Louise Lecavalier und die vier Elemente

in "danses vagabondes"

François Blouin

Den Namen Louise Lecavalier auch nur zu erwähnen, ruft unauslöschliche, angenehme Bilder in Erinnerung: Bilder ihrer 20-jährige Karriere mit der in Montreal ansässigen Kompanie La La La Human Steps etwa, die die Bühnen auf der ganzen Welt in den schwindelerregender 1980er Jahren eroberte

Schriftstellerin, Dozentin, Biografin aus Montreal

Louise Lecavalier mit Rick Tija, 1995

La La La Human Steps

Louise Lecavalier hob Männer in die Luft, flog selbst durch die Luft, ließ den Boden beben, den Boden zu einem Trampolin werden und projizierte uns und alle in den Weltraum. Sie war Punk. Sie war muskulös. Sie war ein Er. Sie trug Turnschuhe, ein schwarzes Tutu, besprühtes Elasthan. Ihr gebleichtes Haar flog.

1993

André Cornellier

Ihr Tanz forderte die anerkannten Kategorien heraus und erzeugte eine Spannung, die ein internationales Publikum anzog. Es gab Vergleiche mit historischen Ikonen wie Anna Pawlowa und Isadora Duncan. Ihre Geschichte hätte hier enden können, mit Ruhm als Endpunkt oder mit dem langsamen Ausklingen ihrer Karriere oder einem heldenhaften Abgang – aufgrund einer Verletzung oder den kurzsichtigen Anforderungen einer Sparte, die die Jugend gern der Erfahrung vorzieht.

heute

Massimo Chiaradia

Aber nein. Niemals. Nicht. Mit inzwischen 66 Jahren erfindet Lecavalier den Tanz noch immer neu. Nichts davon ist etwas für schwache Nerven: körperlich anstrengend, zeitlich intensiv und eine Kampfansage an den Status quo und die Erwartungen des Fachs. Warum Tanz machen? Wie und für wen? Während sich die Sparte dem „Konzept-Tanz“ und einer Kritik an der Technik zuwandte, folgt Lecavalier ihrem eigenen Weg: sich bewegen und vor allem – sich anders bewegen.

in “danses vagabondes”

François Blouin

Nun kommt sie mit einer neuen Produktion, „danses vagabondes“, für ihre in Montreal ansässige Produktionsfirma Fou Glorieux, erst ins Tanzhaus NRW nach Düsseldorf, dann nach Hellerau in Dresden. Diese Aufführungen sind eine Demonstration ihrer radikalen Ausdruckskraft, inspiriert vom Unkodifizierten und der Umgangssprache. Ja, beides existiert auch im Tanz.

Dass sie eine Choreografin werden würde, war nie ausgemacht. Ein erster Versuch aus dem Jahr 1981, „Non Non Non je ne suis pas Mary Poppins“, weckte nicht gleich den Wunsch nach mehr (sie fand das Choreografieren zu anstrengend). Vielmehr nahm die Möglichkeit, mit La La La Human Steps zu arbeiten, ihre Karriere als Tänzerin restlos in Beschlag. Erst seit Anfang der 2010er Jahre hat sie sich wieder als Choreografin betätigt, ihre Karriere erweitert, ihren Bewegungsradius, aus eigenem Antrieb, aus eigenem Interesse, entlang ihrer Fähigkeiten und ihrer Lebenszeit. Und dies in einer professionellen Produktionsweise, die es ihr nach Jahren bei den Mammutprojekten von La La La Human Steps ermöglichte, ihre eigene Vision zu entwickeln und diese auch frei und unabhängig zu vertreiben.

“Stations”

André Cornellier

Werke wie „So Blue“ (2012), „Milles batailles“ (2016) und „Stations“ (2020) sowie in Kooperationen wie „Delusional World“ (2023) mit dem Medienkünstler Lu Yang markieren den roten Faden bei Lecavalier: kraftvoller Tanz, bei dem die Erzeugung von Bewegung unsere Wahrnehmung der Körperkonturen ernsthaft herausfordert. Wie kam sie dahin?

