Kunst und Lüsternheit – Die Tragödie des Jan Fabre

Fabre Mount Olympus by Dieter Hartwig
Die Ketten des Krieges zu zeigen, ist etwas anderes, als Krieg zu spielen (im Bild: Melissa Guerin Torres).

Wonge Bergmann

Krieg und Lüsternheit spielen auf der Weltbühne führende Rollen. Man sollte es nicht nur tolerieren, sondern begrüßen, dass Theatermacher diese Themen auch weiterhin komisch, tragisch oder kritisch abhandeln – ohne dass sie Gefahr laufen müssen, selbst als lüsterne Krieger zu erscheinen.

Tanzkritiker der früheren Ballet Review

Dank „Mount Olympus – To glorify the cult of tragedy (a 24-hour performance)“ und zahlreicher anderer Werke im Lauf seiner nun 40-jährigen Karriere wird Jan Fabre als einer der „großen europäischen Theater-Regisseure“ bezeichnet (so auch 2021 in einer Buchserie gleichen Namens, die Fabre kongenial neben Pina Bausch und Romeo Castelluci stellt).

Nach dem offenen Brief der zwanzig Tänzerinnen der Antwerpener Truppe Troubleyn muss nun niemand Jan Fabre bemitleiden. Seine Tänzerinnen stellen überzeugend dar, dass er in seiner Blütezeit manche und manchen leiden ließ. Fabre hatte, wie nur wenige andere in der Welt des zeitgenössischen Tanzes, eine faire Chance, seine Arbeit zu tun. Grundsätzlich gilt: Das Leben ist nicht gerecht – weder für Helden noch für ihre Opfer, weder für die Schwachen noch für die Starken, weder für die Reichen noch für die Armen. Wir befinden uns in der Logik der Tragödie, nicht der Gerechtigkeit; in der Logik der Macht, nicht der Ideale. Es lohnt sich also, Fabres „Mount Olympus“ noch einmal näher anzuschauen – gerade im Zusammenhang mit der Me-Too-Bewegung.

Wir legen an Künstlern gern einen höheren ethischen Maßstab an als an Kriegsherren, Politikern und ähnlichen Herrschaften. Ich spreche von Männern, weil die Art von Held, die wir kritisieren – einer, der unsere Feinde, aber auch unsere Herzen erobert –, in den meisten Fällen männlichen Geschlechts ist. Die Tugend der disziplinierten Gewalt im Dienste eines unbeugsamen Willens, die man von dieser Art von Held verlangt, ist mit einer, wenn auch veralteten, Vorstellung von Männlichkeit assoziiert.

In einer postmodernen Welt glauben wir gern an das Gegenteil: Künstler sollen die brutale Ethik der alten Helden kritisch in Fleisch und Blut auf der Bühne verkörpern. Abseits der Bühne sollen sie sich als ideale Gentlemen erweisen (in anderen Zeiten war es umgekehrt: Der Held sollte zartfühlend auf der Bühne und durchsetzungsstark im Alltag sein). Zweifellos gibt es außergewöhnliche Künstler – und außergewöhnliche Kämpfer –, die durch Charakterstärke oder glückliche Umstände als durchweg anständige, ehrenhafte Männer erscheinen.

Doch die Züge, die von einem Choreografen und einem Regisseur verlangt werden, haben viel gemein mit denen, die von einem Krieger verlangt werden. Im Kontext von Militär und Theater ergeben sich durchaus ähnliche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse (wenn auch keineswegs zwangsläufig). Und immer steht der menschliche Körper, ob männlich oder weiblich, mit seinen Kräften, seinen Grenzen und seiner Verletzlichkeit im Mittelpunkt.

Fabres Krieger der Schönheit

Dieter Hartwig

Wenn es also den Anschein hat, dass die Beziehungen hinter den Kulissen von Troubleyn bis zu einem gewissen Grad die egoistische Brutalität der Machtkämpfe und der sexuellen Ausbeutung widerspiegeln, die wir in „Mount Olympus“ auf der Bühne sahen, dürften wir zumindest nicht schockiert sein.

Jan Fabres künstlerischer Modus operandi ist die Provokation; man könnte sogar sagen: die Grausamkeit. Er beschimpfte und beleidigte seine Tänzerinnen und Tänzer, trieb sie an und über ihre Grenzen, sowohl physisch als auch emotional: Vielleicht behandelte er sie gelegentlich auch mit einer außergewöhnlichen Zärtlichkeit, die dazu diente, sie auf die nächste Ohrfeige oder den nächsten Schlag auf den Hintern vorzubereiten. Als Liebhaber erstrecken sich seine Techniken oder Vorlieben hin zum aggressiven sexuellen Raubtierverhalten. (Ich nehme die Anklagen der Tänzerinnen deshalb für bare Münze, obwohl ich ihren Wahrheitsgehalt aus persönlicher Erfahrung nicht bestätigen kann – ich habe weder Jan Fabre noch seine Tänzer je hinter den Kulissen getroffen. Ich erkenne nur die Techniken wieder, die auch andere Lehrer, Choreografen, Regisseure, Chefs und Politiker anwenden.)

Eine Provokation ruft Reaktionen hervor, im Guten wie im Schlechten. In den letzten vierzig Jahren hat Fabre sowohl sein Ensemble als auch sein Publikum zu Wut und Tränen provoziert – manchmal auch auf dumme Art und Weise. Doch das Provozieren von Meinungsverschiedenheiten ist wesentlich für die Gesellschaft. Wir sollten darum nicht vorschnell zu dem Schluss kommen, dass Fabres Mission und Taktik allein deshalb ins Leere zielt, weil man nun all diejenigen Tänzerinnen dafür bemitleiden muss, weil sie sich überhaupt auf das Unternehmen Troubleyn eingelassen haben. Es gab schmerzhafte Erfahrungen, ohne Frage. Doch jede Tänzerin, Schauspielerin, Angestellte oder Ehefrau, die sich als Opfer eines gemeinen und übermächtigen Mannes sieht, wird es auch bleiben. Um frei zu sein, muss sie sich als frei erst selbst anerkennen. Jede, die an „Mount Olympus“ beteiligt war, hat jedes Recht, sich als freie Akteurin zu betrachten, mit ihren eigenen Stärken und Tugenden und Schwächen, die das Beste aus ihrem Schicksal macht, dank unabhängiger Entscheidungen, dank Disziplin und durch Anstrengung. Sie hat einen wichtigen Beitrag zu einem künstlerischen Projekt geleistet, das für ein breites Publikum von erheblicher Bedeutung ist.

Fabre Mount Olympus by Dieter Hartwig

Dieter Hartwig

Dennoch steht die Frage im Raum: Warum blieben die Tänzerinnen so lange bei ihm? Hoffentlich, weil sie dabei auch etwas Gutes erfahren haben. Wenn ein Kritiker (oder Choreograf oder Chef) deine Arbeit zerreißt, lernst du wahrscheinlich mehr dazu, als wenn er dich lobt. Menschen lernen nur dann nichts, wenn sie kein ehrliches Feedback auf ihre Arbeit bekommen oder sich die Ohren zuhalten, weil Kritik zu schmerzhaft für ihr eigenes Ego wäre. Man könnte sogar behaupten, dass Fabres Theater eine besondere Art von Ehrlichkeit auch zum Publikum hin offenbart, weil seine Arbeit auf der Bühne durchaus transparent die Problematik seiner „realen“ Interaktion mit Tänzerinnen darstellt, sowohl bei den Proben als auch privat; also genau das, was nun den Kern der aktuellen Anschuldigungen gegen ihn ausmacht.

Das bedeutet nicht, dass Fabres Tänzerinnen und Tänzer seinen Missbrauch hinnehmen sollten. Sie sollten weggehen. Sie sollten sich frei fühlen, um über ihre Erfahrungen, die guten und schlechten, öffentlich und privat zu sprechen. Wenn hier ein Verbrechen begangen wurde, haben Opfer und Staat das Recht, es zu verfolgen. Gleichzeitig sollte aber der Tatbestand nicht übermäßig ausgedehnt werden, wenn es um die Meinungsfreiheit geht. Keiner soll ins Gefängnis, nur weil er sexistischer Äußerungen schuldig ist. Er sollte auch nicht zum Schweigen gebracht werden (egal mit welchen Mitteln); wie auch keiner zum Schweigen gebracht werden sollte, der die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung oder einen Missbrauch der Staatsgewalt kritisiert.

Die Autorinnen des offenen Briefes weisen auf den Einwand hin, dass misshandelte Tänzerinnen immer die Wahl hatte, fortzugehen und Bühnenarbeit anderweitig zu suchen. Sie entgegnen, dass dies ein zu hoher Preis für diejenige sei, die nach zehn Jahren als reisende Gesellinnen endlich eine feste Arbeitsstelle ergattert haben. Eine Tänzerin, die fortgeht, wird nicht den Untergang eines Regisseurs herbeiführen, den sie für ein sexistisches Schwein hält. Der Status Quo hat sein Momentum. Sobald sich alle einig sind, er sei ein Schwein, wird sich das Momentum verschieben und eine Bewegung entstehen, so wie es mit der Veröffentlichung des offenen Briefes der Tänzer in Rekto:Verso geschah. Entscheidender ist, dass jede Tänzerin nur solange einen Choreografen ertragen muss, wie sie es selbst bestimmt.

Ein zweiter offener Brief, der kurz nach der Veröffentlichung des Briefes der Troubleyn-Tänzerinnen im selben Medium erschien, vertritt eher eine Auffassung, die die Freiheit aller untergräbt. Unterzeichnet von 126 Choreografinnen und Choreografen wollten diese beweisen, dass sie selbst auf der richtigen Seite stehen. Kühn ächten sie Jan Fabre, indem ihr Brief behauptet, dass es das Ziel sein müsse, „einen Raum zu schaffen, in dem alle frei sind, um ohne Angst, Schmerz und Demütigung zu kreieren“. Aber ist es wirklich das, was sie wollen? Warum nehmen sie nicht einfach Prozac und bleiben zu Hause? Für ein Publikum, das Antidepressiva beängstigender findet als die Realität, ist es ein Glück, dass es immer noch Tänzerinnen gibt, die bereit sind, ein gewisses Maß an Schmerz in Kauf zu nehmen, um etwas auf die Bühne zu bringen, das ein Licht wirft auf die brutale Art und Weise, wie die Menschen die Ressourcen der Erde und einander täglich tatsächlich ausbeuten – um Profit zu machen, einen Sieg zu erringen oder auch nur aus Spaß an der Freude.

Mount Olympus
Fabre Mount Olympus by Dieter Hartwig
Fabre Mount Olympus by Dieter Hartwig

Merel Severs, Kasper Vandenberghe mit Andrew Van Ostade, Sarah Lutz

Dieter Hartwig

Neben anderen vage formulierten guten Absichten heißt es in der Erklärung der Choreografinnen und Choreografen: „Wir sind offen für die Idee, dass Entscheidungen über die Förderung, die Künstler erhalten, auch Überlegungen zu deren ethischen Praxis berücksichtigen sollten“. Das klingt harmlos, aber wir sollten doch sehr vorsichtig sein, was wir uns da wünschen. Tatsache ist, dass die ethischen Werte eine sehr große Rolle bei der Definition künstlerischer Inhalte spielen, einfach aufgrund der herrschenden politischen Macht, die sie bei der Verteilung der Fördermittel an die Künste ausübt. Eine der Funktionen der Kunst besteht aber darin, auch denjenigen eine Stimme zu geben, die am Rande der Gesellschaft stehen, insbesondere jenen, die eine Bedrohung für die „herrschende Kultur“ darstellen – sei es, weil sie politisch zu korrekt oder zu wenig korrekt sind. Das Letzte, was wir wollen, ist dem Staat und den Gerichten noch mehr Macht zu geben, als beide ohnehin haben, auch, um entscheiden zu dürfen, welche Kunstwerke produziert werden oder nicht.

