Die Schatten von Windhoek

Grand Jeté vor der Christuskirche in Windhoek

Willem Frey

Tausende kommen jährlich nach Namibia. Sie wollen Wüste, Weite, Wildnis. Windhoek ist für sie immer die erste Station. Hier spricht man deutsch. Überall ist Kolonialgeschichte sichtbar: Für die hiesige Tanzszene ist sie das ganz große Thema. Ein Porträt in fünf Steckbriefen.

Journalistin aus Windhoek

Yolanda Gutiérrez

Igor Tkachuk

Yolanda Gutiérrez hat schon viele afrikanische Städte betreten, von Dar es Salaam in Tansania über Kigali in Ruanda – beide gehörten zur einstigen Kolonie Deutsch-Ostafrika –, bis nach Windhoek in Namibia. Mit ihrem choreografischen Projekt „Decolonycities“ bewegt sie sich stets auf dem Boden der kolonialen Vergangenheit Deutschlands. Sie zeichnet die Schiffs- und heute die Fluglinien nach, die seit 1994, seit Gründung der Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft und der Gründung eines „Schutzgebiets“ Deutsch-Südwestafrika, nach Afrika führten, um sogenannten Lebensraum zu finden.

In Namibia trifft Yolanda Gutiérrez eine Gruppe von drei heimischen Tänzer:innen: Justina Andreas, Faizel Browny, West Uarije sowie die bildende Künstlerin Vitjitua Ndjiharine.

Deutsche vor “ihrem” Hansa-Hotel in Swakopmund

National Library of Namibia

Historische Stätten in Namibia zeugen noch heute vom deutschen Kolonialkrieg zwischen 1904 und 1908. Ihre erste gemeinsame Choreografie findet im Museum Alte Feste in Windhoek statt, der ehemaligen Militäranlage der deutschen Armee, die später auch als Konzentrationslager diente. Die Körper der Tänzerinnen und Tänzer imitierten Rinder, die sich im Gleichschritt mit schwingenden Hörnern übers Land bewegen. Es ist ein zeremonieller Outjina/Omuhiva-Tanz des Ovaherero-Volks, eines namibischen Stamms, der, wie die Nama, während der Kolonialzeit durch den deutschen Völkermord nahezu ausgerottet wurde.

Der Südwester Reiter vor der Alten Feste in Windhoek

Villem Frey

Die Tänze strahlen eine Lebendigkeit aus, die an der Statik des ungeliebten Reiterdenkmals abprallt, das über ihnen thront und die Statue nur noch monströser erscheinen lässt – obwohl dieses Monument längst aus der Öffentlichkeit verbannt ist. Im Dezember 2013 wurde es im Schutz der Dunkelheit von namibischen Strafverfolgungsbehörden entfernt. Heute steht das Denkmal im Innenhof des Museums Alte Feste. Es wurde „gerettet“, weil einige Historiker die Ansicht vertreten, auch die deutsche Gemeinschaft in Namibia habe ein Recht auf einen Platz im Kulturerbe des Landes. Entfernt wurde die Statue trotzdem. Die direkten Nachfahr:innen der im Völkermord getöteten Nama und Ovaherero sehen in diesem Denkmal nichts als das schmerzhafte Relikt einer sich brutal gegen sie gewandten Vergangenheit.

Yolanda Gutiérrez polarisiert – indem sie Tanz und Krieg aufeinander treffen lässt. Und indem sie die ambivalenten Gefühle hinterfragt, die von kolonialen Statuen und Denkmälern hervorgerufen werden.

Die Absicht der Choreografin: Sie will den Weg für Geschichten ebnen,  überlagert von Erfahrungen der Unterdrückung und des Kriegs. Die Performance wird sich später in Deutschland noch einmal wiederholen, bei den Nachkommen der Täter im Baakenhafen, jenem Teil des Hamburger Hafens, von dem aus die deutschen Truppen einst nach Namibia aufgebrochen sind.