“Battleground”

André Cornellier

Air (Off-axis)

Ein Rückblick auf ihre Zeit bei La La La Human Steps erinnert an die Do-It-Yourself-Energie Montreals in den 1980er Jahren, an eine Stadt in den Fängen der Deindustrialisierung, die sich in Richtung einer neoliberalen Wirtschaft bewegte, ohne ihr ernsthaft huldigen zu wollen. Eine Stadt voller leerstehender Lagerhäuser, lebhafter Clubs, günstiger Mieten und der kulturellen Energie, wie sie nur eine unabhängig-eigenständige Politik hervorbringen kann.

Èdouard Lock

Carl Lessard

Mit Édouard Lock an der Spitze befreite die Kompanie La La La Human Steps den Tanz von den disziplinären Grenzen und Üblichkeiten des Theatertanzes. Eine einzigartige Gruppe von Menschen probte stundenlang, um ein neues Bewegungsvokabular zu entwickeln, und trat in den Clubs und Galerien in der Stadt auf, in denen Tanz bislang keine Rolle gespielt hat.

Lock und Lecavalier

André Cornellier

Mit einer aufsehenerregenden Kombination aus ungestümer Athletik und einer rabiaten Neuerfindung des gestischen Vokabulars, Hals über Kopf, mit Haut und Haar, der Verwendung von Montage und Medieneffekten als strukturierende Prinzipien bot La La La Human Steps eine neue Vision dessen, was Tanz auch sein könnte.

1995

La La La Human Steps

Und Louise Lecavalier war der Mittelpunkt. Die Kompanie, die von Édouard Lock und den Performern Louis Guillemette, Michel Lemieux und Myriam Moutillet und später mit Marc Béland und Claude Godin gegründet wurde, sollte eine ganze Generation von Kunstschaffenden beeinflussen, darunter auch Wim Vandekeybus und die Neue Flämische Welle. Lecavaliers Beitrag war ihre beeindruckende Athletik und Muskulatur, die es ihr ermöglichte, spektakuläre Luftsprünge hinzulegen, die innerhalb der Kompanie als off-axis bezeichnet wurden. Während in der Vergangenheit der Körper der Tänzerin darauf abzielte, dem Körper zu untersagen, jede Form von Anstrengung oder Arbeit erkennen zu lassen, tat sie das Gegenteil. Sie überarbeitete den Körpers en aire – akrobatisch, getrieben und bodenständig. Sie begeisterte und stellte wie nebenbei auch die Muster der Geschlechterrollen im westlichen Theatertanz der 1980er-Jahre gründlich in Frage.

Die Umgestaltung der vertikalen Pirouette in den horizontalen Fass-Sprung ist vielleicht ihr ikonischster Beitrag, der in den Änfangen kollektiv geschmiedet wurde, aber durch Lecavaliers athletische Fähigkeiten an keine Grenzen stoßen wollten – auch dank ihrer ungewöhnlichen Arbeitsmoral, die nach allem, was man hört, manchmal auch übertrieben gewesen sei. Auch der Kritik war damals gar nicht wohl. Sie fragte sich, ob es sich bei La La La Human Steps überhaupt noch um Tanz handele. Und machte sich Sorgen über das, was sie als potenziellen Masochismus betrachtete.

1995

La La La Human Steps

Louise Lecavalier war ihnen in ihrer Athletik überdies zu „männlich“. Dabei hat sie immer nur auf ihre Entscheidungsfreiheit und Kontrolle gepocht. Beides wurde durch Training und Technik möglich. Bei einem Vortrag in Montreal schüttelte Lecavalier den Kopf über diese Risiko-Wahrnehmung in ihrer Arbeit. „Ich bin nicht wagemutig, wirklich nicht. Im Leben gibt es Dinge, die mir viel mehr Angst machen als der Tanz … wie Gewalt und … Krieg. Aber wenn man so viel trainiert und so locker ist, landet man nicht so hart und außerdem bin ich immer nur von meiner eigenen Höhe aus gefallen …“

“So Blue”

Ursula Kaufmann

Es wurde damals viel über ihren Tanz diskutiert. Sie hatte eine starke Fangemeinde, die Presse berichtete und die Wissenschaften diskutierten das Feministische, das Artistische, das Auratische bei ihr. Die Kritik spekulierte, ob Louise Lecavaliers kraftvollen Bewegungen „gut“ für Frauen seien oder einfach zu extrem, oder nur ein weiteres Modell verkörperter Perfektion? Das Ensemble und Lecavalier tanzten weiter, trotzten den überkommenen Werten und den starren Gegensätzen von Choreografie und Tanz, Künstler und Muse, Mann und Frau.