Wer immer die Macht hat, Gelder zu verteilen, wird immer auch eine wichtige Rolle bei der Gestaltung künstlerischer Inhalte spielen, allein schon durch die Macht der Auswahl. Aber in erster und in letzter Instanz ist es an den Tänzerinnen und Tänzern, mit ihrem eigenen Körper zu entscheiden, welche künstlerische Vision sie unterstützen. Und letztendlich steht es im Interesse der Tänzerinnen, selbst zu verantworten, wie viel Unzucht bzw. Beschimpfung sie aushalten, bevor sie dem Theater den Rücken zukehren. Denn darum geht es: sich nicht bevormunden zu lassen.

Im Fall Jan Fabre bin ich jedem einzelnen Tänzer dankbar, dass er und sie das, was sie ertragen haben, so lange ertragen haben, um ein Stück wie „Mount Olympus“ auf die Bühne zu bringen. Unabhängig von den Umständen, unter denen es entstanden ist, war Fabre in der Lage, am Vorabend seines Untergangs ein Opus magnum zu schaffen, das auf jahrzehntelangem Nachdenken über das Theater aufbaut und sich auseinandersetzt mit der Spannung zwischen Helden und Gemeinen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Sicherheit und Gefahr, Ruhe und der Freude des Draufgängers, Ekstase und Schmerz, Zeit und Unendlichkeit. zwischen der Wiederholung, Veränderung und Erneuerung.

Angesichts des offenen Briefs der Tänzerinnen lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie „Mount Olympus“ zwei in der Me-too-Debatte zentrale Themen anspricht: institutionelle Macht, d. h. persönliche Macht, die durch die geballten Ressourcen einer wie auch immer finanzierten Institution gestärkt wird, und die „Vergewaltigungskultur“, d. h. eine Kultur, in der das sexuelle Raubtierverhalten von Männern – und in ihrer extremen Form die Vergewaltigung – normalisiert oder sogar idealisiert wird.

All diejenigen, die sich der Sache aus einer feministisch-politischen Perspektive nähern, werden zweifellos enttäuscht sein, dass „Mount Olympus“ den Weg aus diesem Schlamassel nicht deutlich aufzeigt. Aber sollte irgendjemand weitere Beweise dafür brauchen, dass die Kultur des klassischen Athens (wie sie in den erhaltenen Tragödien überliefert ist) oder des zeitgenössischen Europas eine „Vergewaltigungskultur“ ist, liefert sie „Mount Olympus“ in Hülle und Fülle. Sexualität wird hier durchweg als roher, oft körperlicher Machtkampf dargestellt. Überall sieht man Männer, die ihre Macht einsetzen, um sexuelle Befriedigung zu erlangen – von anderen Männern oder Frauen. Diese Brutalität wird in diesem Werk keineswegs beschönigt, als harmlos dargestellt oder entschuldigt. Im Gegenteil, wir dürfen uns immer wieder mit dem Opfer identifizieren. Wir fühlen ihren Schmerz. Die große Stärke des Werks und seine Kraft, auch im Kontext der MeToo-Debatte zum Nachdenken anzuregen, liegt darin, dass es von uns verlangt, gleichzeitig die Menschlichkeit – manchmal sogar den Charme und die Schönheit, die amoralische Vitalität – der Helden oder der Täter anzuerkennen.

Interessanterweise hat im selben Jahr, 2015, auch Angelica Liddell, in „You are my destiny (lo stupro di Lucrezia)“ quasi komplementär die Rolle weiblicher Fantasien in Richtung einer „Vergewaltigungskultur“ thematisiert. Für die Choreografin und Hauptdarstellerin Liddell sei ihr Vergewaltiger „der Einzige, der bereit war, alles um einen Augenblick der Liebe aufs Spiel zu setzen.“

Wie Krieg und Gewalt bzw. angedeutete Gewalt, werden Vergewaltigung und Vergewaltigungskultur in „Mount Olympus“ als Teil des Lebens im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. und des 21. Jahrhunderts dargestellt. Das Werk macht deutlich, dass diese Gewalt nicht die ausschließliche Domäne einer Minderheit ungehobelter Ausländer aus einem fernen Land (damals Persien oder heute Syrien) ist, sondern dass sie ein integraler Bestandteil (ob Treibstoff oder Nebenprodukt) unseres Lebens als Konsumenten und Bürger von „zivilisierten“ Kolonialmächten wie Griechenland oder Belgien oder Deutschland und den USA ist.  Auch im Theater entstehen unausweichlich Machtverhältnisse da, wo Choreografen eine Finanzierung dafür erhalten, Tänzer:innen  anzustellen. Schon das hat potenziell mit Sexualität zu tun, denn Sexualität ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität und unseres Umgangs mit anderen Menschen. Umso mehr in einem Medium wie Tanz, in dem es um die Erkundung und die Auswertung unserer Körper geht.

Sam De Mol

Im übrigen ist der Einfluss der Macht auf unsere Sexualität keine Einbahnstraße. Sexualität verleiht auch oft dem „schwachen Geschlecht“ eine gewisse Art von und einen gewissen Umfang mit Macht. Sexualität – insbesondere außereheliche Sexualität – stellt zudem eine zutiefst bedrohliche und destabilisierende Kraft dar, die eng mit der Kritik an den herrschenden Machtstrukturen der Gesellschaft verbunden ist. Aus diesen Gründen sind ein gewisses Maß an Freiheit und die damit einhergehende Übernahme individueller Verantwortung für die Risiken sexueller Praktiken unter Erwachsenen sowie deren Darstellung in der Kunst unerlässlich. Das schützt uns alle vor dem Übel des durch staatliche Gewalt erzwungenen moralischen Konformismus (z. B. die Unterdrückung von Homosexualität) – was für unsere Freiheit nicht weniger schädlich ist, als die Nichtbestrafung von Vergewaltigung.

Nur wenige Theaterstücke haben sich mit all diesen Fragen so intensiv auseinandergesetzt wie „Mount Olympus“, das vielleicht nie wieder auf die Bühne kommen wird – wegen Fabres Fall, aber auch, weil seine Aufführung so viel Engagement und – ja – Leid der Tänzerinnen und Tänzer erfordert hat. Hier möchte ich wiedergeben, wie ich als Zuschauer die Uraufführung von „Mount Olympus“ erlebt habe.

Das Fleisch und der Kult der Tragödie

Mount Olympus - Jan Fabre

eine Bacchantin

Sam De Mol

Die Uraufführung von „Mount Olympus“ beim Festival „Foreign Affairs“ in Berlin in der Nacht vom 27. auf den 28, Juni 2015 war eine großartige Erfahrung. Großartige Erfahrungen fühlen sich nicht immer nur gut an. Sie können tun weh. Sie können mitunter tödlich sein. Das gilt in unterschiedlichem Maße für alle einschneidenden Ereignisse: im Bett, im Kampf, auf der Bühne und für das Publikum. Das Wort „großartig“ (insoweit es nahelegt, dass das, was groß ist, auch gleich edel, überlegen, mitreißend, tiefgründig und folgenreich ist) betrifft immer zugleich auch die Wertvorstellungen – die man sehr wohl in Frage stellen kann.

Der belgische Choreograf und bildende Künstler Jan Fabre hat in „Mount Olympus“ die Helden, ihre Größe, ihre Gewalt und ihre Menschlichkeit so gründlich in Frage gestellt, dass niemand, der die Inszenierung miterlebt hat, je wieder in der Lage sein wird, an eine Tragödie zu denken, ohne sich an die Tragödie auf dieser Bühne zu erinnern. Zudem hat Fabre in diesem Werk endlich dem Körper – also dem Tanz – den primären Platz unserer Erfahrung der Tragödie eingeräumt – der ihm gebührt. Denn der Körper ist der Leidtragende in der Liebe sowie im Krieg. Schon auf der Bühne der Dionysosfeste im Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus kam dieses Primat des Körpers zur Geltung.

„Mount Olympus“ darf zudem als eine der herausragenden theaterlichen Leistungen des frühen 21. Jahrhunderts gelten. Es zeugt von einem lebenslangen Beschäftigung mit den alten Griechen und den Ursprüngen der Tragödie; und es zeugt von einem lebenslangen Nachdenken über den Körper und die Bühne. Dabei lässt „Mount Olympus“ nie Zweifel daran, dass es sich um ein Werk des 21. Jahrhunderts handelt. Und angesichts der jüngsten Geschichte – nicht weniger als der antiken – könnte man durchaus zu der Überzeugung gelangen, dass die Frage nach der Größe nicht lautet, wie viel Gutes sie der Welt bringt, sondern wie wenig Schaden sie anrichtet.

α

In den Stücken von Sophokles und Aischylos haben die Helden Fehler – vor allem haben sie Hybris. Sie leiden und sterben aufgrund dieses Fehlers dank der willkürlichen Ausübung göttlicher Macht. Dennoch verliert Prometheus in Aischylos’ gleichnamigem Stück nie unsere Sympathie – er bleibt der Retter der Menschheit. Selbst Ajax – ein Mann, der schwört, seine eigenen Verbündeten zu töten, nachdem er seine persönliche Ehre verletzt sieht, und der sich umbringt – nicht etwa aus Reue über diese Handlung, sondern aus Scham darüber, dass er sich von Athene dazu verleiten ließ, wie ein Narr Schafe statt Menschen zu schlachten – selbst Ajax gewinnt in der Darstellung von Sophokles viel Sympathie. Nur Euripides, mitten in dem für Athen so verheerenden Peloponnesischen Krieg, schildert Götter und Helden – ich will nicht sagen unsympathisch, aber so, dass wir uns fragen müssen: Könnten wir nicht auf sie verzichten: auf all diese selbsternannten Götter und Helden, die in ihrem wahnsinnigen Streben nach Reichtum und Ehre das Leben der normalen Menschen so durcheinanderwirbeln?

Hitler und Stalin werden immer als das Ultima Ratio zitiert, um nachzuweisen, dass die Menschheit Helden nötig hat, um gegen ihre Ungeheuer zu kämpfen. Dennoch erhalten Hitler wie Eisenhower, McCarthy oder Stalin ihre Macht aus derselben Quelle: indem man ihnen die Verantwortung für sich selbst abtritt. Besser wäre es, wenn ein jeder von uns ein Quantum Heldentum aufbringen könnte – und sei es nur, um frei zu sterben –, damit wir als Gemeinwesen auf den heldenhaften Retter verzichten könnten, der immer einen anderen Schurken für unser Unglück verantwortlich macht und uns eine Rückkehr zu goldenen Tagen verspricht.

