmie Bottiau

„Es war eine szenische Arbeit, weniger etwas Choreografisches. Wir haben nicht ‘Tanz’ gedacht, sondern ‘Körper’. Wir hatten große Lust, etwas zu Foucaults ‘Heterotopien’ zu machen.“ Gemeint sind jene Orte, die sich außerhalb aller Orte befinden; Nicht-Orte wie das Theater, aber auch der Spiegel, Friedhöfe, Gefängnisse, Altenheime, Orte, wie sie nur in der modernen Gesellschaft existieren. Die Senior:innen ließen an diesem Ort der Moderne alle Hüllen fallen: „Wir haben mit Body painting gearbeitet, um zu zeigen, dass dies andere Körper sind.“ Das war wichtig. Überall lauert die in Frankreich umfänglichen Debatten über ästhetische Fragen. Bei (LA)HORDE hingegen gibt es keine vorgefassten Meinungen oder Konzepte in Bezug auf die Frage nach dem Schönen, weder, um diesen Begriff klassisch zu fassen, noch, um ihn zu sprengen. Sie lassen scheinbar die Dinge einfach geschehen und sich frei entfalten. So entsteht eine „heterotopische“ Ästhetik, die sich jedes Mal aus der Materie des Stücks heraus neu definiert. „Schönheit ist für uns keine Kategorie, deren Definition andere Definitionen ausschließt“, sagen sie. „Bei den Interpret:innen von Void Island ging die Schönheit von der Persönlichkeit aus. Wie werten wir Persönlichkeit auf, wie entrücken wir sie dem Hier und Jetzt? Das erzeugt Schönheit.“ Darum ging es: sich den Schönheitsbegriff neu anzueignen.

Ruhiger Blick aus schierer Erfahrung

François Stemmer

„Wenn ein Körper, der viel erlebt hat, auf die Bühne kommt, werden zusätzliche Bewegungen oder Handlungen oft überflüssig. Wir nehmen alles, was die Person erlebt und durchgemacht hat und was sie uns erzählen könnte. Dafür braucht es einfach nur die Präsenz. Sie genügt, um uns ihre Geschichten zu erzählen. Als wir Void Island  zum ersten Mal auf der Bühne und vor einem Publikum sahen, sagten wir uns, dass das Stück nicht länger uns gehörte. Jede:r einzelne von uns fühlte das Gleiche. Das Stück lebt von der ersten Aufführung an selbständig weiter, ohne seine Erschaffer.“ Das machte Lust, in der Folge erneut auf ähnliche Art mit anderen Communities zu arbeiten, als eine heterotopische „Horde“. Die müssten sich erst mal selbst bilden, ihre eigene Funktionsweise, ihre Regeln und Strukturen ausbilden. Von da stammt auch die Maxime, niemals getrennt ein Interview zu geben. Auch wenn das nun vorbei ist, seit sie in Marseille das Ruder übernommen haben. Da muss Marine nach Los Angeles, um ein Projekt vorzubereiten, während Jonathan und Arthur in Marseille proben. Es ist ihre neue Normalität.

Der Jumpstyle

Im Mai 2022 schrieb die intensive Begegnung zwischen (LA)HORDE und den Jumpstyle-Tänzer:innen aus ganz Europa ein großes Kapitel. Ihre definitiv letzten Vorstellungen liefen in Paris am Théâtre de la Ville und sogar Viktor Pershko aka Belir, der Jumper aus der Ukraine, schaffte es trotz des Krieges, dort zu sein, obwohl der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kurz zuvor ein Ausreiseverbot für Männer im wehrfähigen Alter verhängt hatte. Wer mit den Beinen so wirbeln kann wie dieser Jumper, ist allemal wehrfähig. Die Kompanie und das Théâtre de la Ville hatten dem ukrainischen Kulturministerium eine Ausnahmegenehmigung abgerungen. Über neunzig Aufführungen hab es bereits, seit 2016. „Dabei gelten solche Tänzer:innen, Jumpstyler, aus der Sicht der Institutionen nicht als eben legitim, obwohl sie einen neuen, komplexen Tanz erfunden haben.“ Nun wäre den Jumpern auch nie in den Sinn gekommen, sich um Legitimität zu kümmern. Auf die Idee kamen erst (LA)HORDE.

“To da Bone”

Laurent Philippe

Jumpstyle entstand vor etwas mehr als zwanzig Jahren in Belgien und den Niederlanden, fristete ein Dasein im Untergrund und wurde erst über YouTube zu einer breiteren Bewegung. Jugendliche stellen ihre kurzen, explosiven Videosequenzen ins Internet und tauschen sich aus, vergleichen, rivalisieren … Es sind Soli, die aus einer Art Galopp auf der Stelle bestehen, aus Verwinkelungen der Schenkel, Schienbeine, Knie und Füße, die ebenso schnell einfrieren, wie sie wieder auftauen. Das Auge des Zuschauers hat einige Mühe, sich der Geschwindigkeit anzupassen. Manchmal erliegt es einer optische Illusionen. Viele dieser Jugendlichen beginnen in der heimischen Wohnung, im Wohnzimmer. „Meine Eltern fanden das gar nicht witzig, weil ich mit meinen Füßen wiederholt die Türen meines Zimmers und des Kleiderschranks eintrat“, berichtet Viktor, der dies unabsichtlich tat. Aber die elterliche Generation weiß mit dieser Art von Tanz nichts anzufangen. Gerade das schweißt die Jugendlichen zusammen. Jumpstyle gehört zu den Jugendkulturen, deren rebellisches Potenzial sich manchmal fast unbewusst entfaltet, als eine intime Art von Revolte.