Das Risiko war für sie kein Selbstzweck, sondern die Suche nach dem, was sein könnte, der Wunsch nach dem Porträt eines ausufernden Körpers. Dieser Wunsch gilt bei ihr auch heute noch. Wenn Lecavalier über ihren Ansatz zur Choreografie spricht, dann so:

„Wir glauben, dass wir unseren Körper kennen, dass wir ihn auf der Bühne kennen, aber wir kennen ihn gar nicht gut. Wenn alles, was man macht, bereits erkennbar ist, lässt uns das in der Überzeugung verharren, dass wir immer schon genau wissen, was wir sind, dass der Körper genau das ist und nicht doch etwas sehr viel Komplexeres. Ich denke, dass wir uns darüber hinwegsetzen können. Der Körper hat nicht so viele Grenzen …“

“Der Himmel über Berlin” (1987)

Wim Wenders Stiftung

Das klingt ein wenig wie eine Szene aus einem Film von Wim Wenders jener Jahre, „Im Lauf der Zeit“, der auch von dem besonderen Moment der Wahrnehmung in einem Zug handelt:

„Ich erinnere mich, dass ich als junge Tänzerin dachte, die Bewegung strömt aus mir heraus. Es ist nicht nur so, dass ich etwas im Raum erschaffe und es hier am Ende meines Körpers aufhört oder dass es hier mit mir endet ((zeigt auf die Grenzen ihrer Hände)).

Ich glaubte: Es muss größer sein als das. Ich erinnere mich, dass ich in der U-Bahn saß und dachte, dass es vielleicht keine Trennung zwischen einer anderen Person und mir gibt, dass es vielleicht nur meine einfache Art ist, die Dinge zu sehen, die mich annehmen lässt, dass wir getrennt sind und Luft nichts ist. Aber Luft ist etwas. Und sie verbindet uns. Also wollte ich immer das tun. Tänzer lieben es, das zu tun: den Körper erweitern, den Körper noch weiter zu erweitern … ich wollte einen anderen Körper finden.“

“I Is Memory”

Angelo Barsetti

Earth (Wir können Helden sein)

Eine entscheidende Wende in Louise Lecavaliers Arbeit kam kurz nach ihrem Ausscheiden bei La La La Human Steps. Nach der Geburt ihrer Zwillinge – ihrer Töchter Romy und Jeanne, die heute Studentinnen in ihren Zwanzigern sind – kehrte sie mit neuer Energie und Konzentration zum Tanz zurück. Lecavalier führt dies teils auf die Freude an der Freiheit ihrer Töchter zurück, aber auch auf ein neues Gefühl von Effizienz, das angesichts der zeitlichen Verpflichtungen, die die Erziehung von Kindern so mit sich bringt, unerlässlich ist.

Benoît Lachambre

Michael Slobodian

In den frühen 2000er Jahren arbeitete sie mit einer ganzen Reihe von namhaften Tanzkunstschaffenden, darunter mit Crystal Pite, Nigel Charnock und, vielleicht am wichtigsten, mit Benoît Lachambre. Die Begegnung mit Lachambre, ihre gemeinsamen Stücke „I is memory“ (2006) und „Is You Me“ (2008), gaben den entscheidenden Anstoß, weiter choreografieren zu wollen. Diese beiden Werke zeichnen sich aus durch Lachambres geradezu charakteristische Aufmerksamkeit auf den ganzen Körper und durch seine Offenheit für schrullige, höchst individuelle Bewegungen.

“Is You Me”

André Cornelier

In „Is You Me“ tanzten Lecavalier und Lachambre zusammen in schlichter Sportkleidung, Trainingshosen und Pullovern, Hoodies, deren Kapuzen tief ins Gesicht gezogen waren, als wollten die beiden ihre Identität maskieren. Das gestische Vokabular war bewusst klein gewählt: Mikrogesten, Stöße und Zuckungen, ungewöhnliche Konfigurationen und Formen. Ich erinnere mich an eine detaillierte Choreografie für das Gesicht, bei der Lecavaliers plötzliches, stummes Keuchen und der schreiende, geöffnete Mund der typischen, ausdruckslosen Pose des zeitgenössischen Tanzes eine Abfuhr erteilte. Vielleicht mehr als alles andere beinhaltete diese Zusammenarbeit mit Lachambre eine kreative Partnerschaft, die von Lecavalier auch verlangte, sich stärker auf sich selbst zu verlassen, um neues Material zu generieren. An diese Veränderung erinnert sie sich:

„Da ich in der Vergangenheit mit jemandem zusammengearbeitet hatte, der ein so spezifisches Handwerk und Talent besaß, mit Édouard Lock, wusste ich, dass ich nicht in diese Richtung gehen konnte. Ich dachte, ich muss einen anderen Weg finden, um etwas zu schaffen, und ich fand ihn durch Improvisation.“

“Is You Me”

André Cornelier

Als sie das Solo mit Lachambre entwicklete, betrieben sie die Verfremdung des realen Körpers – um einen Körper außerhalb des Gewöhnlichen und der Normen zu finden, der dennoch sehr reell und erdgebunden wirkt.

„Als Zuschauende wollen wir, glaube ich, immer überrascht werden, wir wollen uns immer anders sehen … und ich denke, es ist gut, uns anders zu sehen, um die Vorstellungskraft zu erweitern und ein Gefühl dafür zu bekommen, was außerdem noch sein kann. Mit ‘I Is Memory’ wollte ich auf der Erde ankommen – das war ein Teil der Idee dahinter. Es war nicht die Erinnerung an mich, als ich jung war, es war die Erinnerung an die Erde, an Wesen, an Tiere …“

Man könnte sagen, dass Verfremdung der Kern ihres Anliegens ist, aber es würde Lecavaliers Art verleugnen, den Körper sehr ernsthaft zu untersuchen. Dabei ist wenig zielorientiert. Es sind Versuch und Irrtum und die ausgiebige Zeit im Studio, die Louise Lecavalier sehr allmählich ih neues Vokabular entwickeln ließ, das den Boden und nicht die Luft betont.

“So Blue”

André Cornelier

Es handelt sich um ein Vokabular mit detaillierter Bodenarbeit, die von Wiederholungen angetrieben wird und von Verzerrung, Umkehrung und Illusion. Ich denke an den unvergesslichen, langanhaltenden Schulterstand von „So Blue“, bei dem sich ihre Beine nach oben streckten, weiter streckten, leicht beugten, sich aneinander lehnten – waren es fünf Minuten? Zehn Minuten? Ich weiß es nicht. Das Bild wirkte wie festgesetzt und in die Länge gezogen, bis es schien, dass ihre Beine plötzlich zu Armen wurden, ihre Füße zu zwei Gesichtern und die Konturen des Körpers wie neu gezeichnet wirken.

Wenn westliche Tanzformen in der Vergangenheit nach Illusionen suchten, dann immer solche, die die Anstrengung verborgen haben – wie es wissenschaftlich etwa Susan Leigh Foster, Mark Franko und Felicia McCarren belegen konnten. Dagegen arbeitet Louise Lecavalier mit den Mühen der Dauer, wobei Zeit und Wiederholung als ein Mittel eingesetzt werden, um neue Details zu enthüllen, die Formen zu verfeinern und gerade die menschliche Anstrengung deutlich zu machen. Die Illusion dient bei ihr dazu, einen Körper an der Grenze zu zeigen, einerseits vertraut und doch fremd in seinem Überschreiten von Limitierungen.

“Children”

André Cornelier

Water (In dem das Tanzen eine Ausführung ist)

Alle Tanzenden arbeiten hart daran, bei der Aufführung einen Zustand der Leichtigkeit zu erreichen, und Louise Lecavalier mag hier dennoch beispielhaft sein. In vielen Interviews bezeugen Lecavalier und ihre Mitstreitenden die Ernsthaftigkeit dieses Ansatzes. Ihre Arbeitsmoral im Studio ist legendär, auch wenn sie eher von der Suche nach Erkenntnissen als von schweißtreibender Arbeit um des Schweißes selbst willen getrieben ist. Lecavalier motiviert es, mehr über das Tanzen und die Möglichkeiten des Körpers zu erfahren, um dorthin zu gelangen, wo die Wandelbarkeit des Körpers als Instrument sowohl wie eine Bedrohung wirkt als auch eine Chance darstellt. Louise Lecavalier beschreibt ihre Nervosität vor der Show eher als Energie, denn als Angst: „Ich probe viel, bevor ich auf die Bühne gehe. Ich kenne die Arbeit und kann daher ein paar Risiken eingehen, weil die Arbeit so sehr in meinem Körper steckt, dass ich in gewisser Weise frei damit umgehen kann.“