Windhoek und Hamburg haben eine gemeinsame Vergangenheit. Die Handelsgesellschaften, die während des deutschen Kolonialkriegs vor dem Ersten Weltkrieg vom Hamburger Hafen aus operierten, haben nicht nur geschäftliche Spuren in Namibia hinterlassen.

Für die Hamburger Kaufleute bildeten so genannte Kolonialwaren und ihr Schiffsanteile an den deutschen Reedereien eine einträgliche Geschäftsgrundlage. Von 1884 bis 1915 war das Deutsche Reich die Kolonialmacht in Namibia und schlug während dieser Zeit zwei Volksaufstände der Herero und der Nama nieder. Hamburg bildete während des Völkermords an der namibischen Bevölkerung die logistische Drehscheibe für den militärischen Nachschub. So profitierten vom deutschen Kolonialismus Unternehmen wie die Hamburger Reederei Woermann. Während des Herero- und Nama-Aufstands transportierte die Woermann-Linie Tausende von Soldaten und Tonnen von Kriegsmaterial in die Kolonie. Ab 1905 unterhielt die Reederei auch ein eigenes Konzentrationslager in Namibia. Seinen Hauptsitz hat das Unternehmen in Hamburg im denkmalgeschützten Afrikahaus. Noch heute.

Kaufleute, die in die von Deutschland annektierte Kolonien kamen, erzielten ihre Gewinne, indem sie mitunter eng verbunden waren mit dem damaligen Reichskanzler des Deutschen Reichs, Otto von Bismarck. Sein Denkmal steht noch heute unübersehbar im Alten Elbpark in Hamburg. Auch dieses werden die Tänzer:innen später als einen ihrer Auftrittsorte wählen.

Yolanda Gutiérrez ist Hamburgerin mit mexikanischer Herkunft. Dekolonisierung sei für sie die Fähigkeit, diese Ereignisse aus einer nicht-europäischen, nicht-westlichen Perspektive zu betrachten und zu reflektieren. So sollen neue und andere Narrative entstehen. Ihr Projekt „Decolonycities“ fülle „Lücken in unserer eigenen Geschichte mit einer anderen Sichtweise auf die Stadt“, sagt sie und hoffe, mit „Decolonycities“ durch performative, tänzerische Interventionen „in Kombination mit Audiowalks eine multiperspektivische Sichtweise im urbanen Raum zu etablieren“, um so die immer noch vorhandenen Spuren des Kolonialismus mit Hilfe eigener biografischer Erzählungen zu kontrastieren.

Im Jahr 2021 gründete Gutiérrez die Plattform „Shape the Future“, auf der sie diese Projekte auch im digitalen Raum präsentiert. Denn: Die permanente Reproduktion kolonialer Klischees und eurozentrischer Perspektiven in Politik, Medien, Kultur und Wissenschaft zeige, so Gutiérrez, dass der Dekolonisierungsprozess noch lange nicht abgeschlossen ist: „Es geht darum, mit Begriffen zu brechen, die behindern, einschränken und reduzieren, Begriffe, die einen auf die Defizite der eigenen Realität festlegen.“ Unterentwickelt, arm, illegal, das sind nur einige dieser Zuschreibungen; „Es geht vor allem darum, nicht mehr als Opfer zu erscheinen, sondern als Subjekt der eigenen Geschichte“, zitiert sie den senegalesischen Musiker Felwine Sarr.

An einem winterlichen Sonntagnachmittag zieht die namibische Tänzerin Justina Andreas die Blicke der vorbeiziehender Tourist:innen auf sich. Sie wandern den Hügel zur Christuskirche in Windhoek hinauf und sehen fasziniert zu, wie die Künstlerin immer mal wieder in die Luft springt.

Die Fremden bewegen sich vorsichtig um sie herum, grüßen freundlich. Später, auf einem gefällten Baumstumpf sitzend, sieht die Ballerina aus wie eine lebensgroße Puppe, bereit, sich aufzuziehen und für ihr neu gewonnenes Publikum zu wirbeln. Es ist eine Probe für das Projekt „Decolonycities“ in Hamburg.