Man kann natürlich vorschlagen, dass das Wort „Held“ und die Eigenschaft „Größe“ besser auf eine andere Art von Held angewandt werden sollte, nach dem Vorbild von Euripides’ Menoikeus und Iphigenie – nur stärker und reifer und mit humanistischen statt patriotischen Werten ausgestattet. Wahre Helden seien für uns Martin Luther King Jr., Mahatma Ghandi, Jesus Christus – oder Sokrates, der während des Peloponnesischen Krieges in Athen herumlief und versuchte, die Menschen davon zu überzeugen, dass das höchste Ziel des Menschen nicht „das Große“, sondern „das Gute“ sei. Wie sehr wir jedoch einen Sokrates, einen Jesus, einen Ghandi bewundern, so wissen wir, dass in jedem von uns wohl eher ein kleiner Ajax vor Schmerzen schreit. Und wir ahnen auch: Wenn es uns gelänge, unsere sokratischen, humanen Ideale zu verwirklichen, wären wir vielleicht nicht mehr menschlich.

Jan Fabre spricht dieses Problematik in „Mount Olympus“ direkt an. Er macht deutlich, dass jedes Werturteil über die Motive von Helden subjektiv bleibt. Auch wenn einige Helden auf der Grundlage von Idealen handeln, die wir mehr billigen als andere, besteht das Wesen des Heldentums nicht in einem hochgesteckten Ziel, sondern in der Bereitschaft, zu verstümmeln und zu töten, um dieses Ziel zu erreichen. Helden sind keine Vorbilder für Zivilcourage; sie sind Anführer oder Einzelgänger, ob im Krieg, in der Politik, in der Wirtschaft oder in der Kunst. Sie sind übermäßig egoistische Geschöpfe, die von ihren Leidenschaften zu Ruhm und Ruin getrieben werden. Was sie zu Helden macht, ist die dionysische Wut. Und Fabre zwingt uns zuzugeben, dass diese Helden dennoch etwas Liebenswertes, etwas Schönes an sich haben.

Sam De Mol - Mount Olympus

Cédric Charron

Sam De Mol

β

“Mount Olympus“ umfasst in erstaunlichem Maße den gesamten Korpus der überlieferten attischen Tragödie, insofern er sich auf die Sagen und Helden (vor allem um die Königshäuser Thebens, damit Kadmos, um Mykene, damit Atreus, und des Trojanischen Kriegs) konzentriert, durch die die epischen Barden des finstren griechischen Zeitalters (ca. 1200 – 800 v. Chr.) die Erinnerung an die Kultur der Mykenen wachhielten. Diese Legenden bildeten in der Zeit zwischen den Persischen und den Peloponnesischen Kriegen den Stoff für die meisten Theaterstücke von Aischylos, Sophokles und Euripides.

Euripides ist mit seiner tiefgreifenden Hinterfragung des Wesens des Helden für „Mount Olympus“ unverzichtbar – auch wenn Euripides keineswegs das letzte Wort hat. Man kann sogar eine tiefe Parallele zwischen diesem reifen Werk von Jan Fabre und dem letzten Stück von Euripides sehen: den „Bakchen“, die in gewisser Weise – nur wenige Monate bevor Athen die Reste seiner Flotte verlor und vor der lakedämonischen Allianz kapitulierte – bereits die gesamte Geschichte der klassischen Periode der attischen Tragödie in sich aufnahm.

„Mount Olympus“ ist ein Meta-Theater, wie es die „Bakchen“ des Euripides nicht sind bzw. nicht sein müssen. Es ist üblich, die „Bakchen“ zu lesen und aufzuführen, indem man sich auf die Rache-Handlung konzentriert, die ein eifersüchtiger Gott an den Ungläubigen und an das Königshaus von Theben (Kadmos und seine Töchter) verübt. Das Stück gewinnt seine Wirkung durch die Vorahnung der berühmtesten Trilogie von Sophokles – Kadmos ist der Großvater von Ödipus – und durch die Beobachtung, dass Bacchus oder Dionysos, der in diesem Stück eine undankbare Rolle spielt, nicht nur ein übermäßig sexbesessener, hochmütiger, junger Gott ist, sondern der Pate aller Tänze und des Theaters – weil die meisten der überlieferten Tragödien auf den Festspielen im Dionysos-Theater uraufgeführt wurden.

In „Mount Olympus“ geht es um das Wesen des Helden, um das Wesen des tragischen Theaters, das Jan Fabre ebenso wie die Griechen als ein Tanztheater versteht. Die Geschichten der einzelnen Figuren aus der griechischen Sage und Mythologie, die auf der Bühne erscheinen – Eteokles, Odysseus, Hekuba, Ödipus, Jokaste, Pentheus, Phädra, Hippolytos, Alkestis, Herkules, Agamemnon, Elektra, Orestes, Medea, Antigone, Ajax, Philoktetes und andere – spielen eine entscheidende, aber untergeordnete Rolle in seinem Stück. Die eigentliche Frage, um die es geht, ist ein Leitmotiv des späten Dramas von Euripides: Warum in aller Welt brauchen (und lieben) wir Helden? Warum brauchen (und lieben) wir Dionysos und die Tragödie? Das Außergewöhnliche an „Mount Olympus“ – warum es wohl nur wenige Parallelen in der Geschichte des postheroischen, postmodernen Theaters dazu gibt – ist, dass es gelingt, zugleich packendes Theater zu sein.

Die Handlung von „Mount Olympus“ liest sich eher wie die Zusammenfassung einer modernen Abhandlung über das Wesen der Tragödie:

1

Der Held, d.h. die ideale, abstrakte Vorstellung eines immer noch menschlichen Übermenschen, der stellvertretend für den Chor und das Publikum dem Bösen Großes und Schreckliches antut, wird nicht wie bei Aischylos oder Sophokles von einer jenseitigen Vision von Ehre und Schönheit und Gerechtigkeit getrieben, sondern – wie bei Euripides – durch ein kindliches, egoistisches Strebens nach Reichtum und Ehre. Der Unterschied zu Euripides besteht darin, dass die Helden in „Mount Olympus“ nicht versuchen, ihre egoistischen Motive hinter einer fadenscheinigen, heuchlerischen Rhetorik zu verbergen. Sie geben es ganz offen zu.

2

Der Held tut seinen eigenen Mitspielern schreckliche Dinge an und führt so seinen eigenen Untergang herbei, nicht weil er nicht bereit sei, Kompromisse einzugehen oder sich einer ungerechten höheren Macht zu unterwerfen (wie in Aischylos’ „Gefesseltem Prometheus“), nicht aus Versehen (wie in Sophokles’ „König Ödipus“), oder weil die Götter genauso grausam und eitel sind wie die Helden (etwa in Euripides’ „Die Bakchen“), sondern gleichsam promiskuitiv – weil es in der Natur des Helden liegt, zu töten, zu verstümmeln und einzudringen, der Held also jenseits von Gut und Böse agiert. Gegen Ende von „Mount Olympus“ ziehen wir die naheliegendste Schlussfolgerung aus dem heroischen Blutbad, dem wir ausgesetzt waren, indem zuerst Ajax (ergreifend gespielt von Pietro Quadrino) und dann der Chor das Publikum rhetorisch fragen: „Macht Sie das Wort Held nicht krank?“ Man geht hier noch einen Schritt weiter als Euripides und stellt eine Kritik an Helden her, die wir sonst eher von einer feministischen, queeren, postkolonialen oder postmodernen Analyse erwarten würden.

3

Der Held wird nahezu rehabilitiert, indem er seinem Ankläger, dem Chor, den Boden unter den Füßen wegzieht. Ihr gehört doch (sagt der Held zum Chor) zu einer so genannten Demokratie, ihr habt doch (direkt oder indirekt) dafür gestimmt, mich in den Krieg zu schicken (gegen Persien, Japan, Deutschland, Sparta, Syrakus, Vietnam, Irak, Afghanistan), um „eure wirtschaftlichen Interessen im Ausland zu schützen“? Und jetzt erwartet Ihr von mir, dass ich mich wie ein Schoßhündchen im Porzellanladen verhalte, das irgendeinem schmeichelnden Politiker in den Arsch kriecht, der behauptet, all das Porzellan, das ich aus dem Krieg mit Japan mitgebracht habe, gehöre nun ihm, weil er doch immer nur die edle Sache der Gerechtigkeit und des menschlichen Anstands verteidigt habe? Fickt Euch. Ich habe gefoltert und getötet, ich wurde gefoltert und fast getötet, und das alles für Euer wirtschaftliches Wohlergehen. Ich bin hier der Boss, und ihr müsst mich als das nehmen, was ich bin – ein rasendes, blutbesoffenes Tier, das Macht über Leben und Tod hat.

Kasper Vandenberghe, Merel Severs

Wonge Bergmann

Dies ist die freie Zusammenfassung der Rede, die Ajax in Kapitel 13 von „Mount Olympus“ hält. In Fabres gekürzter Fassung des Sophokles argumentiert Ajax, dass der siegreiche Krieger (er selbst) und nicht der schmeichelnde Politiker (Odysseus) die höchsten Ehren und die höchste Autorität (die Rüstung von Achilles) erhalten solle. Dann schneidet er dem gesamten Chor (seinen Landsleuten) auf der Bühne die Kehle durch, einen nach dem anderen, und verschont nur das letzte Opfer, das er durch sich selbst ersetzt. Fabre lässt den von Athene eingeführten Wahnsinn und die Schafe weg und konzentriert sich nur auf die heißblütige, aber kühle Brutalität des Helden.

Das entspricht Friedrich Nietzsches Kritik an Euripides in „Die Geburt der Tragödie“ und ganz allgemein seiner Verteidigung unserer dionysischen Natur und des glorreichen, gedankenlosen Übermenschen, der von mythologischen – nicht rationalen – Idealen inspiriert ist. Mit dem gewaltigen Unterschied, dass Nietzsche die Horde der „bürgerlichen Mittelmäßigkeit“ – den kriechenden, hilflosen, ängstlichen Chor normaler Menschen, die einfach nur ein ruhiges, angenehmes Leben wollen – mit grenzenloser Verachtung betrachtet (siehe Kapitel 11 der „Geburt der Tragödie“). Nietzsche würde den modernen Menschen (wie, darüber wagt man nicht zu spekulieren) mit seinem urbanen Lebensraum und seiner verweichlichten Abhängigkeit von der Technik beiseite fegen lassen, um Platz zu schaffen für eine Renaissance eines Volkes von einst, wie wir es aus germanischen Sagen kennen und die Grundlage von Wagners Opern bilden. Als bewundernswerten Verbrecher sieht Nietzsche den passiven, ironischen, nachdenklichen, analytischen Sokrates, der kritisch aus dem Publikum zuschaut. Mit seinem Beharren auf Vernunft und Verstand (so Nietzsche) tötete Sokrates den Mythos und leitete das lange und langsame Ersticken der dionysischen (instinktiven) Natur des Menschen ein.

Friedrich Nietzsches Sichtweise ist für „Mount Olympus“ ebenso wesentlich wie die von Euripides. Nachdem Euripides den Helden entmystifiziert hat, brauchen wir Nietzsche, um uns daran zu erinnern, was uns (und Homer und Pindar und Sophokles) überhaupt erst zu ihm hingezogen hat. Nachdem Euripides Dionysos in eine Art göttliches Monster verwandelt hat – wenn auch in ein charmantes, kultiviertes und sogar verweichlichtes Monster –, brauchen wir Nietzsche, um uns daran zu erinnern, welch entscheidende Rolle dieser Gott oder seine Attribute bei der Entstehung der menschlichen Kreativität, ganz zu schweigen der Fortpflanzung, weiterhin spielen.

