Die Männer und Frauen auf der Bühne stehen ganz unter dem Einfluss des Dionysos, so dass die Argumente für Selbstbeherrschung und Zivilisation unausgesprochen bleiben. Fabre weiß, dass die blutigen Exzesse, die Grausamkeiten und selbstzerstörerischen Handlungen auf der Bühne diese Argumente beim Publikum bereits automatisch hervorrufen werden. Nur manchmal kommen sie auch auf der Bühne zu Wort. Hekuba in Kapitel 2 ist die erste, die dies tut, indem sie Odysseus bittet, das Leben ihrer Tochter zu verschonen und den Kreislauf der Gewalt zu beenden. Der zweite, ambivalentere, ist Pentheus in seiner Rede, in der er allen guten Bürgern von Theben verspricht, die Stadt von dem unzüchtigen, unzivilisierten und zerstörerischen Dionysos-Kult zu befreien, der die Frauen wie eine Krankheit befallen habe.
Während die Auseinandersetzung zwischen Dionysos und Pentheus direkt von Euripides stammt, nimmt Fabre erhebliche Änderungen an ihren Charakteren vor. Anstelle des unerfahrenen, unverschämten und rücksichtslosen jungen Königs bei Euripides stellt Fabre (und der Darsteller Marc Moon Van Overmeir) Pentheus als einen erfahrenen, hart arbeitenden Anführer dar, wenn auch mit ausgeprägtem Hang zum Autoritarismus. Die Rede des Pentheus ist ein gutes Beispiel dafür, wie mit enormer Zurückhaltung und Wirkung eine relativ kleine Anzahl langer Reden aus der klassischen Tragödie adaptiert wurden, um sowohl die Charaktere als auch die Meta-Handlung in „Mount Olympus“ zu skizzieren.
Die Rede beginnt in „Mount Olympus“, wie in den „Bakchen“, mit dem Satz „Ich war zufällig außerhalb der Stadt … aber es wurde mir von einem seltsamen Unfug hier berichtet.“ Wenn ich mich richtig erinnere, fügt „Mount Olympus“ an der Stelle, an der ich die Auslassungspunkte setze, den Satz „um hart zu arbeiten und mein Leben zu riskieren, um Eure wirtschaftlichen Interessen im Ausland zu schützen“ hinzu. Diese Einfügung (in Overmeirs Vortrag) charakterisiert Pentheus als den erfahrenen, selbstbewussten Anführer, verbindet ihn mit den anderen Helden von „Mount Olympus“ und deutet darauf hin, dass er im Namen der Stadt einen Krieg führt: zu unserem wirtschaftlichen Nutzen. Dieser Zusatz entspricht noch ganz dem Stil von Euripides – das unverblümte Bekenntnis eines Politikers zur Realpolitik. Er verdeutlicht ein Argument, das sowohl für Euripides als auch für „Mount Olympus“ von zentraler Bedeutung ist: dass Helden des Reichtums oder der Ehre wegen agieren. Pentheus ist damit absolut fit für das 21. Jahrhundert, ohne die von Euripides entwickelte Figur zu beschädigen.
Dieser eine Satz erlaubt es uns, Pentheus sowohl als Wirtschaftsführer als auch als Krieger oder Helden zu sehen. In „Mount Olympus“ geht es Fabre um Macht, insbesondere um männliche Macht. Und diese Macht drückt sich in Europa und Amerika heute in den Vorstandsetagen von Banken und multinationalen Konzernen aus, ebenso in den Korridoren der Regierung oder auf dem Schlachtfeld. Die engen Beziehungen zwischen Kaufleuten, Bankiers oder Grundbesitzern einerseits und Kriegern und Fürsten andererseits reichen bis in die Antike zurück. Man denke an Aischylos’ Metapher vom Krieg als dem „Geldwechsler von Körpern“ („Agamemnon“). Man denke an das venezianische, das niederländische, das britische Reich – erst kamen die Handelswege, dann die Marine zu ihrer Verteidigung. Der Ausdruck könnte sich sogar auf einen deutschen Bundespräsidenten beziehen, Horst Köhler, der 2010 zurücktrat, nachdem er öffentlich vorschlug, dass Deutschland einen Krieg führen solle, wenn es zum Schutz der Handelswege notwendig sei.