Jumper:innen lieben den Hardcore-Style der Gabbers, jener Kultur, die das gefühlte Trauma sozialer Benachteiligung bzw. kultureller Einöde der kleinbürgerlichen Vororte und urbanen Speckgürtel in Beets Per Minute umsetzt. (LA)HORDE entdeckten diese Szene beim ziellosen Herumstochern im Internet. Sie nahmen zunächst virtuell mit den Jumper:innen Kontakt auf. Es war nicht leicht. „Am Anfang glaubten sie, wir seien Trolle, die sich mit ihnen einen Spaß erlauben.“ Es war für sie auch nicht einfach, sich einem physisch präsenten Publikum zu stellen. Auf YouTube waren sie ungreifbare Stars mit Bewunderern in aller Welt.

Als Marine, Jonathan und Arthur diese Gemeinschaft trafen, „lernten wir von ihnen genauso viel wie sie von uns.“ Anstatt der Gruppe eine Choreografie aufzudrücken, ließen sie sich von den Techniken und Stilen der Jumper:innen inspirieren. Am Ende wurde To da Bone kein auf die Bühne gehievter Jumpstyle, sondern eine Reflexion über diesen Tanz und seine Community. Es wurde ein typisches (LA)HORDE-Stück. In To da Bone zeigen die Tänzer:innen ihre Stile, ihre shuffles, hakken, tekstyles, hardjumps. Und indem sie diese variieren und damit experimentieren, entdeckten sie mitunter andere, sanftere Facetten ihres eigenen Stils. Was auch nötig war, denn ihre Sequenzen dauern nur zwanzig, dreißig Sekunden. Im Theater sind sie eine Stunde lang auf der Bühne. Jumper:innen erfinden, ähnlich wie die B-Boys im Hip Hop, ihre persönlichen Stile und vergleichen diese Signaturen im Internet und auf Battles. Sie filmen sich im Profil, damit die Virtuosität der Beinbewegung voll zur Geltung kommt. Sie inszenieren sich an Straßenkreuzungen, auf Parkplätzen oder in Tiefgaragen. Es war nicht nur für sie, sondern auch für (LA)HORDE ein entscheidender Schritt in ihrer Entwicklung.

Wie eine Armee der Individualisten

Laurent Philippe

To da Bone, der Titel stammt aus einem Techno-Stück, das mehrmals ertönt und gut zu diesem Tanz passt, der in der Tat gehörig in die Knochen geht. Im Unisono ergibt sich ein geradezu martialisches Trommeln der Füße. Doch müssen alle bereit sein, sich dem Kollektiv unterzuordnen. Für manche war das ein langer Weg. Der Reflex, der Beste sein zu wollen, lässt sich nicht so schnell abtrainieren. Das zeigen sie auch in der Inszenierung. Sie reden in ihrer jeweiligen Landessprache – Polnisch, Ungarisch, Ukrainisch, Französisch, Deutsch – aufeinander ein und tun so als merkten sie erst jetzt, dass sie sich untereinander kaum verstehen. Außer über den Tanz. Sie diskutieren, was einen guten Jumper und dessen Stil von einem sehr guten unterscheidet: die Power, die Technik, die Originalität? Diese Individualisten, fast ausschließlich junge Männer aus acht Ländern, auf einer Theaterbühne zu inszenieren, war so visionär wie verrückt. Einer von ihnen erzählt auf der Bühne, wie er acht Jahre lang allein getanzt hat. Alle wussten voneinander via YouTube, aber sie sich nie begegnet.

Interessant auch, dass die Community der Jumper in Europa fast ausschließlich weißer Hautfarbe ist, männlich und heterosexuell – im Gegensatz zu ihren Pendants in den USA oder Lateinamerika. (LA)HORDE erblicken darin das Abbild eines europäischen Defizits an Interkulturalität. Vor allem die männlichen Jumper werden deshalb oft auf in rechtslastiges Image zurückgeworfen, und sie leiden darunter. Da fühlt es sich allemal besser an, von (LA)HORDE zur Offline-Begegnung innerhalb seiner Community ermutigt zu werden. Zumal die Community so vielschichtig ist wie ihre Stile. Die Tänze erklären der Schwerkraft ebenso ihr Misstrauen wie es auch der Grand jeté im Ballett versucht. Viele der von Jumpstylern gemeinsam ausgeführten Pirouetten und Schrittkombinationen wirken, als entstammten sie einem folkloristischem Kulturerbe. Ein irischer Blogger verglich To da Bone glatt mit Riverdance.