Nietzsche zwingt den Denker, den Beobachter, den Philosophen zumindest implizit auch dazu, kritisch in den Spiegel zu schauen und sich zu fragen, was er selbst getan habe, um die bessere Welt, die er sich vorgestellt hat, zu verwirklichen. Nietzsche erinnert an den vernichtenden Gegensatz, den die griechische Sprache zwischen Wort und Tat gesetzt hat (ein „walk the walk, don’t just talk the talk“). Seine anti-intellektuellen Betrachtungen erinnern daran, dass das Tun viel schmutziger ist als das Denken; dass die wissenschaftliche, objektive Perspektive auch eine Flucht vor der subjektiven Verantwortung ist; und dass die perfekte Objektivität bedeutet, ein Roboter zu werden – ein menschliches Geschöpf, das nicht nur herzlos ist, sondern letztlich auch weniger intelligent als sein Schöpfer.

Aber Nietzsche greift in seiner Verteidigung des egozentrischen Übermenschen zu weit zurück – und weit über Aischylos hinaus, dessen Agamemnon eben kein reines Ideal männlicher Tugend ist. Er versäumt es, einen entscheidenden Unterschied zwischen dem mythologischen „Volk“ und dem Helden zu machen – er scheint zu glauben, dass das Volk von einst ausschließlich aus Helden bestand. Die gesamte griechische Tragödie – nicht nur Euripides – und sogar Homer legen vielmehr ein beredtes Zeugnis vom zeitlosen Kampf zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft und den Ansprüchen einiger weniger außergewöhnlicher Individuen ab.

Man muss einen ganzen Schritt zurückgehen, um die Absurdität von Nietzsches Behauptung zu erkennen, dass es wohl der übermäßig analytische Verstand von Sokrates sei, der für den Untergang der attischen (und der gesamten menschlichen) Kultur verantwortlich ist. War es aber nicht eher die Habgier und der Stolz (sowohl der Führer als auch der Bürger), die die Athener in den Peloponnesischen Krieg katapultierten und sie dazu brachten, den Einsatz über einen Zeitraum von 27 Jahren immer wieder zu verdoppeln, anstatt einfach aufzugeben, zu trauern und sich neu zu formieren? Trotz seiner Betonung des Helden und seines praktischen Handelns erwähnt Nietzsche den Peloponnesischen Krieg in der „Geburt der Tragödie“ mit keinem Wort.

Jan Fabre würdigt zwar Nietzsches analytische Einsichten, wiederholt aber Nietzsches Fehler nicht. Zwar zieht „Mount Olympus“ dem Chor den Boden unter den Füßen weg und zeigt, dass auch sie so heuchlerisch sind wie die Politiker, die sie wählen und verunglimpfen; dass auch sie letztlich so egoistisch sind, wie die Helden, die sie fürchten und lieben, nur eben schwächer – aber er adelt damit nicht die Helden, die den größeren Anteil an Verantwortung für Gut und Böse in der Welt tragen. Wir als Zuschauer können weder für den passiv leidenden Chor noch für den aktiv wütenden und leidenden Helden Partei ergreifen. Wir warten nur auf die Lösung, auf das Moment, das es uns ermöglicht, das Glück selbst in die Hand zu nehmen und auf Heldentum und Leid zu verzichten. Dennoch empfinden wir Sympathie für beide (Chor und Held), indem wir spüren, dass wir ein Teil von beiden sind, oder dass ein Teil von uns Held ist, ein Teil von uns Chor. Wir sind alle Menschen und leiden gemeinsam. Nur die Helden mehr als die anderen.

Fabre gibt sich auch nicht der Verlockung eines ursprünglichen Goldenen Zeitalters hin, sehnt sich nicht nach einer atavistischen Wiedergeburt mythologischer Menschen und Werte, wie Nietzsche es tat. Fabres Helden mögen an mythologische Zeiten erinnern, aber sie stehen mit beiden Beinen fest im 21. Jahrhundert. Das ist in der Tat eine der großen Leistungen von „Mount Olympus“: zu zeigen, dass die griechischen Tragödien und die mythologischen Figuren, die in ihnen vorkommen, nicht nur in einem historischen oder metaphorischen Sinne interessant sind. Sie sind als Figuren lebendig und leben unter uns in Berlin, New York, Antwerpen, Rom und sogar Athen im 21. Jahrhundert.

4

Der vierte Satz von „Mount Olympus“ ist einfach zu beschreiben und könnte leicht (oder leichtfertig) auf alle Tragödien angewandt werden: Die Summe der schrecklichen Dinge, die der Held den Bösewichten antut (die vielleicht doch nicht so böse waren), plus der schrecklichen Dinge, die der Held aufgrund seiner Natur und seines Charakters sich selbst und den Seinen antut (die vielleicht doch nicht so gut waren), ergibt die Schönheit, insofern all diese großen und schrecklichen Taten auf der Bühne in einer – wie Nietzsche es nennen würde – apollinischen Form zum Zweck der Erleuchtung der Menschheit und nicht im „wirklichen Leben“ zum Zweck des Erwerbs von weltlichem Reichtum und Ehre vollzogen werden.

Das bedeutet nicht, dass dies leicht zu erreichen oder gar zu begreifen sei. Wir sind an dieser Stelle in „Mount Olympus“ (wie generell auch bei Euripides) 24 Stunden lang einem unablässigen Strom von obszönem, vulgärem, grausamem, hässlichem und selbstsüchtigem oder selbstzerstörerischem Verhalten von Gott, Held und Chor gleichermaßen ausgesetzt.

Sam De Mol - Mount Olympus

Sam De Mol

Doch hier und da und vor allem in der letzten Szene, in der sich alle Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne zusammentun und sich und ihre Kameraden zum x-ten Mal mit Farbe, Verleumdungen und Beschimpfungen überhäufen, verwandelt sich die Bühne in eine farbenprächtige Leinwand aus schwitzenden, schreienden, sich windenden menschlichen Körpern. Es kommen einem Freudentränen.

Diese Bühne ist plötzlich schön, einfach schön. Das sollte es nicht sein, sagt man sich. Was sie alle da gerade durchgemacht haben, war furchtbar und tut immer noch weh. Und doch ist es schön, man kann sich des Gefühls nicht erwehren. Und genau das ist das Wesen der Tragödie.

Sam De Mol - Mount Olympus

Cédric Charron

Sam De Mol

Aber es gibt einen Mangel an mathematischer Klarheit, und zwar in dieser Funktion:

f (hässlich, hässlicher) = ? = Schönheit

Ist dieses Blutbad wirklich nur deshalb schön, weil es durch das Theater in eine erbauliche Erfahrung verwandelt wird? Oder ist diese Erklärung nicht vielmehr so etwas wie eine Religion, eine beruhigende Lüge, die sich die Schwachen einreden, um das Leben, das tragische Theater, erträglich zu machen?

Die schwierige Frage ist, ob die erbauliche Natur von Religion und Tragödie auf einen hart erkämpften Triumph des Glaubens über Verzweiflung hinausläuft, oder eben auf einen bequemen Triumph der Selbsttäuschung über die harte Wahrheit? Ich wage es nicht, eine Antwort auf dieses Rätsel vorzuschlagen. Ich fragte mich, zu meinem eigenen Entsetzen, als ich „Mount Olympus“ sah, ob das Blutbad nicht einfach schön war (sein sollte), ohne Bezug auf irgendeine erbauliche oder kathartische Wirkung des Theaters, ja ohne jegliche Unterscheidung zwischen Theater und Realität? War das Blutbad nicht einfach nur an und für sich schön? Kann ein Blutbad in irgendeinem Bereich des Lebens – aufgrund der Wut und der Leidenschaft, des Willens zum Leben und zur Macht, aufgrund des Triebes zu tun – kann dieses Blutbad nicht nur hässlich sein, sondern auch hässlich und schön zugleich? Vielleicht ist das die Natur der Tragödie und der Ursprung ihrer Anziehungskraft.

Es wird wohl nie eine endgültige Antwort auf die Frage geben, ob das Theater das Leben nur widerspiegelt oder es in etwas verwandelt, das besser ist (eine Tragödie) oder schlechter (eine Komödie) als das Leben (siehe Aristoteles, Poetik 1448 A). Doch es sieht so aus, dass Fabre das Theater mit der Religion gleichsetzt, und dass er sich zumindest versucht hat von der humaneren Schlussfolgerung, dass wir die Tragödie und die tragischen Helden nur deshalb auf die Bühne bringen, gerade weil sie grundlegend anders und besser sind als die Realität und die Helden des wirklichen Lebens. Das geht von einem Schild im Foyer auf dem Weg ins und aus dem Theater hervor, den wir alle im Laufe von 24 Stunden immer wieder beschritten haben:

Die Kunst ist der Vater
Die Schönheit ist der Sohn
Die Freiheit ist der Geist.

Ich – und ich gehe davon aus, dass meine Erfahrung von einem großen Teil jener letztlich kleinen Zahl von Menschen geteilt wird, die die Premiere von „Mount Olympus“ in Berlin oder im Laufe der acht oder zwölf Aufführungen gesehen haben – laufe drei Monate, nachdem der Vorhang endlich gefallen ist, immer noch in jenem Zustand nervöser Erregung herum, der für Verliebte und Traumatisierte typisch ist, mit einem empfindlichen Magen, angespannten Muskeln, einem müden Hirn und einer erhöhten körperlichen Wahrnehmung, d. h. in einem Rückzug von, oder besser gesagt, Rückzug aus dem Leben, beeinträchtigt durch den Zustand dionysischer Ekstase, in den ich als bloßer Zuschauer der großen und schrecklichen Ereignisse, die „Mount Olympus“ auf der Bühne zum Leben erweckte, hineingezogen wurde. Das kommt zum einen von diesem demütigen Gefühl der Dankbarkeit für die übermenschlichen Taten der Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, auch für Jan Fabre und all seinen Mitarbeitenden; zum anderen von der Wut auf dieselben Darstellenden, die so viel Schmerz auf die Bühne gebracht haben, zu keinem anderen Zweck, als diesen durch ihre Schönheit, Hingabe und Selbstaufopferung wieder zu lindern; und zum anderen aus dem unerklärlichen, unaussprechlichen und fast schuldhaften Eingeständnis, dass ich mich insgeheim weiterhin mit den Bösewichten identifizieren möchte – mit den Helden auf dem, was die Griechen das Orchester (den Tanzplatz) nannten – anstatt dem großen Spektakel des Lebens vom Chor bzw. vom Zuschauer- oder Lesesessel passiv beizuwohnen.

γ

Dass „Mount Olympus“ die Aufmerksamkeit des Publikums nicht nur 24 Stunden lang mehr oder minder ununterbrochen aufrechterhalten konnte, sondern uns gleichsam in den dionysischen Zug ins Kithairon-Gebirge hineinzog und uns dort noch monatelang umherirren ließ, selbst nachdem der Gott uns verlassen hatte, verdankt sich der Tatsache, dass diese Aufführung auf so vielen verschiedenen Ebenen gelungen ist.