Willem Vrey

Justina Andreas, deren Bewegungen eine Leichtigkeit und Athletik ausstrahlen, wie man sie nur durch jahrelanges Balletttraining erreichen kann, ist in der namibischen Kunstszene keine Unbekannte. Sie war und ist an zahlreichen Aufführungen am Nationaltheater von Namibia beteiligt.

„Ich habe mit dem Tanzen begonnen, als ich etwa sechs oder sieben Jahre alt war. Ich lernte Ballett am College of the Arts und erweiterte nach vier Jahren meinen Horizont um den modernen und zeitgenössischen Tanz. Im Alter von 18 Jahren bekam ich erste Auftritte im Nationaltheater“, erzählt sie. Derzeit arbeitet sie als Tanzlehrerin an einer Tanzakademie namens Dance Mouse. Im Vollzeitjob. Eine rar gesäte Chance in der hiesigen Tanzszene.

„Es gibt viele Tanztalente in Namibia. Der Bereich ist gewachsen, aber es gibt für Tänzer:innen nur sehr wenig Unterstützung und Auftrittsmöglichkeiten“, sagt sie. Doch sei sie stolz auf die Namibier:innen, die sich, wie sie, in der lokalen Tanzszene einen Namen gemacht haben. Angesprochen auf das Projekt „Decolonycities“, meint sie, es sei für sie ein Prozess der Erweiterung ihrer individuellen Identität und verbessere ihr Verständnis für die Vergangenheit. Sie interessiere es, wie sich Vergangenheit und Identität gegenseitig beeinflussen und hofft auch, nach ihrer Reise nach Hamburg aus Deutschland mit neuem Wissen über den Tanz zurückzukehren. Auch, um ihre eigene Karriere zu beflügeln.

„Decolonycities“ ist nicht das erste choreografische Projekt, das die alten koloniale Strukturen mittels Tanz hinterfragt. Sie war zuvor an einem Stück namens „The Mourning Citizen“ (Trauerende Bürger:innen) beteiligt, das die namibische Choreografin Trixie Munyama 2019 schuf. Auch da ging es um die Kolonialgeschichte Namibias, um die Zeit, in der Tausende von Ovaherero mit einem übermächtigen Heer konfrontiert waren und von deutschen Soldaten in der Wüste geschickt wurden. Sie starben schutzlos: an Durst, Hunger und Typhus.

In „The Mourning Citizen“ ging es darum, dass Trauer ein körperlicher Prozess sei, der ganz real gefühlt wird. Durch Tanz sei man in der Lage, dieses Gefühl zu verarbeiten und zu lernen, das Trauer eine subjektive Erfahrung sei: „Für mich geht es beim Tanz darum, mit dem eigenen Körper eine Geschichte zu erzählen, mit einer Sprache, die alle verstehen und sie doch frei interpretieren können“, sagt Justina Andreas.

Mit Faizel Browny

Willem Vrey

Die Choreografin Trixie Munyama und ihr Da-Mai Dance Ensemble nahm die zahlreichen Trauerhandlungen und -rituale in den namibischen Kulturen auf, um – oft in von den Städten weit entfernten Räumen der Wüste – Heilung von den postkolonialen Traumata zu finden. Dafür gibt es keine Repräsentation durch die Politik, kein Ministerium für Trauer und auch keins für wiederherzustellende Gerechtigkeit.

„Die Szenen, die wir in dem Stück ‘The Mourning Citizen’ zeigten, die Reinigungsrituale und die Musik, mit denen der Verstorbenen gedacht wird, sollten symbolisch die Möglichkeiten aufzeigen, mit den psychologischen Folgen der kolonialen Vergangenheit umgehen zu können. Solche traditionellen Rituale sind in vielen afrikanischen Kulturen ein sehr wichtiger Bestandteil. Gerade junge Menschen haben aber Angst vor alten Traditionen. Das Christentum hat sie uns abtrainiert; nun leiden wir unter Afrophobie”, so Trixie Munyama.