Man kann, wie (LA)HORDE, behaupten, dass der Jumpstyle in Osteuropa tatsächlich vom klassischen Ballett beeinflusst sei. Die entscheidendere Rolle spielt aber YouTube, wie etwa auch beim Twerk. Auf die Bühne gebracht, wirkt der Jumpstyle eher wie ein Post-Internet-Tanz, dessen Herkunft einer globalen Vernetzung von Handyvideos gleicht. Vor zehn Jahren, als Jumpstyle von (LA)HORDE entdeckt wurde, waren diese Körper der Tänzer hochleistungsfähig. Nicht alle würden am Théâtre de la Ville zum Finale nun an dieses hohe Niveau wieder anknüpfen können. Nur wenige aus der Gruppe haben aus dem Tanz einen Beruf gemacht. Aus Idealisten wurden weit öfter Realisten: Informatiker, Elektriker, Techniker, Lehrer. Viktor, der Ukrainer, leitete in der Nähe von Kiew ein Pizzarestaurant. Aber für die Abschlussvorstellungen am Théâtre de la Ville hatten sie sich wieder in Schuss gebracht und meisterten die Herausforderung bravourös. Und über der Bühne leuchtete wenig prophetisch der Spruch: „Every story has an end“…

Danse élargie

Die Geschichte zwischen (LA)HORDE und den Jumpern entfaltete auch ihre blitzartigen Karriere, schon beim ersten Auftritt von To da Bone, damals noch in Form einer zehnminütigen Performance. Das war 2016, auf dem Wettbewerb Danse élargie, organisiert am Théâtre de la Ville in Paris. Sie heimsten einen der Preise ein und fanden Koproduzenten für ein 60-minütiges Stück. Noch waren die drei weit entfernt davon, sich als Direktor:innen eines Centre Chorégraphique National zu sehen. „Dem Wettbewerb verdanken wir viel, denn Danse élargie hat uns ins Rampenlicht gestellt und uns viel Aufmerksamkeit gebracht“, nicht, weil sie den 2. Preis gewannen. Sondern, weil ihr frischer, offener Geist genau dem des Wettbewerbs entsprach. Seit der Ausgabe 2022 gehören sie nun ihrerseits zu den Organisatoren des Wettbewerbs, als Ballet National de Marseille, und unterstützen die am Wettbewerb teilnehmenden jungen Kompanien, indem sie ihnen Residenzen zur Entwicklung der bei Danse élargie vorgestellten embryonalen Formen anbieten.

Danse élargie wurde 2010 zum ersten Mal veranstaltet. Es war damals eine Idee von Boris Charmatz, der mit seinem Musée de la danse am Centre Chorégraphique National in Rennes den Versuch unternahm, die zeitgenössische Tanzszene aus eingefahrenen Denkmustern zu befreien. Verstanden wurde er damit nicht, nicht gleich jedenfalls. Ein Museum für den Tanz, ein zeitgenössisches noch dazu? Ein Museum als lebendiger Ort halt, der einen Zusammenhang zwischen den dort präsentierten Werken herstellt? Er hatte die Idee, diesen Wettbewerb zu lancieren, weil er sich daran erinnerte, dass der legendäre Concours de Bagnolet ab den 1970er Jahren enorm zur Entwicklung und Popularität des Tanzes beigetragen hatte. Irgendwie schien auch die Kreativität im zeitgenössischen Tanz nicht mehr so sprudelnd frisch wie zu Gründerzeiten. Anita Mathieu hatte, als sie 2002 die Leitung der Rencontres chorégraphiques internationales de Seine-Saint-Denis übernahm – der Nachfolgeorganisation des Concours de Bagnolet – mit dem Wettbewerbsgedanken Schluss gemacht. Er schien für alle Zeiten eine Angelegenheit des klassischen Balletts zu bleiben. Dann kam jener Boris Charmatz, der gerade auch die Leitung des Tanztheaters Wuppertal – Pina Bausch übernimmt, mit der Idee zu diesem neuen Wettbewerb und holte Emmanuel Demarcy-Mota mit ins Boot, der die Leitung des Théâtre de la Ville frisch übernommen hatte. Charmatz erinnert sich an die ersten Reaktionen aus der Tanzszene: „Wie bitte? Wett-be-werb? Meint ihr das ernst?“ Und musste zugeben: „Wir haben Freundschaften verloren. Dabei regt sich doch auch niemand über Filmwettbewerbe auf, auf denen man auch jede Menge Talente entdecken kann. Auch der Concours de Bagnolet hatte später so bekannte Namen wie Dominique Bagouet, Philippe Decouflé, Régine Chopinot, Angelin Preljocaj, Maguy Marin hervorgebracht.“ Bei Danse élargie sollte, statt Spannungen, aus der Wettbewerbsatmosphäre ein Gemeinschaftsgefühl entstehen. Dabei sein ist schon ein Sieg an sich.