Jan Fabres Strategie zum Erreichen der Katharsis bestand darin, uns schonungslos und so realistisch wie möglich der ungehemmten gewalttätigen und sexuellen Selbstdarstellung auszusetzen. Das Geschehen auf der Bühne hatte oft eine spürbar physische und emotionale Wirkung auf das Publikum. Zwischen dem An- und Ablegen der Toga, dem Schleudern, Zeigen oder Reiben verschiedener Organe und Waffen, dem Übermaß an Blut und Schmutz und Schweiß und Tränen fühlte sich die Bühne von Anfang bis Ende an, als würde sie ständig über dem Abgrund von Camp, Porno und Snuff schwanken (es gab Momente, in denen das Geschehen auf der Bühne fast unerträglich wurde).

Mount Olympus - Jan Fabre

Sam De Mol

Was uns Einblick in unsere eigene Libido ermöglichte, ohne von ihr verschlungen zu werden, waren Fabres ebenso unerbittliche Wechsel der Perspektive und der Sympathien. Pornos funktionieren durch eine einseitige Ausrichtung der Kamera auf die sexuelle Perspektive seines Publikums. Sie bedienen unsere (bei Männern kulturell sanktionierte) Fantasie, dass das Objekt unserer Begierde mehr als alles andere auf der Welt genau das will, was wir ihr geben wollen – und eben Handlungen beinhaltet, die selbst verherrlichend und erniedrigend oder schmerzhaft oder schädlich sind. Fabre hat uns nie erlaubt, in dieser Fantasie zu schwelgen. Er rüttelte uns immer wieder auf, indem er uns zwang, uns sowohl mit dem Objekt als auch mit dem Subjekt zu identifizieren, der den Spieß umdrehte, indem er auch das Subjekt bis zum Schmerz trieb, und zwar so, wie wir auch in unserer eigenen dionysischen Wut die Kontrolle verlieren – etwa, wenn wir tatsächlich Sex mit einer realen Person haben. Das Ergebnis aber war: eine schmerzhafte Erkenntnis, kein Orgasmus.

Auf historischer und intellektueller Ebene scheint der unzüchtige, obszöne Humor, der „Mount Olympus“ durchdringt, nicht so sehr auf die attische Komödie als vielmehr auf die Satyrspiele zu verweisen, die der Entwicklung sowohl der Komödie als auch der Tragödie in Griechenland vorausgingen. Vieles spricht für die Schlussfolgerung, dass die griechische Tragödie (wörtlich: der „Ziegentanz“) ihren Ursprung in einer Tanzform, dem Dithyrambos, hat und von Tänzen in dionysischen Fruchtbarkeitsritualen abstammt. Der Tanz blieb während der gesamten klassischen Epoche ein wichtiges Element bei der Inszenierung von Tragödien. Sophokles schrieb sogar eine verlorene Abhandlung über den Einsatz von Chor und Tanz auf der Bühne. „Mount Olympus“ veranschaulicht überzeugend auch diesen Zusammenhang.

Ohne die strittige Frage nach der Authentizität aufwerfen zu wollen – wie sehr diese Mischung tatsächlich einem athenischen Theater des 5. Jahrhunderts v. Chr. ähnelt – bietet „Mount Olympus“ eine überzeugende Illustration dafür, wie die Possen eines tanzenden, singenden Chors dem heroischen Monolog gegenübergestellt werden können, um eine überwältigend kraftvolle Einheit zu bilden. „Mount Olympus“ verbindet auf natürliche Weise Dialog, Gesang, visuelle Darstellung und Bewegung – die Gattungen Kunst, Sprechtheater, Oper und Tanztheater – zu einem Spektakel, das dazu beiträgt, unsere heutige Sichtweise auf die griechische Tragödie als primär dramatische oder gar literarische Form zu korrigieren. Zweifellos räumt Fabre dem Tanz oder dem physischen Theater einen größeren Vorrang gegenüber dem Dialog ein, als es die Athener im 5. Jahrhundert taten – aber das daraus resultierende Gesamttheaterstück ist sehr wahrscheinlich näher (auch in seiner Länge) an dem, was die Athener bei den Dionysien in der Stadt erlebten: eine Aufführung, die Musik und Tanz nicht nur als Divertissement auffasst.

Sam De Mol

Um seine Auseinandersetzung mit der Kultur Athens zu verschärfen, führt „Mount Olympus“ auch ahistorische Details ein. So bezieht sich beispielsweise eine Rede, die Dionysos zweimal hält („Ich werde euch Männer lehren, nicht zu kommen“), auf keine mir bekannte Tragödie, aber sie könnte sich durchaus auf eine Überlieferung beziehen, dass die Stadt Dionysia deshalb gegründet wurde, um Dionysos zu besänftigen, nachdem er über die Athener eine Plage brachte, die das männliche Genital betraf. Auch bezieht sich Fabre auf Vasenmalerei und Skulpturen.

Mount Olympus - Jan Fabre

Merel Severs

Sam De Mol

Es ist interessant, wie der Anblick einer menschlichen Skulptur auf der Bühne auf unsere Wahrnehmung von Zeit wirkt. Im einem Zwischenspiel, „Griechische Statuen: male/shemale“ verlangsamt sich die Zeit fast bis zum Stillstand. Die acht männlichen Akte in einem halbkreisförmigen Fries verändern sich betörend von männlich zu weiblich, indem die Tänzer ihren Penis mal zwischen ihre Beine klemmen, mal nicht. In diesem skulpturalen Akt geht es auch um die Plastizität unserer Wahrnehmung von Geschlecht.

Melissa Guerin Torres

Wonge Bergmann

Das Fließen der Geschlechterdefinitionen in die andere Richtung wird ebenso gründlich behandelt und – wie bei Euripides – durch die Vielzahl weiblicher Figuren unterstrichen, deren dionysische Wut sie zu ebenso blutigen und gewalttätigen Handlungen treibt wie die der Männer: Medea, Hekuba, Klytämnestra, Agave; und das, ohne sie als bloß seichte Ungeheuer zu behandeln.

Selbstverständlich bringt „Mount Olympus“ durch subtile Abwandlungen der Monologe von Euripides und Sophokles auch Bezüge zur zeitgenössischen Kultur ein. Im Großen und Ganzen ist die Bewegung oder Handlung – im Gegensatz zur Sprache – auf der Bühne fest im 21. Jahrhundert verankert. Fabre nutzt die Körpersprache des städtischen Fitnessstudios, der Diskothek, auch des Reality-Fernsehens, ohne dabei die tragische, historische Form zu verletzen. Er greift auf eine enorme Bandbreite von Figuren aus der griechischen Sage zurück, um ein Porträt, eine Destillat und eine Komposition aus griechischen Helden und ihres Verhältnisses zu Gott und Chor zu schaffen, indem er sorgfältig ausgewählte und bearbeitete Reden aus den griechischen Tragödien verwendet, um eine Abstraktion zum Leben zu erwecken – wie ein Proteus, der sich ständig windet und seine Gestalt verändert, um der Wahrheit zu entgehen.

δ

Fabre setzt dies auf allen Ebenen um und führt seine Sprache gleich im ersten Kapitel ein. Ein Drill-Sergeant (Gustav Koenigs) leitet eine Kompanie von gut zehn Tänzern zu einem Frage-und-Antwort-Gesang an, dessen Rhythmus und Melodie man aus jedem Trainingslager kennt (ich war nie dort).

Gustav Koenigs

Wonge Bergmann

Mount Olympus - Jan Fabre

Sam De Mol

Die Worte, die sie singen, haben einen Hauch von Vulgarität, aber auch einen Hauch von Orakel:

Am meisten weh tut welcher Schmerz? Des Schwertes Klinge oder der Spruch vom Gespenst.
Welche ist die Schande, die du nicht leugnen kannst? Die Schenkel deiner Mutter oder des Vaters Aug’.
Was ist die Angst, die die Nacht sucht heim? Des Schlafes Dämonen oder gestorbene Träume.
Was ist das Ungeheuer, das frisst den Tag? Die brachen Talente oder grauendes Haar.

Die Tänzerinnen und Tänzer springen Seil im Takt, allein: Das Seil ist eine schwere Kette, deren lauter Aufprall auf dem Bühnenboden ganz die Mühe verdeutlicht – für die nächsten dreißig Minuten. Die Tänzerinnen und Tänzer singen dieselben vier Strophen, springen Seil (wobei einzelne das Tempo ab und zu auf das doppelte erhöhen): bis zur völligen Erschöpfung. Herzerweichend setzen die Tänzer sich dann hin und essen einen Eislutscher.

Mich hat das schmerzhaft berührt wie fast alles andere in „Mount Olympus“. Mein Körper schrie förmlich nach Wasser – für sie. Wie Kinder oder Drogensüchtige geben sie stattdessen ihren Körper und ihre Gesundheit einem Eislutscher hin. Stehen dann auf und springen noch einmal zehn Minuten Seil.

„Mount Olympus“ wird dieses Thema des dionysischen Exzesses immer wieder in Form von Mordlust oder sexuellem Vergnügen aufgreifen – etwa im Kapitel 3, in der sich die Tänzer, Männer und Frauen, schmerzhaft lange an Pflanzen reiben, wie in einer selbstzerstörerischen, durch Crystal Meth ausgelösten Masturbationstrance.

Matteo Sedda

Sam De Mol

Die Faszination für Genussmittel und Sucht wird in Kapitel 8, „Dionysos’ Alchimistenlabor“, noch einmal explizit behandelt. Und trotzdem bringt die banale und scheinbar gesunde Handlung des ausgedehnten Seilspringens, in dem jeder, der einmal versucht hat, Sport zu treiben, sich mit den Tänzern unmittelbar identifiziert, das Gefühl zum Ausdruck, an Grenzen zu stoßen oder sie zu überschreiten – so eindringlich wie ein Blutbad.

Formal funktioniert schon dieses erste Kapitel von „Mount Olympus“ wie ein Paradigma des theaterlichen Minimalismus, im Sinne der gigantischen Skulpturen eines Storm King oder der Musik von Philip Glass in seinen besten Zeiten: eine kurze Bewegungssequenz, dem Alltag entnommen, wird solange mit wechselnder Dynamik bis zu dem Punkt wiederholt, an dem sie neue Bedeutungsebenen annimmt und das Publikum zwingt, sich in die keuchenden Tänzer einzufühlen. Dies ist integraler Bestandteil dessen, was man auch als eine maximalistische Orgie aus Blut und Eingeweiden bezeichnen kann. Dieser Auftakt trifft eine Aussage über das Wesen des klassischen Helden. Denn im Gegensatz zum fetten, peitschenschwingenden Aufseher, wie man ihm in Filmen manchmal begegnet, war es der Drill-Sergeant, der am längsten von allen das Seilspringen durchhielt und damit seinen Anspruch als Anführer und Held untermauerte.

Dieser Held hält nun einen Monolog über die Opfer, die im kommenden Bürgerkrieg erforderlich sein werden. „Der Feind ist in uns … die Zeit ist gekommen … wir müssen alle für den Sieg sterben“. Wir ahnten bereits bei den Gesängen beim Seilspringen, dass der Held den Chor auf den Krieg vorbereitet. Jetzt bekommen wir es vorbuchstabiert – und noch einiges mehr. Durch die körperliche Vorbereitung und den ersten Teil seiner Rede werden wir in die Sache mit hineingezogen. Wir alle wissen, dass es Zeiten gab, in denen die Bürger – zu Recht oder zu Unrecht – das Gefühl hatten, ihre Heimat gegen einen fremden Eindringling verteidigen oder sogar durch einen Bürgerkrieg Partei ergreifen zu müssen. Das klingt edel und heldenhaft – bis zu den Worten: „Wir müssen alle für den Sieg sterben“. Fabre hat uns dazu gebracht, die Absurdität des Krieges zu verstehen, indem er uns dazu brachte, uns mit den Kriegern zu identifizieren.