Justina Andreas

Willem Vrey

West Uarije

Willem Vrey

Als Nachkomme des Ova-Himbavolkes, eines der ältesten Stämme Namibias, begann für Vetunjona West Uarije der Tanz nicht auf einer von Neonlicht beschienenen Bühne im Theater, sondern in jungen Jahren in einem ländlichen Dorf.

Der Künstler stammt aus Otjondeka in Opuwa, einer Siedlung in der namibischen Kunene-Region. Er erzählt von seinen frühesten Erinnerungen, wie er für seine Großmutter traditionelle Tänze neben der sterbenden Glut eines Lagerfeuers aufführte.

„Ich erhielt den Namen Vetunjona, weil er die Reise meiner Familie von Otjimbingwe in die Otjuzondjuba-Region und weiter in der Kunene-Region widerspiegelt“, sagt West.

Willem Vrey

Im späten 19. Jahrhundert bewohnten Herero-Viehhirten das Gebiet südlich des Waterbergs und nutzten die dortigen Weiden für ihr Vieh. Bis 1904, als in der berühmten Schlacht am Waterberg, angeführt von Generalleutnant Lothar von Trotha, die Herero in die fast wasserlose Omaheke-Wüste vertrieben wurden. Von deren wenigen Wasserstellen wurden die Rinder und die Familien strategisch ferngehalten. Von Trotha erließ zudem einen sogenannten Vernichtungsbefehl, rief also zu einem Völkermord auf. Die Überlebenden wurden enteignet, in Konzentrationslager wie jenem von Windhoek gesperrt und zu Zwangsarbeit gezwungen. Überlebt hat etwa nur die Hälfte der Gefangenen.

„Die Flucht aus unserer ursprünglichen Heimat blieb meiner Großmutter immer im Gedächtnis“, erzählt West Uarije. Als ich klein war, war sie manchmal traurig. Dann habe ich für sie Lieder und Tänze aufgeführt. Eigentlich sollte ich auch ein Ovaherero sein, aber ich wurde als Himba erzogen, weil wir ins Himba-Land gezogen sind“, sagt West.

Diese Tänze, die um das Lagerfeuer herum aufgeführt wurden, heißen Omuhiva. Sie beinhalten Gesänge und einen Chor aus summenden Stimmen, die erzählen, was der Stamm erlebt hat. Als Künstler ist er seitdem mit einer ganzen Reihe von Tanzgruppen im Land aufgetreten, auch mit Bullet Ya Kaoko eta, einer Gruppe, die Keyboards und Synthesizer verwendet, um alte Musikgenres, vor allem die Omitandu (Loblieder) des Ovaherero-Volks neu zu bearbeiten.

„Ich habe keine formale Tanzausbildung“, sagt er, aber ich fing 2005 an, professionell für diese Band zu tanzen, die sich auf Oviritje-Musik spezialisiert hat. Später habe ich mich dem First Rain Dance Theatre angeschlossen, das vor allem zeitgenössischen Tanz aufführt. Im Jahr 2015 wechselte ich zum Da-Mai Dance Ensemble unter der Leitung von Trixie Munyama“.

Willem Vrey

Auch für die Kompanie Oyo hat er getanzt, um Geschichten mit den Mitteln des physical theatre zu erzählen, soziale Themen wie Teenagerschwangerschaften und die Stigmatisierung von HIV-Erkrankten.