Die Horden von (LA)HORDE

Laurent Philippe

Was (LA)HORDE an diesem Wettbewerb, diesem Happening, lieben: „Es war ein tolles Gefühl, auch für uns als Publikum, dort viele Choreograf:innen zu treffen, den ganzen Tag im Theater zu verbringen, ein- und ausgehen und sich das Theater aneignen zu können und mit den Jurymitgliedern zu diskutieren.“ Alle Tänzer:innen verwandelten sich in eine Horde, wild und frei vor einer artfremden Jury, die ausschließlich mit Künstler:innen besetzt ist. Diskussionen gab es nur auf Augenhöhe mit Künstler:innen aus ganz unterschiedlichen Sparten, die diese Kunstlandschaft in ihrer Vielfalt abbildeten. Das wiederum entspricht ganz und gar dem Geist von (LA)HORDE. Damals, 2016, war auch schon Lucinda Childs zugegen, zu der die Drei seither ein besonderes Verhältnis pflegen. Die New Yorker Legende saß neben der schillernden Südkoreanerin Eun-me Ahn und neben Thiago Guedes aus Porto, dem neuen Direktor der Maison de la Danse und der Biennale de la Danse in Lyon. Im Geiste begleitete Lucinda Childs (LA)HORDE bis nach Marseille. Für das Ballet National hatte sie schon 2010 das Stück Tempo Vicino kreiert, das die neu formierte Truppe nun neu einstudiert hat. Es findet sich 2022 in einem gemischten Programm unter dem Titel Roommates. Childs‘ Stück Concerto zeigt jungen Techno- und Voguing-kompatiblen Tänzer:innen, dass auch sie mit dieser im Grunde klassischen Komposition für Körper und Raum etwas anfangen können. Die Periode der Lockdowns nutzten sie, sich intensiv über den Bildschirm mit der in New York weilenden Childs auszutauschen, deren Humor zu entdecken und diesen Tanz im Kern zu verstehen. Ziemlich sicher ist, dass ohne Danse élargie, ohne Jumper:innen, ohne den Austausch mit Lucinda Childs (LA)HORDE heute noch als eine freie Kompanie ihr Dasein fristen würden. Als Partner und Koproduzent von Danse élargie, bieten sie nun Finalisten des Wettbewerbs Residenzen in Marseille an. Denn eins haben nie vergessen, weil sie es selbst bis vor kurzem noch am eigenen Leib erfuhren: „Unsere Berufe sind Territorien voll mit einem Prekariat.“ Marseille soll darum und stattdessen das Modell für eine solidarische Institution werden.

Das Ensemble Iveroni

Plötzlich waren sie verschwunden. 2018 war das. Auffällig war: Ihre Abwesenheit fiel auf. Für eine freie Kompanie im Dickicht der französischen Tanzszene, als eine von hunderten, solche Beachtung zu verdienen, ist an sich schon bemerkenswert. Als (LA)HORDE sich 2019 zurückmeldeten, hatten sie ein traditionelles Tanzensemble aus Georgien im Schlepptau. Verschwistert hatten sie sich mit Tänzerinnen und Tänzern der Kompanie Iveroni, die in Georgien auf nationalem Status mit gestochen scharfen Gesten in traditionellen Kostümen tanzen, georgisches Brauchtum mit Dolch und Degen aber durchaus modern interpretierten. Wie Flamenco-Tänzer mit den Fersen zu hämmern und ihre Beine praktisch wie Waffen zu verwenden, zu fechten, dass die Funken fliegen und zu springen, als würden sie Nijinsky als Hochstapler entlarven: Da zeigten Marine, Jonathan und Arthur erneut, dass ihr Blick auf tanzende Menschen keine toten Winkel kennt und sie in der Lage sind, nicht nur westeuropäische Vorstädte auszuleuchten, sondern auch kaukasische Bergketten. Sechzehn Tänzer:innen von Iveroni haben sie in einem atavistischen Hochzeitsritual inszeniert, das in einer Revolte der Braut endet, als erschüttere ein Erdbeben die georgische Hauptstadt. Sie schlägt mit dem Schwert den Kopf der Reiterstatue des Nationalhelden König Wachtang Gorgassali ab, jenes mythischen Stadtgründers von Tiflis, und nur der Patriarch bleibt zurück. Die Heirat fällt aus, eine neue Zeit bricht an. Das soziale und politische Beben hat aber auch wieder mit Dezibel und beats per minute zu tun, die auf der Bühne die Macht übernehmen.