Diese Epiphanie, und die Kraft der gesamten Szene, ist für alle nachvollziehbar, die weder über spezielle Kenntnisse des Tanzes noch der griechischen Geschichte oder der Tragödie verfügen. Doch die Wirkung nimmt noch zu, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Held, der da spricht, Eteokles ist, der die Bürger von Theben auffordert, die Stadt gegen seinen älteren Bruder Polyneikes zu verteidigen. Polyneikes erhebt ebenfalls Anspruch auf den Thron, den ihr Vater, Ödipus, ihnen beiden vermacht hat. Es hätte auch ein amerikanischer Offizier sein können, der einheimische Truppen in Afghanistan mobilisiert, es hätte ein athenischer Redner sein können, der Fähnriche dazu motiviert, sich der Expedition gegen Sizilien anzuschließen; aber er heißt Eteokles, und seine Rede stammt aus Aischylos’ „Sieben gegen Theben“.

Fabre bewegt sich sicher zwischen Geschichte und Gegenwart, alten Griechen und heutigen Europäern, Mythologie und Ästhetik, Theorie und Theater, Minimalismus und Brutalismus, Oper und Kunst, Tanz und Drama. Er stellt Artefakte der Tragödie aus, die in ihrer Herkunft erkennbar bleiben und doch gleichzeitig in eine völlig neue Vision eingebunden werden, die ihnen neue Bedeutung verleiht. Euripides tat es übrigens ähnlich, als er 415 v. Chr. die Figur der Helena von Troja in „Die trojanischen Frauen“ zunächst verteufelte, um nur zwei, drei Jahre später, in „Elektra“, und vor allem in „Helena“, ihre Tugend wiederherzustellen, indem er sie auf wundersame Weise nach Ägypten entführen ließ, und Paris ein Phantom zur Seite stellte, das an ihrer Stelle nach Troja ging; oder als er die Legende von der Ermordung der eigenen Familie durch Herkules als ein Ereignis göttlicher Willkür darstellte, der auf grausame Weise sein heldenhaftes Leben zurückzahlte; und eben nicht als Erbsünde, die der Held pflichtbewusst durch seine Arbeit im Namen der Zivilisation zu sühnen sucht.

ε

Große Tänzer und große Choreografen haben einander zwar nicht unbedingt nötig, sie ziehen einander wohl gegenseitig an. George Balanchine betrachtete das Ausbilden großartiger Tänzerinnen als seine zentral Aufgabe. Die Ehrfurcht, die die Tänzerinnen und Tänzer in „Mount Olympus“ in uns wecken, hat nun weniger mit ihrer Beherrschung der Technik des klassischen und modernen Tanzes zu tun – obwohl sie das zuweilen zeigen.

Sam De Mol

Sie legen vielmehr eine Virtuosität an den Tag, die auf Ausdauer, Bandbreite, aber auch spezifische Fähigkeiten beruht. Das Kapitel 2 von „Mount Olympus“ beginnt mit einem virtuosen Stück klassischer Schauspielkunst: Hekuba (Anny Czupper), die Mater dolorosa der griechischen Tragödie, fleht den teilnahmslosen Odysseus wortgewaltig, aber vergeblich an, den Kreislauf von Gewalt und Opfern zu beenden.

Auf diese Rede folgt ein Chor, der das Publikum an Hekubas unsagbarem Leid teilhaben lässt. Ein Dutzend Tänzerinnen und Tänzer, die zunächst in einer Reihe auf der Bühne stehen und leise sprechen, wiederholen einen Satz: „no, no, fuck, fuck, take me“, immer und immer wieder.

Sam De Mol

Der Satz verliert nie ganz seinen erotischen Unterton, aber durch die Betonung des „me“ in „take me“ wird schnell klar, dass die Worte die ersten drei Stadien des Trauerparadigmas ausdrücken – Verleugnen, Wut und Verhandeln –, während die Stadien der Depression und Akzeptanz unausgesprochen bleiben. Die gerade Linie bricht, wenn die Lautstärke und die emotionale Intensität des Paroxysmus zunehmen. Bald ist die Bühne voll mit Körpern, die zurückweichen und wieder auftauchen und um die Aufmerksamkeit eines unsichtbaren (nicht reagierenden) göttlichen Erlösers wetteifern. „Nein, nimm mich (und nicht meine Tochter/Sohn/Ehemann/Würde)“, schreien sie – so wie es schon Hekuba im Stück von Euripides sagt. Lautstärke und Intensität schwanken, bis die erschöpften Tänzerinnen und Tänzer nach einer Viertelstunde „Nimm mich“ wieder in einer Linie und einem ruhigeren Gefühlszustand zusammenbrechen. Akzeptanz kann auch durch Erschöpfung erreicht werden.

Ob in einem langen Monolog über das Herausreißen der eigenen Organe durch die Vagina, um dem Phallus Zugang zum Herzen zu verschaffen;

Ivana Jozić als Iocaste

Sam De Mol

Ob in einem buchstäblich (körperlichen) Kampf der Geschlechter, die mit Olivenöl beschmiert wurden.

Sam De Mol

Dieter Hartwig

Ob in der unzüchtigen, ausgelassenen Mischung aus Saturday Night Fever und Rave-Party mit Spagat- und Handsprüngen, die die Show eröffnet und beendet: Die Akteure, die 24 Stunden lang mit einem erstaunlichen Maß an Virtuosität und Ausdauer unzählige Stimmungs- und Tempowechsel und zahllose vorzeitige Höhepunkte vollführen, tun Dinge, die ihnen verhasst und schmerzhaft erscheinen mussten und es zweifellos oft auch waren.

Dieter Hartwig

Das Vertrauen und die Hingabe, die Fabre ihnen abverlangt und die sie uns entgegenbringen, sind kaum zu unterschätzen. Sie haben ihre Körper wie im Krieg über alle denkbaren Grenzen hinaus strapaziert, um eine Wirkung zu erzielen, die durch die geheimnisvolle Verwandlung des Theaters zwar letztlich Schönheit hervorgebracht haben mag, in ihrer unmittelbaren Wirkung aber offensichtlich erniedrigend wirkte.

Schlaflosigkeit – oder vielmehr der bösartig produktive Zustand des Schlafentzugs, der von Kriegern und Künstlern, die von Dionysos heimgesucht werden, gepriesen und verflucht wird – war das Thema eines Textes, der zweimal (wie mehrere andere thematische Elemente der Inszenierung) während des Tages und der Nacht von „Mount Olympus“ wiederholt wurde.

Sam De Mol

Der Verzicht auf Schlaf, zumindest für ein Wochenende, wurde allen an dieser Produktion Beteiligten abverlangt, auch dem Publikum. Manchmal dachte ich an den Heeresboten aus Euripides’ Phönizierinnen, der von der Schlacht zwischen Eteokles und Polyneikes berichtet: „Wir, die wir zusahen, schwitzten mehr als sie und fürchteten um unsere Freunde“. Die Darsteller in „Mount Olympus“ verzichteten nicht nur auf Schlaf, sie tanzten und schrien und fickten und kämpften 24 Stunden lang. Den wenigen Schlaf, den die Tänzer zwischen Samstag und Sonntag bekamen, holten sie sich in Schlafsäcken auf der Bühne. Ich war neugierig genug, sie in der zweiten Hälfte des 90-minütigen Nickerchens, das ihnen zwischen 5:30 und 7 Uhr morgens gegönnt war (ich war früher eingeschlafen), im Schlaf zu beobachten; und insbesondere den Übergang von der Schlafzeit zur Wachzeit.

Der Weckruf kam vom Geist der Klytämnestra (Ivana Jozic), der zwischen den Schlafsäcken umherwanderte, wie zwischen Grabsteinen auf einem nächtlichen Friedhof, und die Darsteller mit zunehmender Empörung aufforderte, ihre Zeit nicht länger mit Schlaf zu vergeuden.

Früh morgens: Der Geist der Klytaimnestra (Ivana Jozić) weckt das Theater.

Performance von Ivana Jozić © Troubleyn/Cie Des Indes

Sie sei von ihren Kindern ermordet worden; ihre Seele könne nicht ruhen, bis sie Rache genommen habe. Also wacht auf, ihr faulen Feiglinge, wacht auf und rächt den üblen Mord! Auch hier stellt Fabre ein böses und boshaftes Geschöpf vor, dem es dennoch gelingt, unsere Sympathie zu gewinnen, selbst in diesem Prolog zu Fabres Wiedergabe der mythisch-chronologisch vorgelagerten Handlung der „Iphigenie in Aulis“ und der „Orestie“.

So gibt es mindestens 27 virtuose Auftritte in „Mount Olympus“ und viele weitere hinter der Bühne oder als Vorbereitung. Ein Darsteller muss dennoch sowohl aufgrund seiner Rolle in „Mount Olympus“ als auch aufgrund der Art und Weise, wie er sie spielte, besonders hervorgehoben werden. Andrew van Ostade als Dionysos, der in seinem allzu menschlichen Durst nach Rache und Befriedigung seine sterblichen Opfer immer wieder dazu antreibt, ihre Selbstbefreiung bis zur Selbstverstümmelung zu treiben. Er bewahrt sich durchgehend eine gewisse göttliche Distanz und zeigt gleichzeitig eine perverse, knabenhafte, Caravaggio-artige Freude daran, seine Opfer zu einem selbstzerstörerischen Exzess (von Bewegung, Gewalt, Rausch und Orgasmus) zu erregen. Er kann die Speckröllchen in seinem Bauch triumphierend schütteln und wackeln, sie verführerisch rollen oder sie drohend als Waffe schwingen. Beim Sprechen moduliert seine hohe Stimme launisch zwischen Freude und Wut, Schmeichelei und Verachtung, Drohung und Verführung. Und er spielt virtuos auf riesigen „Tympana“ (Handtrommeln), wie es Dionysos tat, mit einem gebieterischen Iktus in einem wechselnden, durch Synkopen und Klangfarben verzierten Metrum, um seine Opfer auf der Bühne und im Publikum in einen ekstatischen Rausch zu versetzen. Niemand, der Van Ostade als Dionysos gesehen hat, wird sich den Gott je anders vorstellen können.