Seine Tanzkunst entwickelte er so ständig weiter. Er ließ sich weder auf ein afrikanisches noch auf ein westliches Genre beschränken, auch wenn er der Meinung ist, afrikanische Tänze sollten nicht verwässert oder von anderen Tänzern übernommen werden: „Was immer schön ist, sollte nachgeahmt und reproduziert werden, aber ich glaube, die ursprüngliche Bedeutung der Tänze sollte nicht verloren gehen. Zu den afrikanischen Bewegungen gehören Geschichten, und manchmal haben sie eben auch einen heiligen, einen spirituellen Bezug“, so West. `

Als Künstler bei „Decolonycities“ habe dieses Projekt ihm bewusst gemacht, „dass unsere Geschichte kaum bekannt ist. Nicht viele wissen über den namibischen Völkermord Bescheid. Dieses Projekt soll das Bewusstsein dafür auch bei einem internationalen Publikum wecken“. West wünscht sich, die Aufführung von „Decolonycities“ hätte vermehrt auch in Namibia stattfinden sollen, da sie doch vor allem mit den Menschen hier zu tun hat, wo es in Teilen auch immer noch Spuren von Rassismus gibt. „Wir sprechen hier über die Entkolonialisierung. Aber es gibt ein Museum in Tsumeb im Norden Namibias, das Schwarze noch heute nicht betreten dürfen. Was geschehen ist, ist in der Vergangenheit geschehen. Für mich geht es nicht um Kampf oder Feindseligkeit. Ich glaube, dass die Lebenden und die Zurückgebliebenen miteinander eine bessere Geschichte aufbauen sollten“.

„Wir haben um das Reiterdenkmal herum eine Choreografie getanzt. West und ich nutzen dazu den Otjina/Omuhiva, einen zeremoniellen Tanz, der bei Hochzeiten oder Beerdigungen aufgeführt wird und mit Lobpreisungen verbunden ist: das Erbe unseres Volkes. Man spricht dabei entweder über die Geschichte einer Person oder über einen bestimmten Ort. Es kann aber auch eine Lobpreisung auf eine Kuh sein und ihre Verbindung zum Land. Während die Kuh immer weiter zieht, erlebt man die Welt durch ihre Augen. Als wir unsere Hände hoben und tanzten, wurden wir selbst zur Kuh oder verkörperten sie, wie sie sich über das Land bewegt und das Land für sich einfordert. Das ist unsere traditionelle Form der Erinnerung und des kulturellen Wissens“, sagt Vitjitua Ndjiharine.

Das Volk der Ovaherero ist seit jeher als Viehzüchter unterwegs, das großen Wert auf die Zahl ihrer Rinder legen. Sie dient ihnen als Lebensgrundlage und es verwundert nicht, dass die Tiere auch in Elementen wie Tanz und Kleidung der Ovaherero eine Rolle spielen. Ihre traditionelle Kleidung ist mit einem Kopfschorf verziert, der an die Hörner einer Kuh erinnert.

Vitjitua, eine Nachfahrin der Ovaherero, stellt gleich klar, dass sie keine Tänzerin, sondern eine bildende Künstlerin ist.

Vor der Statue des ehemaligen Kolonialherrn

Willem Vrey

„Ich habe am City College of New York studiert, einer Hochschule für freie Künste. Ich habe ein allgemeines Kunststudium absolviert, das Druckgrafik, Malerei, Zeichnung, Skulpturen und Design umfasst. Ich habe auch Grafik- und Webdesign studiert, um meine Kunstprojekte zu finanzieren. Ich bin eine bildende Künstlerin. Mein Hauptmedium ist die Malerei. Ich betreibe künstlerische Forschung, ich arbeite mit Archiven und ethnografischen Sammlungen, Objekten und Fotografien und kreiere um sie herum Geschichten“, sagt sie. Nicht zum ersten Mal arbeitet sie mit Yolanda Gutiérrez zusammen.