Georgische Powerbank

Gaëlle Astier-Perret

Was das junge Pariser Trio an dieser folkloristischen Truppe so anzog, dass sie sich auf den Weg nach Tbilissi machten, war vor allem die dortige Verbindung zwischen Tradition und der lokalen Techno-Szene, die ihrerseits Tanzende aus ganz Europa anzieht. Wo liegen überhaupt die tieferen Ursprünge des Jumpstyle, fragten sie sich. Und trafen in Tbilissi auf einen Ballettmeister alter Schule namens Kakhaber Mchedlidze, der dem Ensemble Iveroni vorsteht. Er hängt einer alten Legende an, der zufolge der georgische Tanz der Vater aller Tänze in Europa sei. „Das lässt sich natürlich nicht nachprüfen“, geben (LA)HORDE zu: „Aber allein die Idee spornte uns an, uns auf den Weg zu machen und das Land zu entdecken.“ Dann war da noch die Geschichte mit dem Bassiani, dem Techno-Club von Tbilissi, in dem die LGBTQ+ Community des Landes verkehrt und der auch ein Hort der politischen Opposition ist, eine Art kaukasisches Berghain, der bei patriarchalisch-religiösen Hütern der Tradition nicht gerade auf Wohlwollen trifft. 2018 kochte der Konflikt hoch, mit Razzien durch die Polizei und Techno-Demos vor dem Rathaus. Der Tanz von Iveroni verkörpert kulturellen Widerstand gegen den alten sowjetischen Imperialismus und dem Schrei der heutigen Jugend nach Freiheit, auf der Bühne angeführt von den Frauen, die sich des Tanzrepertoires der Männer bemächtigen.

“Marry me in Bassiani”

Anja Beutler, Gaëlle Astier-Perret, Aude Arago

Im Mai 2022 tauchte Iveroni noch einmal in Paris auf, ohne dass wieder das Stück Marry me in Bassiani auf dem Programm stand. Stattdessen inszenierten Marine, Arthur und Jonathan eine Performance an einem ganz besonders exklusiven und hoch geschützten Ort: dem Musée de l’Orangerie im Jardin des Tuileries, einem Symbol von Monarchie, Revolution und Republik. In zwei ovalen Sälen hängen dort Claude Monets gigantische Seerosen-Variationen, Les Nymphéas. In der impressionistischen Rundum-Immersion finden regelmäßig Tanzperformances berühmter Choregraf:innen statt. Doch niemand konnte dort bisher so eine Magie entfachen wie die vier Iveroni-Tänzer:innen, angeführt vom Chef persönlich, Kakhaber Mchedlidze. Das königliche Gebäude, dessen Ausstrahlung heute so zeitgenössisch daherkommt, fand damit eindrucksvoll zurück in frühere Jahrhunderte.

Room with a view

Im März 2020 stieg in Paris die Premiere von „Room with a view“ am Théâtre du Châtelet, das im September 2019 nach umfassender Renovierung neu eröffnet hatte. Es war die letzte Inszenierung, die vor dem ersten Lockdown stattfand. Es war auch die erste, in der die historische Glaskuppel des Zuschauerraums, nun mit LED-Beleuchtung neu aktiviert, in die Inszenierung mit einbezogen wurde. Der ganze Saal verwandelte sich in einen Techno-Club. Im Publikum tummelten sich lauter Dreißigjährige, die speziell des Auftritts von Rone wegen gekommen waren. Und sahen: Staub, Qualm und Schotter in einem kontrollierten Zusammenbruch des gigantischen Bühnenbilds. „Room with a view“ spielt in einem Marmorsteinbruch, bzw. der Nachbildung eines solchen. Es ist ein Tanzstück zu Techno-Musik, live auf der Bühne gemixt von DJ Rone, dem internationalen Star der Genres Techno und Elektro. Er spielt persönlich mit, der Guru und Hirte, der „seinen“ achtzehn Tänzer:innen einheizt. Mal regnet es Schotter, mal tote Fische. Endzeitstimmung trifft auf jugendliche Vitalität, bis zur Ekstase. Man konnte den Steinbruch durchaus auch für die Überreste des Bassiani-Clubs in Tbilissi halten, nach dem Einschlag einer Bombe oder anderer Formen von Gewalt gegen die LGBTQ+-Bewegung.

Cyril Moreau

Dystopie oder Ort der Hoffnung? In die Feier mischt sich Gewalt und am Schluss entsteht eine Art Straßenschlacht gegen imaginäre und reale Unterdrückung, bevor die Schar den Marmorfelsen erklimmt und dahinter verschwindet. Die Bühne ist nach dem Höhlen-Einsturz kaum noch betanzbar und wird, in einer Pause, von Arbeitern in Schutzanzügen gereinigt,  worin man durchaus eine Anspielung auf die Corona-Schutzmaßnahmen lesen kann. In Wahrheit geht es um die allgemeine Lebensgefühl der Apokalypse, von der die aktuelle Pandemie nur einen kleinen, dafür umso anschaulicheren Aspekt darstellt. Mit diesem Stück schweißten Brutti, Debrouwer und Harel die von ihnen neu zusammengestellte Truppe des Ballet National de Marseille zusammen. Es war ihre erste gemeinsame Produktion in Marseille, eine Demonstration dessen, was die drei an ihrer neuen Wirkungsstätte vorhaben: Sie suchen den Schulterschluss mit den Kulturen der Jugend und die Öffnung für neue Denk- und Verfahrensweisen. Dementsprechend vertreten die Tänzer:innen nahezu ausschließlich die Generation der Millennials. Es ist nicht schwer, aus ihnen eine Community zu formen, die ein tanzendes Technovölkchen absolut authentisch verkörpert.