Andrew Van Ostade

Sam De Mol

ζ

Die „Bakchen“ des Euripides erzählen die teils legendäre, teils historische Geschichte, etwa wie der Kult des Naturgottes Bacchus zu Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr. auf dem griechischen Festland Einzug hielt bzw. erneut Einzug gehalten hat. Erst nachdem er auf den heftigen Widerstand vieler griechischer Könige gestoßen war, wurde Dionysos in das griechische Pantheon als Gott des Weines, der Ekstase und des Tanztheaters aufgenommen. In seiner früheren, vorinstitutionellen Form gibt es jedoch deutliche Hinweise darauf, dass der Dionysos-Kult viele der beunruhigenden Elemente enthielt, die in „Mount Olympus“ dargestellt und in Euripides’ Stück grausam in Worte gefasst wurden – darunter das Jagen mit bloßen Händen, das Zerreißen des Opfers bei lebendigem Leib und das rohe Verspeisen kleiner Waldtiere, um durch den Verzehr des Fleisches der Tiere, die Dionysos kurzzeitig repräsentierten, an seiner Göttlichkeit teilzuhaben. Auch für das Element des Menschenopfers, auf das Euripides mit seiner anschaulichen Schilderung der Verstümmelung und Tötung des Pentheus durch eine Schar von Frauen im bacchantischen Rausch verweist, angeführt von seiner eigenen Mutter und seinen Tanten, kann durchaus eine historische Grundlage enthalten. Wie grausam man die Handlungen auf der Bühne von „Mount Olympus“ auch finden mag, das Erlebnis würde im Vergleich zu einer tatsächlichen Teilnahme an einem bacchantischen Ritual im Thrakien des 10. Jahrhunderts vor Christus wohl eher blass wirken.

Marc Moon van Overmeir

Wonge Bergmann

Im Mittelpunkt des Stücks von Euripides steht die Auseinandersetzung zwischen Dionysos und dem legendären König Pentheus, der Dionysos’ Anspruch auf Göttlichkeit anzweifelt und versucht, seinen Kult als moralisch verwerflich zu verbieten. Dionysos macht sich Pentheus’ eigene lüsterne Fantasien zunutze, indem er ihn dazu verleitet, die Orgie der bacchischen Frauen auszuspionieren und ihn dann den Frauen zur Verstümmelung zu überlassen, weil er ihr Ritual entweiht hat. In seiner Verzweiflung über Gott und Mensch am Ende des Peloponnesischen Krieges und am Ende seines eigenen Lebens stellt Euripides beide Antagonisten (die über ihre Mütter Cousins ersten Grades sind) als jung, ungestüm, hochmütig und boshaft dar, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Der entscheidende Unterschied zwischen ihnen liegt nicht in der „lächelnden, sanftmütigen, katzenhaften Leichtigkeit“ des Dionysos im Gegensatz zu Pentheus’ steifem Machotum, sondern es ist ganz einfach der Vorteil der Unsterblichkeit und göttliche Abstammung.

In früheren Stücken kontrastiert Euripides oft die friedliche Ekstase der Anhänger von Dionysos mit der mörderischen Wut von Ares und anderen Göttern. In Herakles (ca. 420 v. Chr.) treibt eine verrückte Göttin auf Geheiß von Hera, wie sie behauptet, gegen ihren eigenen Willen, Herkules dazu, seine Frau und Kinder zu ermorden („Mount Olympus“, Kap. 7).

Der Chor klagt:

Jetzt beginnt der Tanz! Nicht hier,
die Trommeln! kein schöner Thyrsos hier! …
Kein Wein des Dionysos hier!

Auch in dem Spätwerk „Die Phönizierinnen“ (410 v. Chr.) schreibt Euripides:

Ares … Liebhaber von Blut und Tod,
… warum bleibst du weg von [Bacchus’] Festen …
[um deinem] Tanz nachzugehen, der keine Musik kennt?

Im Allgemeinen ist es vielmehr Apollon, nicht Dionysos, den Euripides in seinen Stücken angreift. Erst in den „Bakchen“ erhält Dionysos nicht nur seinen gerechten Anteil an der Schuld für die menschliche Torheit: Er ist gekommen, um die Leidenschaften aller Bewohner des Olymps (und der Erde) zu vereinen. Wie Teiresias in dem Stück ausdrücklich sagt:

Er hat sich sogar die Aufgaben des kriegerischen Ares angeeignet.

Die Bacchantinnen, die Schar der Anhängerinnen des Gottes,
stürzten sich auf die Viehherden
die dort auf dem Grün der Wiese weideten. Und dann
hättest du sehen können, wie eine einzelne Frau mit bloßen Händen
ein fettes Kalb, das noch vor Schreck brüllte, erst in zwei Teile,
während andere die Färse in Stücke rissen.
Überall lagen Rippen und gespaltene Hufe verstreut,
und blutverschmierte Fetzen hingen an den Tannenbäumen.

Dann zogen sie zum Dorf der Bauern:
Alles, was sie sahen, plünderten und zerstörten sie.
Sie rissen die Kinder aus ihren Häusern.

Als die Dorfbewohner versuchten, sich zu verteidigen:
Die Speere der Männer waren spitz und scharf, und doch floss
kein Blut, während die Stäbe, die die [Bacchantinnen] warfen
Wunden zufügten.

Als Pentheus versucht, sie auszuspionieren, reißt ihn seine eigene Mutter bei lebendigem Leib in Stücke und spießt seinen Kopf als Trophäe auf einen Stab auf.

Der Chor der Bacchantinnen behauptet, dass Bacchus

die Göttin Frieden liebt.
Er schenkt den Reichen und den Armen … die Freude der Traube und segnet doppelt denjenigen dessen einfache Weisheit den Gedanken
der stolzen, ungewöhnlichen Menschen und all
ihren Gottheit anmaßenden Träumen fernbleibt.

Es scheint, dass Bacchus die Sanftmütigen und diejenigen, die sich in die Vergessenheit trinken, verschont. Doch niemand in dieser vielleicht düstersten aller Euripideischen Tragödien wird verschont. Agave, die Mutter von Pentheus, ist gekränkt, als sie erfährt, dass sie in ihrem bacchantischen Rausch ihren eigenen Sohn ermordet hat. Es wird angedeutet, dass Teiresias den Kult des Dionysos nur zu seinem privaten, finanziellen Vorteil als Priester fördert; und dass König Kadmos, der Großvater von Pentheus und Dionysos, den Gott nur als Vorsichtsmaßnahme geehrt hat, um sich die Gunst eines halbgöttlichen Enkels zu sichern, den er für mächtiger hält als sich selbst. Der Dionysos der „Bakchen“ unterscheidet nicht zwischen Anhängern und Opfern. Alle werden bestraft, wenn der Gott sich offenbart.

„Die Bakchen“ werden in „Mount Olympus“ in einem eigenen der jeweils etwa zweistündigen „Kapitel“ behandelt. Jedes Kapitel orientiert sich an einer Figur oder einer Gruppe von Figuren aus der griechischen Sage und den überlieferten Stücken. Das Bacchantinnen-Kapitel in „Mount Olympus“ bietet die Hauptfiguren in einer Rede dar, in der Pentheus verspricht, den unmoralischen Bacchus-Kult auszurotten, der die Frauen von Theben in die Irre geführt habe; dann in Agaves Triumphrede, während sie den abgetrennten Kopf ihres Sohnes zur Schau stellt, den sie in ihrer Raserei immer noch für das Jungtier eines Berglöwen hält; sowie in einer Rede des Dionysos (angelehnt an die Rede eines Boten aus Kithairon bei Euripides), in der er die Jagdszene beschreibt. Dieses Kapitel enthält auch mehrere nonverbale Szenen, die andere Themen der Bacchantinnen ansprechen: Lachen, Weintrinken, ekstatischer Tanz sowie transsexuelle und autoerotische Sehnsüchte.

Solche Sehnsüchte kommen auch bei Euripides vor: Die Frauen lassen ihre Webstühle und Babys zu Hause, um auf die Jagd zu gehen. Zu Euripides’ Zeiten waren es immer männliche Schauspieler, die auf der Bühne Frauenkleider trugen; in den „Bakchen“ verkleiden sich alle drei männlichen Figuren im Spiel als Frauen. Dann haben wir Pentheus, der eine lesbische Orgie anzusehen hofft. Auch wenn die Figuren der „Bakchen“ von Euripides Dionysos am Ende als allmächtigen Gott anerkennen müssen, haben sie ihn gleichzeitig zu hassen gelernt. In einer letzten Ode sinniert der Chor über die Unberechenbarkeit der Götter. In einer überraschenden, aber charakteristischen Wendung beendet Fabre dieses Kapitel von „Mount Olympus“ mit einem der wenigen Momente gelöster Spannung: mit Mozarts „Ruhe sanft“.

„Mount Olympus“ kann – wie die „Bakchen“ des Euripides – auch auf allegorischer Ebene betrachtet werden – als eine direkte Abhandlung des Konflikts zwischen der animalischen Natur des Menschen (repräsentiert durch Dionysos stellvertretend für alle Götter, für Schicksal und Notwendigkeit, für Chaos, für Appetit und Instinkt) und dem Streben des Menschen nach Zivilisation – im Sinne von Selbstbeherrschung, Ordnung und Naturbeherrschung (Nietzsches apollinisches Prinzip). Dionysos ist in jedem von uns. Er ist der vulkanische Ausbruch der primitiven, ziellosen Kraft der Natur im Menschen, die die apollinische Disziplin in bescheidenem Maße zu beeinflussen hofft, aber niemals wirklich „kanalisieren“ oder unterdrücken kann. Weitaus deutlicher als bei Euripides und ganz im Sinne von Nietzsches „Geburt der Tragödie“ zeigt „Mount Olympus“, dass dieser Kampf zwischen Trieb und Zügelung das grundlegende Thema des tragischen Theaters ist: Theater als ein Versuch des Menschen, die Erfahrung zu sublimieren, um unsere dionysischen Impulse in apollinische Form zu bringen.

Sam De Mol

Die Männer und Frauen auf der Bühne stehen ganz unter dem Einfluss des Dionysos, so dass die Argumente für Selbstbeherrschung und Zivilisation unausgesprochen bleiben. Fabre weiß, dass die blutigen Exzesse, die Grausamkeiten und selbstzerstörerischen Handlungen auf der Bühne diese Argumente beim Publikum bereits automatisch hervorrufen werden. Nur manchmal kommen sie auch auf der Bühne zu Wort. Hekuba in Kapitel 2 ist die erste, die dies tut, indem sie Odysseus bittet, das Leben ihrer Tochter zu verschonen und den Kreislauf der Gewalt zu beenden. Der zweite, ambivalentere, ist Pentheus in seiner Rede, in der er allen guten Bürgern von Theben verspricht, die Stadt von dem unzüchtigen, unzivilisierten und zerstörerischen Dionysos-Kult zu befreien, der die Frauen wie eine Krankheit befallen habe.

Während die Auseinandersetzung zwischen Dionysos und Pentheus direkt von Euripides stammt, nimmt Fabre erhebliche Änderungen an ihren Charakteren vor. Anstelle des unerfahrenen, unverschämten und rücksichtslosen jungen Königs bei Euripides stellt Fabre (und der Darsteller Marc Moon Van Overmeir) Pentheus als einen erfahrenen, hart arbeitenden Anführer dar, wenn auch mit ausgeprägtem Hang zum Autoritarismus. Die Rede des Pentheus ist ein gutes Beispiel dafür, wie mit enormer Zurückhaltung und Wirkung eine relativ kleine Anzahl langer Reden aus der klassischen Tragödie adaptiert wurden, um sowohl die Charaktere als auch die Meta-Handlung in „Mount Olympus“ zu skizzieren.