„Im letzten Jahr habe ich mit ihr zur Bismarck-Statue in Hamburg gearbeitet, die mitten in der Covid-19-Pandemie für neun Millionen Euro renoviert werden sollte. Wir führten eine Performance und eine Intervention rund um die Statue durch. Das Projekt ‘Decolonycities’ ist nun eine Art Fortsetzung der Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte dieser Stadt, in der sowohl Waren als auch Menschen von und zu den Kolonien transportiert wurden“, sagt Vitjitua. Sie erzählt, dass in Namibia noch immer Straßennamen nach kolonialen Persönlichkeiten benannt sind. Auch die Architektur oder koloniale Gebäude der Zeit sind geblieben. Nur ihre Funktionen sind den heutigen Bedürfnissen angepasst worden.

„Die Alte Feste, die in den späten 1800er Jahren erbaut wurde, repräsentiert die deutsche Kolonialmacht und ihre Konzentrationslager. Im letzten Jahren haben sich lokale Künstler dafür eingesetzt, dass dieses Gebäude in einen Kunstraum umgewandelt wird: als eine Möglichkeit, um unsere Geschichte und den Schmerz an diesem Ort neu zu fassen, anstatt alles einfach zu ignorieren und zu verschließen. Wir wollen die Bedeutung des Gebäudes ändern: von einem militärischen Raum zu einem Raum für die Künste, der alle willkommen heißt“, sagt Vitjitua, die als Kind zwar in der Schule über die namibische Geschichte unterrichtet wurde, nicht jedoch über die Konzentrationslager und die dort geschehenen Gräueltaten.

Vor der Christuskirche

Willem Vrey

Nachdem der Befehl zur Ausrottung, dem Völkermord an den Nama und Herero, wurden die überlebenden Ovaherero und Nama hingerichtet oder in Konzentrationslager geschickt, wo sie umkommen sollten. Die der Luderitzbucht vorgelagerte Haifischinsel war eines der berüchtigtsten Lager während des Krieges von 1904 bis 1908. Die Sterblichkeitsrate lag zwischenzeitlich bei über 90 Prozent.

„Ich habe zum ersten Mal in der Bibliothek meines Vaters in einem Buch mit dem Titel ‘Herero Heroes’ ausführlich über unsere Geschichte erfahren. Es war schockierend, und ich wollte das Thema mit den Mitteln der Kunst weiter erforschen. So kam ich zu diesem Kunstprojekt, das sich auf historische Erzählungen konzentriert. Ich war in den Archiven. Es ist noch vieles da, aber ich glaube, es gibt noch viel mehr zu lernen“, sagt Vitjitua, die hofft, auch der Völkermord an den Nama und Ovaherero werde als Teil der namibischen Geschichte betrachtet.

Vitjitua Ndjiharine

Willem Vrey

Faizel Browny

Willem Vrey

Dance Movement Therapy (DMT) wird von der American Dance Therapy Association definiert als ein psychotherapeutischer Einsatz der Bewegung zur Förderung der emotionalen, sozialen, kognitiven und physischen Integration des Individuums, um seine Gesundheit und sein Wohlbefinden zu verbessern.

Für Faizel Browny ist der Tanz somit eine Zufluchtsort, ein Ort der Freiheit, sowohl persönlich wie auch politisch. Der Mann, zu sehen auf einer Vielzahl von Plakaten für das Projekt „Decolonycities“, ist einer der Gründungs-Choreografen dieses Projekts. Seine Arbeit mit Yolanda Gutiérrez geht ins Jahr 2016 zurück.

Browny ist von Beruf Tanztherapeut und lebt in Hamburg. Er hat deutsche und namibische Wurzeln und kehrte nach Jahren im Ausland zurück nach Namibia. In der Tanztherapie, sagt er, gehe es um Emotionen, die wir im Körper speichern und die uns zeigen, wie wir fühlen.

„Wenn wir ein Trauma erleben, speichern wir die dazugehörigen Emotionen mit ab. In der Tanztherapie erlaube ich der Person, diese Dinge noch einmal zu fühlen und sich nicht länger vor ihnen zu fürchten. Eine Emotion wie Wut wird dann, einfach, weil man nicht wütend sein möchte, in Traurigkeit umgewandelt. So entstehen Emotionen, die man selber nicht mehr versteht. Manchmal wollen wir über Probleme nicht sprechen. Ich glaube: Jede kleine Bewegung hilft dann“, sagt Browny. Patienten betreut er nicht exklusiv, sondern will jedem die Möglichkeit geben, sich mit einer Tanztherapie von solch umgelenkten Emotionen zu befreien.