Einerseits können die Technik und die Arbeit, sie zu finden und zu bewahren, problematisch sein – man denke nur an die Geschichte des Balletts als eine aufgezwungene Technik, die von westlichen Kolonialmächten geschaffen wurde und die gleichzeitig hierarchisch und disziplinierend wirkt. Lecavalier erinnert sich, dass sie sich in jungen Jahren genau gegen diese Rahmenbedingungen gewehrt hat:

„Vor La La La, als ich gerade erst anfing, störte mich die Routine: Man probt zwei Stunden lang, dann isst man zu Mittag und macht dann das Nächste. Es war alles vorgegeben … das passte nicht zu mir. Wir standen unter der Leitung von jemand anderem, der den Unterricht ((und den Tag)) für uns organisierte … es war, als wären wir kleine Kinder. Es funktionierte nicht, wir mussten unseren eigenen Diskurs finden … und unseren Weg selbst finden.“

La La La Human Steps

La La La Human Steps

In den 1970er Jahren fühlte sich Lecavalier besonders von der Kunstwelt und ihrer interdisziplinären Mischung von Kunstschaffenden angezogen. In Montreal kulminierte sie zu jener Zeit in der Kompanie Nouvelle Aire. Institutionelle Strukturen, das disziplinierte Verhalten und all die anderen Insignien der Tanzwelt waren für sie weniger wichtig als den Tanz endlich mal als eine Kunst des Wissens und des Nichtwissens zu begreifen – damals eine Neuentdeckung und eine neue Lebensart zugleich.

Massimo Chiaradia

Diesen Fokus hat sie noch immer. Louise Lecavaliers Arbeit besteht weiterhin auf eine unabhängige Forschung im und durch den Tanz: An den meisten Tagen nimmt sie an irgendeiner Art von Kurs teil, trainiert, um ihre Kraft und Ausdauer zu erhalten, und sie verbringt ihre Zeit im Studio, tanzend. Eng arbeitet sie mit ihrer langjährigen Probenleiterin Françe Bruyère zusammen. Diese tägliche Anstrengung formt ihre Technik, sie ist eine erworbene Fähigkeit – sie ermöglicht eine hohe Geschwindigkeit bei der Ausführung ebenso wie die Präzision in der Formfindung. Und sie erweitert den Raum für weitere Erkundungen. All das erinnert daran, dass die Entwicklung von Kunst und Ideen Zeit braucht, gerade, wenn man mitdenkt, wie sich die Welt in Richtung Künstliche Intelligenz und des Outsourcing von Gedanken bewegt. Die Arbeit an sich (selbst) ist wichtig, und ganz sicher ein großer Faktor für ihre Bühnenpräsenz. Sie sagt:

“Lone Epic”

Dieter Hartwig

„Wenn man an seine Grenzen geht, an die Grenzen der eigenen Intelligenz, dann gewinnt man etwas. Man gewinnt etwas, vielleicht gewinnt man auch etwas zurück … Ich gehe jeden Tag ins Studio und habe nichts wirklich erreicht. Es ist nicht so, dass ich etwas getan habe und es ist vorbei. Nein. Es ist nie vorbei, ich muss es wieder tun.“

Für Lecavalier bleibt der Tanz ein Fragezeichen – als ein Raum, der sich auftut bei der Erkundung von Geschichte und den Fähigkeiten, ein Raum, der die grenzüberschreitende Wandelbarkeit von Körpern in der Bewegung ermöglicht, bei der man einiges verliert, anderes gewinnt. Wenn ihr Tanz wie Wasser ist, bezieht sich dieser Vergleich auf die hart erarbeitete Fluidität ihrer Bewegung wie auch darauf zu akzeptieren, dass Transformation und Veränderung normal sind:

“Lone Epic”

Jens Knappe

Ich verbringe viel Zeit mit Nachdenken, und manchmal ist Nicht-Denken auch Denken … Ich gehe einfach spazieren und die Ideen kommen … Wenn ich ein neues Stück mache, habe ich gelernt, mich nicht zu stressen, nicht zu ordentlich zu sein. Ich lebe im Chaos und ich akzeptiere das Chaos; mein Leben ist Chaos und es ist ein großartiges Chaos. Und die Choreografie entsteht aus diesem Chaos – aber ich investiere dazu Stunden, wirklich physische Stunden, im Studio.“