Die Rede beginnt in „Mount Olympus“, wie in den „Bakchen“, mit dem Satz „Ich war zufällig außerhalb der Stadt … aber es wurde mir von einem seltsamen Unfug hier berichtet.“ Wenn ich mich richtig erinnere, fügt „Mount Olympus“ an der Stelle, an der ich die Auslassungspunkte setze, den Satz „um hart zu arbeiten und mein Leben zu riskieren, um Eure wirtschaftlichen Interessen im Ausland zu schützen“ hinzu. Diese Einfügung (in Overmeirs Vortrag) charakterisiert Pentheus als den erfahrenen, selbstbewussten Anführer, verbindet ihn mit den anderen Helden von „Mount Olympus“ und deutet darauf hin, dass er im Namen der Stadt einen Krieg führt: zu unserem wirtschaftlichen Nutzen. Dieser Zusatz entspricht noch ganz dem Stil von Euripides – das unverblümte Bekenntnis eines Politikers zur Realpolitik. Er verdeutlicht ein Argument, das sowohl für Euripides als auch für „Mount Olympus“ von zentraler Bedeutung ist: dass Helden des Reichtums oder der Ehre wegen agieren. Pentheus ist damit absolut fit für das 21. Jahrhundert, ohne die von Euripides entwickelte Figur zu beschädigen.

Dieser eine Satz erlaubt es uns, Pentheus sowohl als Wirtschaftsführer als auch als Krieger oder Helden zu sehen. In „Mount Olympus“ geht es Fabre um Macht, insbesondere um männliche Macht. Und diese Macht drückt sich in Europa und Amerika heute in den Vorstandsetagen von Banken und multinationalen Konzernen aus, ebenso in den Korridoren der Regierung oder auf dem Schlachtfeld. Die engen Beziehungen zwischen Kaufleuten, Bankiers oder Grundbesitzern einerseits und Kriegern und Fürsten andererseits reichen bis in die Antike zurück. Man denke an Aischylos’ Metapher vom Krieg als dem „Geldwechsler von Körpern“ („Agamemnon“). Man denke an das venezianische, das niederländische, das britische Reich – erst kamen die Handelswege, dann die Marine zu ihrer Verteidigung. Der Ausdruck könnte sich sogar auf einen deutschen Bundespräsidenten beziehen, Horst Köhler, der 2010 zurücktrat, nachdem er öffentlich vorschlug, dass Deutschland einen Krieg führen solle, wenn es zum Schutz der Handelswege notwendig sei.

Das hervorstechende Merkmal der Verbindung zwischen Krieg und Geld im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert ist weniger ihre unerhörte Stärke und Widerstandsfähigkeit, als die Tatsache, dass ihre Bande nahezu unsichtbar bleibt. Die Arbeitsteilung zwischen Berufssoldaten und Berufsbankern ist so vollkommen, die Entfernung zwischen den Machtzentren in den Vorstandsetagen und den Öl- und Schlachtfeldern so groß, dass wir schon jemanden wie Jan Fabre brauchen, um uns an diese alte Zweckgemeinschaft zu erinnern. Wir brauchen Fabres Werk, um uns daran zu erinnern, dass die Kriege, die rund um den Globus von Vietnam bis Afghanistan, von Syrien bis zum Sudan geführt werden, mit echtem Blut, direkt oder indirekt, für unsere wirtschaftlichen (nicht unsere menschlichen) Interessen geführt werden.

Daher ist die Figur des Pentheus in „Mount Olympus“ als Held und König, der sich auf die Sicherheit, die Moral und das wirtschaftliche Wohlergehen seines Volkes beruft und nebenbei sein eigenes öffentliches Image aufbessert, absolut überzeugend und absolut zeitgemäß. Auch wenn Pentheus sich ein wenig zu weit vorwagt in Richtung einer autoritären Unterdrückung der individuellen Freiheit: Das Verhalten derer, die unter der Herrschaft von Dionysos stehen, könnte von kaum einem politischen Führer toleriert werden, egal wie liberal, und von kaum einem Moralisten gebilligt werden, der nicht Besitzer eines SM-Clubs ist. Denn die Opfer von Dionysos verletzen einander und sich selbst ohne Unterlass.

Auch auf sprachlicher und schauspielerischer Ebene tun sie dies: Die Monologe in „Mount Olympus“ (Dialoge im engeren Sinne sind selten) bewahren zwar den erhabenen Ton der klassischen Tragödie, weisen aber eine prägnante, sachliche Diktion und eine realpolitische Sensibilität auf, die im 21. Jahrhundert zu Hause sind. Eine weitere von Fabres subtilen Interpolationen in dieser Rede des Pentheus ist der Satz: „Manchmal erfordert die Freiheit einen Polizisten an jeder Ecke, um die Menschen vor sich selbst zu schützen.“ Damit ist alles gesagt. Es fehlt nicht mal die Prise bissigen euripideischen Humors.

Ähnlich verfährt Fabre mit allen Figuren des griechischen Dramas, die im Verlauf von „Mount Olympus“ auftauchen. Die Helden werden ihres Anspruchs auf moralische Überlegenheit oder edler Absicht beraubt, die sie in allen Stücken von Aischylos und Sophokles noch haben, aber auch ihrer Feigheit und Heuchelei, mit denen Euripides sie überzogen hat. Wir haben es mit rohen, nackten Helden zu tun, die vergewaltigen, töten und ihre eigene Gesundheit opfern in einem monomanischen Streben nach Ehre und Befriedigung, das nur durch andere Helden oder ihre eigene Sterblichkeit gebremst wird. Wir können nicht anders, als Mitgefühl für Männer wie Ajax zu empfinden, die schreckliche „Verbrechen“ begangen und sich selbst ruiniert haben, während oder nachdem sie gegen unsere Feinde gekämpft haben. Wir wünschen uns vielleicht, dass sie unsere Feinde besiegen, um dann zu lernen, die von Sokrates oder Jesus Christus gepredigten Werte der Zurückhaltung, Demut und Vergebung zu praktizieren. Aber wir erkennen: Ajax tötet unsere Feinde für uns und erwartet im Gegenzug nichts als Ehre und Gehorsam. Sokrates lässt sich lieber töten, als gegen seine Werte zu verstoßen. Das lässt uns allein, wenn wir nicht mit ihm als Märtyrer sterben wollen. Sokrates erwartet von jedem von uns, dass er im Angesicht des Todes so tapfer ist wie Sokrates. Nur wenige von uns sind es.

Anthony Rizzi

Dieter Hartwig

In der letzten Szene tritt Cédric Charron in Fabres Version des Philoktet vor uns, um uns zu erklären, wie er gebrochen wurde – durch brutale Sodomie in eine Frau verwandelt, verstümmelt und verkrüppelt und aller Kraft und Würde beraubt („Ich habe nichts mehr zu bieten als meine Wunde“). Er wurde in den Gezeiten des Krieges vom Helden zum Opfer gemacht. Wir wissen sehr wohl (spätestens nach diesem Stück), dass es „gerecht“ ist, wenn der Held, der durch das Schwert lebt, durch das Schwert stirbt; aber wir fühlen trotzdem seinen Schmerz. Wir fühlen ihn nur stellvertretend – was etwas ganz anderes ist, als das zu fühlen, was er fühlt, vor allem was das Ausmaß des Schmerzes betrifft. Dies führt uns jedoch unweigerlich zu der Erkenntnis, dass wir dem Helden etwas schuldig sind, weil er so leidet, wie er leidet, um uns die Unannehmlichkeiten des Kampfes zu ersparen. Wir lieben ihn, lieben seinen größeren Mut, lieben den Teil von uns, für den er steht, unsagbar leidet und zu uns spricht.

„Mount Olympus“ zeigt, dass wir alle – mit all unseren unterschiedlichen Kräften und Begierden – letztlich Tiere sind, die den Trieben und Instinkten der Natur unterliegen; wir sind alle Opfer des Dionysos. Wir brauchen vor diesen Trieben und Instinkten nicht hemmungslos zu kapitulieren; aber wir sollten – da wir ohnehin nicht in der Lage sind, sie vollständig zu unterdrücken – die Schönheit des heftigen Instinkts ebenso sehen wie die der ruhigen Vernunft und der Mäßigung.

Wir können den Schmerz des Lebens vielleicht lindern, indem wir selber auf das Streben nach Heldentum verzichten und denjenigen, die es anstreben, so wenig wie möglich Beachtung schenken – vorausgesetzt, wir hatten das Glück, 1969 in Edmonds, Washington, geboren zu sein und nicht in Aleppo oder im Gazastreifen um 1990 oder 1890. Aber das ist nur eine Ausrede, kein sokratischer Akt des passiven Widerstands. Immerhin sind Sokrates und Jesus Christus, zwei prominente Vorbilder des Anti-Heldentums, als Märtyrer heldenhaft gestorben. Im Nahen und Mittleren Osten (und nicht nur dort) wimmelt es derzeit nur so von Helden und Opfern, darunter auch eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedern der US-Armee, der Luftwaffe, der CIA und des Presidential Joint Special Operations Committee. Viele kaufen Waffen von US-amerikanischen und deutschen Herstellern mit ausländischen Hilfsgeldern, die ursprünglich von den Steuerzahlern in Edmonds, Washington, eingesammelt wurden.

Vielleicht gibt es also wirklich kein Entkommen aus der tragischen Arena, unabhängig davon, wie wir mit Helden und Heldentum, Dionysos und dem Willen zur Macht umgehen. Wir können die Helden bekämpfen, wir können uns hinter ihnen verstecken, wir können mit ihnen reden, wir können sie lieben; aber wir können sie nicht einfach in Ruhe lassen und denken, wir täten damit etwas Gutes. Wie die Euripideischen „Bakchen“ enden auch die „Meta-Bakchen“ – „Mount Olympus“ –, mit der Erkenntnis, dass unsere dionysische Natur allmächtig und bezaubernd, aber auch abscheulich ist. Wie bei Euripides macht Dionysos am Ende von „Mount Olympus“ deutlich, dass dies – dieses 24-stündige Blutbad, das die gesamte griechische mythologische Geschichte und auch viel reale Geschichte heraufbeschwört – „nur der Anfang“ war. Das Leid und das Blut werden weiter fließen.

Während Euripides in den letzten Worten seiner letzten Tragödie den Chor ziemlich ziellos über die Unberechenbarkeit und Amoralität der Götter sinnieren lässt, endet „Mount Olympus“ mit einem knappen Aufruf zur ästhetischen, körperlichen Erneuerung im utopischen Raum des Theaters:

Nimm die Macht zurück.
Genieße deine eigene Tragödie.
Atme, atme sie einfach,
Und stell dir etwas Neues vor.

Es geht für Fabre nicht darum, den Helden zu rehabilitieren. Er fordert uns auf, uns eine andere Art von Held vorzustellen und zu versuchen, selber einer zu sein. Gut möglich, dass er will, dass wir alle Tänzer werden. Auch das würde kein Kinderspiel sein.

Jan Fabre als Mensch hat es sich wohl versagt, sich selbst mit der Alchemie des Theaters von einem Ajax in einen Sokrates zu verwandeln; vor einem Helden in einen Anti-Helden; von einem Frauenheld in einen Liebhaber. Er hat dennoch ein mächtiges Zeugnis seines Kampfes abgelegt und dabei eine beachtliche Anzahl von Tänzer:innen, Theaterleuten und Publikum mit in den dionysischen Rausch hineingezogen. Was für eine Bereicherung! All das wird die Bauchlandung seiner Karriere im Theater kaum abwenden.