“Room with a View”

Andrea Avezzù

Nur eins störte – die Nachbarn. Nachbarschaftskonflikte sind in Paris aufgrund der räumlichen Enge an der Tagesordnung. Doch der Konflikt um (LA)HORDE war ein besonderer. Der Lärmpegel von DJ Rone auf der Bühne während der spät abends endenden Proben ließ die Wände erzittern und führte zu Protesten seitens des angrenzenden Hôtel Victoria, das im selben Gebäude untergebracht ist. Die Lautstärke herunterzufahren, kam nicht infrage. Die künstlerische Leiterin des Theaters, Ruth Mackenzie, hatte Rone eine Carte blanche angeboten. Dieser wollte wiederum die Bühne nicht allein besetzen und bat deshalb (LA) HORDE dazu. Der Ausgangspunkt war also die Musik. Rone komponierte die Tracks, die nun auch auf seinem Album Room with a View zu hören sind. Das Châtelet saß in der Techno-Falle, denn die Theaterleitung hatte diesen Techno-Club so initiiert, dass das Stampfen der Club-Gäste zu Erschütterungen der Bausubstanz mit kleineren, aber sichtbaren Auswirkungen führte. Im August 2020 musste die Intendantin Ruth Mackenzie auf Beschluss der Pariser Stadtregierung – das Châtelet liegt wie das Théâtre de la Ville in städtischer Obhut – ihren Hut nehmen. Eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger war auch im Sommer 2022 noch nicht auszumachen.

Die Rückkehr des Bühnenbilds

Die spektakulären Szenografien von Marry me in Bassiani, gefolgt von Room with a view und einem neuen Stück, das 2023 Premiere haben wird, sind allesamt das Werk des Bühnenbildners Julien Peissel. Er erzählt: „Die drei von (LA)HORDE, sie mögen die avantgardistische Arbeit des französischen Theaterregisseurs Vincent Macaigne. Und ich bin dessen Szenograf seit seinem erstem Stück. Sie riefen mich an, obwohl ich wirklich schwer zu erreichen bin. Ich habe weder eine Website noch bin ich in den sozialen Medien vertreten.“ In dem Stück mit dem Ensemble Iveroni ließ zunächst eine Art Bombeneinschlag die Party beenden und dann wurde die Fassade eines Palasts, des Rathauses, über die Bühne gefahren und die Hochzeitsgesellschaft quasi erdrückt. „Room with a view“ des Ballet National de Marseille spielt in einem Marmorsteinbruch, einem dystopischen Niemandsland aus Fake-Marmor.

Kunstvolle Theater-Trümmer

Thomas Hahn

Das bedeutet: Die Bühnenbilder des Szenografen Julien Peissel für (LA)HORDE sind so monumental, dass sie im zeitgenössischen Tanz, der immer mehr mit digitalen Projektionen arbeitet, fast schon anachronistisch anmuten muss und einen zurück in die Zeiten von Pina Bausch und Peter Pabst versetzen. Doch Peissel ist kein Nachlassverwalter, sondern seit zwanzig Jahren Szenograf, der mit einer Reihe bedeutender Regisseur:innen der französischen Szene arbeitet. Am Théâtre de l’Odéon, dem Théâtre de la Ville, Théâtre de la Colline etc. gehört die materielle Bühnenausstattung einfach dazu, während sie im Tanz die Bewegungsfreiheit eher einschränkt. Weshalb dieser naturgemäß mehr zur Immaterialität neigt.

Theatertanz in Trümmern

Thomas Hahn

Hat das Monumentale im Tanz noch seine Berechtigung? Die Zeiten schienen endgültig vorbei. Aber (LA)HORDE stellen alles erfolgreich infrage. Peissel willl das Monumentale auch im Tanz rechtfertigen und setzt seine Konstruktionen so ein, dass sie den von (LA)HORDE aufgegriffenen Themen viel Wucht und Prägnanz verleihen. In Marry me in Bassiani verdeutlichen Palast und Statue die in Stein gemeißelte Sehnsucht nach Stabilität und zeigen, wie davon eine Unterdrückung der Jugend ausgeht. Der Marmorbruch in Room with a View nimmt das steinige Thema wieder auf.

Kontrolliert einstürzende Theaterbauten

Thomas Hahn

Da schwebt über der nächtlichen Rave-Party eine Fräse, mit der tagsüber Blöcke aus dem Marmor geschnitten werden. Der hintere Teil des Marmorfelsens versinkt spektakulär im Rückraum der Bühne, verdeckt von dem vorderen Teil des Steinbruchs. So suggeriert der Moment des „Einsturzes“ unter viel Einsatz von Nebel, Lärm und vom Himmel fallendem Granulat, dass im Boden sich eine Art Krater auftun würde, der den Felsen verschlingt. Derzeit feilen Brutti, Harel, Debrouwer gemeinsam mit Peissel an ihrem dritten gemeinsamen Stück, das im Sommer 2023 uraufgeführt werden soll. „Auch hier wird es um Chaos gehen“, sagt Peissel. Und verspricht: „Das Bühnenbild wird noch spektakulärer!“