“Stations”

Dieter Wuschanski

Fire (Sie brennt)

Louise Lecavalier ist heute in Bestform und sie hat Spaß an der Sache. Sie nimmt sich die Zeit, die sie braucht, um neue Werke zu schaffen, und gleicht ihre eigenen Projekte durch die Kooperation mit anderen aus, die ihr vom Choreografieren eine Atempause verschaffen und ihr als Darstellerin auch neue Perspektiven eröffnen. Ihre größte Angst ist es, eine Show absagen zu müssen:

„Das ist wirklich das, was ich am meisten hasse, es ist der härteste Druck, mit dem man leben muss, wenn man etwas verspricht, wenn man sagt: ‘Ich werde auftreten’ … Es ist ein Versprechen, das man den Leuten gibt, die einen gebucht haben … sie haben wegen dir nicht jemand anderen gebucht … Ich möchte also niemanden enttäuschen, ich möchte die technische Crew nicht enttäuschen, damit kann ich wirklich nicht leben … Wenn ich alleine arbeite, ist es günstig, ich koste nicht viel, und ich möchte kein großes Geld voim Staat. Wenn dann etwas passiert, wird die Auswirkung minimal sein.“

“Stations”

Katja Illner

Ihr Bewusstsein für die Unwägbarkeiten des Körpers findet Anklang bei den Fans, die ihr still im Dunkeln zuschauen. Das kraftvolle und zerbrechliche Wesen des tanzenden Körpers zu betrachten, ist und bleibt das größte Geschenk dieser Kunstform. In einer gefährlichen, von Kriegen zerrissenen Welt, in der sich die digitalen Sphären ausdehnen und Meta und Instagram mehr Einfluss zu haben scheinen als das gelebte Leben, führt uns Lecavalier an einen tiefgründigen Ort zurück: den des lebendigen Körpers, dessen Energie sich vollständig hingibt – ohne von den bekannten Konflikten oder einer kapitalistischen Logik behelligt zu werden.

“Lula and the sailor” mit Tedd Robinson

André Cornellier

Lecavaliers choreografische Wendung ist in gewisser Weise ein Modell im Maßstab des 21. Jahrhunderts: kompakte Produktionswerte, intime Soli oder Duette, Mikrogesten, schmale Gesten, unkodifizierte Gesten. Ihr Weg fühlt sich nachhaltig an, ein kultureller Spiegel vielleicht für die Bedürfnisse dieser Tage. Doch so bescheiden der Maßstab ist, ihre Energie ist riesig. Seit ihrem Debüt „So Blue“ hat sie in der Regel strenge, 60-minütige Tänze geschaffen, die sie allein oder mit einem Partner aufführt, voller erstaunlicher Leistungen, voll kinästhetischer Energie und überraschender Bewegungen mit scharfen Details. Es ist aufregend, so eine Künstlerin zu erleben, die noch immer auf der Suche ist, jenseits der frühen Jahre, in denen Widerstand nachgerade erwartet worden ist und Rebellion als die Norm gilt. Am meisten in Erinnerung bleibt der Nervenkitzel ihres Tanzens. Tanzen als Selbsthingabe, reine Verschwendung und kritische Botschaft. Was bedeutet es, am Leben zu sein?, scheint ihre Arbeit zu fragen. Und was bedeutet es, das Leben so hart anzugehen?

mit Robert Abubo in “Battleground”

Katja Illner

„Ich spiele gerne mit den Extremen, aber … ich möchte nicht missverstanden werden. Ich bin nicht gewalttätig, aber ich bin auch nicht dieses kleine Mädchen … Wir Menschen sind innerlich groß, mit vielen Geschichten, mit vielen Ängsten, vielen Hoffnungen, und ein Tanz muss das für mich widerspiegeln. Jedes Mal, wenn ich ins Studio gehe, bin ich voller Feuer. Selbst wenn ich in der Luft tanzen möchte, dann mit Feuer.“

 

Die Rezension von Rico Stehfest zu “danses vagabondes” von Louise Lecavalier findet sich hier.

MJ Thompsons Buch

Louise Lecavalier

Dance, Labour, Culture (bei Bloomsbury)
erscheint im Frühjahr 2025