Willem Vrey

Faizel Browny ist erst wenige Tage wieder in seinem Heimatland. Für den Künstler, den eine enge Freundschaft mit Yolanda Gutiérrez verbindet, ist es eine Reise in die Vergangenheit, zu den Städten  Swakopmund, Walvis Bay und in die Hauptstadt Windhoek.

„Zuerst fuhren wir zur Anlegestelle in Swakopmund und danach zum Woermann-Haus, das für uns der wichtigste Ort war. Ein Einheimischer erzählte uns, dass das Haus früher als Turm genutzt wurde, um sehen zu können, ob Schiffe kommen. Die erhöhte Lage brachte Privilegien mit sich. Nur die aufmerksamsten Kinder durften in der obersten Etage schlafen.“

Auch vor der 1910 eingeweihten Christuskirche, die zum Gedenken an die im Ovaherero- und Nama-Krieg gefallenen deutschen Soldaten errichtet wurde, führte er eine Tanzintervention durch.

Eine ganze Wand der Kirche ist mit einer Gedenktafel versehen, auf der die Namen aller in den namibischen Kolonialkriegen gefallenen Deutschen und Europäer aufgeführt sind – im Gegensatz zu den vielen nicht gekennzeichneten Gräbern für die Ovaherero und Nama an der Küste, die in den Konzentrationslagern starben.

Für Faizel Browny ist das Projekt „Decolonycities“ wie ein Anheben eines Pflasters, um die Wunde zu erkennen und ihr zu erlauben, heilen zu können.

„Es geht darum zu wissen, dass es überhaupt eine Wunde gibt. Wir müssen zuerst uns selber helfen, bevor wir anderen helfen können. Spreche ich aus dieser Wunde heraus, oder reagiere ich auf diese Wunde? Dieses Projekt hat mir ermöglicht, nach Hause zu kommen, in eine reiche Kultur mit wunderbaren Menschen, und neu zu entdecken, woher ich komme. Der Ort erlaubt mir zu wissen, dass ich Afrikaner bin und dass ich stolz darauf bin. Ich weiß in Hamburg jederzeit, dass ich von einem anderen Ort komme. Es erinnert mich daran, dass es in Ordnung ist, schwarz zu sein und stolz darauf zu sein”, sagte Browny.

Willem Vrey

Er will Fragen nach der Zukunft des südafrikanischen Landes stellen, das zehntausend Kilometer von Hamburg entfernt ist. Die Spuren der Vergangenheit sind noch immer im Stadtbild sichtbar. Entkolonialisiert wurde sie nie. Anders sehen es etwa George Steinmetz und Julia Hell in ihrem Foto-Essay „The Visual Archive of Colonialism: Deutschland und Namibia“: „Wie alle Kolonialmächte steckten die Deutschen ihren Herrschaftsanspruch in Namibia ab, indem sie eine symbolische Landschaft schufen, eine große Anzahl von Denkmälern errichteten und die Namen, die Eingeborenen verwendeten, durch die Namen ihrer eigenen Führer ersetzten. Darum änderte die namibische Regierung nach der Unabhängigkeit viele Straßen- und Ortsnamen. Die Leutweinstraße vor der Alten Feste wurde zur Robert-Mugabe-Allee und die Straße, die zur Christuskirche führt, ist jetzt nach Fidel Castro benannt“.

Ob das symbolische Umbenennen ausreicht, um den Geist der Vergangenheit zu verjagen, glaubt Faizel Browny nicht. Eine Wunde verschwindet nicht, indem man sie verdeckt. Sie bleibt auch dann, wenn man dem Pflaster einen anderen Namen gibt.