Das hervorstechende Merkmal der Verbindung zwischen Krieg und Geld im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert ist weniger ihre unerhörte Stärke und Widerstandsfähigkeit, als die Tatsache, dass ihre Bande nahezu unsichtbar bleibt. Die Arbeitsteilung zwischen Berufssoldaten und Berufsbankern ist so vollkommen, die Entfernung zwischen den Machtzentren in den Vorstandsetagen und den Öl- und Schlachtfeldern so groß, dass wir schon jemanden wie Jan Fabre brauchen, um uns an diese alte Zweckgemeinschaft zu erinnern. Wir brauchen Fabres Werk, um uns daran zu erinnern, dass die Kriege, die rund um den Globus von Vietnam bis Afghanistan, von Syrien bis zum Sudan geführt werden, mit echtem Blut, direkt oder indirekt, für unsere wirtschaftlichen (nicht unsere menschlichen) Interessen geführt werden.
Daher ist die Figur des Pentheus in „Mount Olympus“ als Held und König, der sich auf die Sicherheit, die Moral und das wirtschaftliche Wohlergehen seines Volkes beruft und nebenbei sein eigenes öffentliches Image aufbessert, absolut überzeugend und absolut zeitgemäß. Auch wenn Pentheus sich ein wenig zu weit vorwagt in Richtung einer autoritären Unterdrückung der individuellen Freiheit: Das Verhalten derer, die unter der Herrschaft von Dionysos stehen, könnte von kaum einem politischen Führer toleriert werden, egal wie liberal, und von kaum einem Moralisten gebilligt werden, der nicht Besitzer eines SM-Clubs ist. Denn die Opfer von Dionysos verletzen einander und sich selbst ohne Unterlass.
Auch auf sprachlicher und schauspielerischer Ebene tun sie dies: Die Monologe in „Mount Olympus“ (Dialoge im engeren Sinne sind selten) bewahren zwar den erhabenen Ton der klassischen Tragödie, weisen aber eine prägnante, sachliche Diktion und eine realpolitische Sensibilität auf, die im 21. Jahrhundert zu Hause sind. Eine weitere von Fabres subtilen Interpolationen in dieser Rede des Pentheus ist der Satz: „Manchmal erfordert die Freiheit einen Polizisten an jeder Ecke, um die Menschen vor sich selbst zu schützen.“ Damit ist alles gesagt. Es fehlt nicht mal die Prise bissigen euripideischen Humors.
Ähnlich verfährt Fabre mit allen Figuren des griechischen Dramas, die im Verlauf von „Mount Olympus“ auftauchen. Die Helden werden ihres Anspruchs auf moralische Überlegenheit oder edler Absicht beraubt, die sie in allen Stücken von Aischylos und Sophokles noch haben, aber auch ihrer Feigheit und Heuchelei, mit denen Euripides sie überzogen hat. Wir haben es mit rohen, nackten Helden zu tun, die vergewaltigen, töten und ihre eigene Gesundheit opfern in einem monomanischen Streben nach Ehre und Befriedigung, das nur durch andere Helden oder ihre eigene Sterblichkeit gebremst wird. Wir können nicht anders, als Mitgefühl für Männer wie Ajax zu empfinden, die schreckliche „Verbrechen“ begangen und sich selbst ruiniert haben, während oder nachdem sie gegen unsere Feinde gekämpft haben. Wir wünschen uns vielleicht, dass sie unsere Feinde besiegen, um dann zu lernen, die von Sokrates oder Jesus Christus gepredigten Werte der Zurückhaltung, Demut und Vergebung zu praktizieren. Aber wir erkennen: Ajax tötet unsere Feinde für uns und erwartet im Gegenzug nichts als Ehre und Gehorsam. Sokrates lässt sich lieber töten, als gegen seine Werte zu verstoßen. Das lässt uns allein, wenn wir nicht mit ihm als Märtyrer sterben wollen. Sokrates erwartet von jedem von uns, dass er im Angesicht des Todes so tapfer ist wie Sokrates. Nur wenige von uns sind es.