Die Tanzlandschaft

Lasseindra Ninja, Queen der Pariser Voguing-Szene

Theo Giacometti

Das Katz- und Maus-Spiel mit den Traditionen führt (LA)HORDE auch auf ein Terrain, das sich auch aus der Tradition des Ballet National selbst ergibt: Die Konzeption von Mehrteilern aus unterschiedlicher, choreografischer Feder. Ein gemischter Abend mit Stücken von Balanchine, Hans von Manen und vielleicht einem Cunningham oder Marco Goecke findet sich im Saisonprogramm jeder klassisch-modern orientieren Kompanie. In Marseille gab es so etwas bisher nicht. Brutti, Debrouwer und Harel ändern auch das. Schon zwei solcher Programme haben sie inzwischen auf die Beine gestellt. Eins davon heißt Roommates. Damit soll deutlich werden, was die drei im Schilde führen: Sie geben verschiedene Epochen und Tänze zusammen in eine Ausstellung, oder eine Gemeinschaft. Nur wer hätte gedacht, dass sich in dieser Stilübung auch ein Stück von Lasseindra Ninja finden könnte? Die Queen der Pariser Voguing-Szene hat sehr genau verstanden, was in der neuen Truppe aus Marseille steckt und entzündet die Interpret:innen wie ein Feuerwerk. Nicht eins aus Voguing, sondern eine Kreation im Geist einer Offenheit für die Lust am Körper. Tanz muss Spaß machen, meint (LA)HORDE und wollen zeigen, dass sie auf keinem Auge blind sind. So begannen sie ihre Exploration der Tanzlandschaft gemeinsam mit Lucinda Childs. Die hatte 2009 dem damaligen Ensemble – zu jener Zeit unter der Leitung von Frédéric Flamand – ein Stück namens Tempo Vicino auf den Leib geschrieben. Aber die Leiber sind heute andere, und der Geist ist es auch. So klappte vieles nicht zwischen der Truppe und Lucinda Childs. In der präzisen Mechanik und Rhythmik wirkten die Tanzenden 2009 noch ein wenig wie freche Kinder, die zum Kirchgang in den Sonntagsanzug gestopft wurden.

Während des Lockdowns diskutierten sie mit Lucinda Childs regelmäßig per Zoom und stellten bald fest, dass sie deren Stil nun viel besser verstehen. Das Ergebnis war in Roommates zu bewundern, ihrem zweiten gemischten Abend, den sie im Mai 2022 vorstellten. Childs war freizügig und hielt ihnen die ganze Schatztruhe ihrer 60-jâhrigen Karriere als Choreografin entgegen: „Sucht euch aus, was euch gefällt!“ Die Wahl fiel auf Concerto, ein Stück, das nun bald dreißig Jahre alt ist und zu hämmernden Rhythmen am Spinett von Henryk Gorecki getanzt wird. Normalerweise wird daraus eine puristische Übung in einem Bewusstseinszustand, der irgendwo in höheren, abstrakten Sphären schwebt. Das Mirakel von Marseille war, dass hier eine Art Götterdämmerung beschworen wurde, ein Furor aus der Unterwelt, wo die Körper und Seelen wallen und brausen, und wo das reine Exerzieren zu einem Kampf zwischen Körper und Seele wird: im Grunde die Intention Goreckis mit seinem Konzert aus Wut und Rebellion. In Marseille verkörpern sie das, ohne dabei die Präzision oder Konzentration von Lucinda Childs zu verlieren. Was damit zu tun hat, dass Childs‘ Concerto hier als Roommate, also als Mitbewohner einer WG der Tanzgeschichte betrachtet wird, die Lucinda Childs nicht nur selbst überrascht, sondern auch verzückt haben dürfte. Daneben steht zum Beispiel das Duo Les Indomptés der französischen Choreografen Claude Brumachon und Benjamin Lamarche, das ein Jahr vor Concerto entstand. Es ist ein heißblütiges Plädoyer für die Liebe zwischen Männern, die sich mit jeder Bewegung in eine Art Abgrund zu stürzen scheinen. Mit diesen beiden Werken zeigt (LA)HORDE zugleich die Werke, die sie in ihrer Jugend als Tanzpublikum geprägt hat.

Auch machen sie klar, wer für sie in der heutigen Szene zum festen Inventar gehört. Zum Beispiel Oona Doherty, die Nordirin aus Belfast, die mit ihrem streetlife-appeal etwas von der Authentizität sozial schwacher Viertel und deren Sehnsucht nach Sanftheit und Hoffnung versprüht. Wie in einem Film von Ken Loach, sagen manche dazu. Aus ihrem Solo Hope Hunt and the Ascension into Lazarus entstand ein Unisono für das gesamte Ensemble. Allein das hätte Doherty nie für möglich gehalten. So zeigten (LA)HORDE wiederholt, dass bei ihnen jegliche Denkblockade chancenlos bleibt. Sie helfen, Denkblockaden bei anderen aufzuheben. „Gleich nach unserer Nominierung boten wir Oona an, mit der Truppe zu arbeiten“, sagen sie. Und erhielten eine Abfuhr: „Ich mache keinen klassischen Tanz!“ Das Wort Ballett schockte Oona, doch es gab ein Happy End: „Sie kam schließlich in unser Büro, dann haben wir eine Begegnung mit den Tänzer:innen herbeigeführt, fast gegen ihren Willen. Und konnten sie überzeugen, einen Nachmittag mit der Truppe im Studio zu verbringen. Am Ende hatte sie Tränen in den Augen und sagte: Ich will Lazarus machen, mit der ganzen Kompanie.“

Kampf + Sex = Neuer Tanz

Proben zu “Age of content”

Thomas Hahn

Die Gebäude des Ballet National de Marseille sehen aus wie ein urbaner Abenteuerspielplatz, wie eine Einladung zu einem Free Running auf den Dächern und an den Fassaden, auf Terrassen und in den Gängen. Vielleicht kamen Brutti, Debrouwer und Harel deshalb auf die Idee, zwei Pioniere der Kunst des Parkour anzuheuern, jener urbanen Version des free running über Dächer, Fassaden und Passagen, das in Frankreichs banlieues erfunden wurde. Vielleicht hat es auch damit etwas zu tun, dass sie mehrmals die Gebäude für Performances auf den Dächern nutzten, unter anderem auch für eine performative Version von Room with a View, wo Rone seine Musik live spielte. Da lag man, wer wollte, gemütlich mit dem Rücken auf der Parkwiese und schaute nach oben in Richtung Dächer. Selbst der Bürgermeister von Marseille gab sich die Ehre. Das neue Stück soll nun indoor sein. Dafür probten sie im Februar mit der Kompanie in den Studios des Untergeschosses diverse Kampfsporttechniken unter Anleitung zweier erfahrener Spezialisten. Es schien, dass das neue Stück so etwas wie eine Weiterführung bestimmter Szenen und Elemente von Room with a View verspricht, wo Leiber durch die Luft geschwungen und gewirbelt werden, wo sexuelles Begehren und auch Gewalt angesprochen sid.

Age of content (AOC) lautete im Februar 2022 der Arbeitstitel dieser Kreation, die im Herbst 2023 vorgestellt werden soll. AOC ist auch ein bekanntes Qualitätslabel für Wein: Appelation d’origine contrôlée; ein Nachweis seiner Authentizität. Ein Teil der Proben stand unter der Leitung von zwei Kaskadeuren des Campus Univers Cascade, Frankreichs größter Schule für diese Kunst der artistischen Sprünge. Sie unterrichteten die Tänzer:innen auch in Sachen Kampfchoreografie. Und Malik Diouf, Mitbegründer der legendären Parkour-Truppe Yamakasi, unterrichtet die Disziplin des Parkour, die er selbst mit entwickelt hat. „Zuvor leitete ich zwölf Jahre lang in Brighton eine Kompanie, in der wir Parkour, zeitgenössischen Tanz, Breakdance und Capoeira mischten.“ Sein jüngerer Kollege Jonathan Bernard ist seit 2012 Kaskadeur und arbeitet für Kino und TV-Produktionen. Er praktiziert Parkour und Akrobatik, choreografiert Kämpfe, Stürze und „menschliche Fackeln“. Beide schätzen die Aufnahmefähigkeit der Tänzer:innen in Marseille sehr: „Unglaublich, wie gut sie ihre Körper kennen und wie schnell man Sequenzen mit ihnen erarbeiten kann!“ Da hagelt es Kicks und Schläge ohne jeden Unterschied zwischen den Geschlechtern. Sie tanzen und kämpfen gemeinsam.

Backstage

Thomas Hahn

Während ein Teil der Truppe mit Diouf und Bernard Kampfhandlungen probte, ging es im Nachbarstudio völlig anders zur Sache. Da wurde geklammert und fast schon geküsst. Die aktuelle Handschrift von (LA)HORDE hat einen zweiten Pol, der noch radikaler ist, und ziemlich sexy. „Duo sexy crab“ steht auf einem der Blätter, die Harel bei den Proben zum neuen Stück am Boden auslegt. Wie dieser neue Tanz aussehen kann, war im Ansatz schon in Room with a View zu bewundern, wo Körper durch die Luft gewirbelt werden und die Gruppe sich, getragen von Rones Bässen, in den Straßenkampf hinein wühlt. Konkreter wird es in Weather is sweet, einem kurzen Stück, das sie selbst für das Programm Roommates kreierten. Man darf es getrost als einen Test betrachten für ihre neue, noch im Entstehen begriffene Kreation. Weather is sweet enthält neben Kampfsport auch ganz andere Spielchen, die eher auf körperbetonte Liebesorgien verweisen. Ein Tanz der Becken und (Po-)Backen, die sich aneinander reiben. Immer wieder lassen sie die Hüften des Kollegen oder der Kollegin wie einen Basketball aufspringen, hüpfen und twerken.  Die Ritte auf oder unter den Hüften der anderen sind ein choreografischer Kniff, der im erotischen Rodeo die volle Kraft von Subversion und Rebellion ausspielt. (LA)HORDE wissen, wofür und auf was sie stehen. Sie selbst sind eine appelation d’origine contrôlée.