Der Vergangenheit lauschen

"Paper Doll" (2005) von Padmini Chettur

Jens Knappe

Kann man Geschichte heraufbeschwören, ohne sie zu erzählen? Man kann, sagt die indische Choreografin Padmini Chettur. Wie auch die Ruinen der Vergangenheit nichts erzählen, so zeigen sie wie ein menschlicher Körper die Spuren vergangener Gewalt. Diese koloniale Gewalt traf auch Indien. Deren Spuren reichen von der lärmenden Metropole Chennai bis hinauf auf die sanften Hügel der südwestenglischen Grafschaft Devon.

Tänzerin und Tanzforscherin, München

Im Süden Indiens speist sich der gigantische Nagarjuna-Sagar-Staudamm vom Wasser des Flusses Krishna. Das Megaprojekt wurde am 10. Dezember 1955 vom damaligen Premierminister Jawaharlal Nehru eingeweiht und zählte zu den ganz großen Modernisierungsvorhaben im Rahmen einer „Grünen Revolution“. Seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 ging und geht es darum, das gewaltige Ernährungsproblem des Subkontinents durch Mechanisierung der Agrarwirtschaft in den Griff zu bekommen.

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Während der Bauarbeiten am Staudamm stieß man auf die Ruinen einer buddhistischen Tempelanlage mit Universität und einem Amphitheater, was die Planer vor eine große Herausforderung stellte.

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Mit enormem Aufwand und Logistik wurde ein Teil der historischen Anlage abgetragen und einige Kilometer südlich vom Damm in einem Tal nahe dem Dorf Anupu wiederaufgebaut. Die Reste der religiös fundierten Anlage wichen so einem „modernen Tempel“ indischer Ingenieurkunst. Das Kulturerbe konnte vor der Flutung gerettet und als Erinnerungsstätte bewahrt werden. Heute hat man den Eindruck, als wäre diese im ersten Jahrhundert nach Christus entstandene Anlage, benannt nach Acharya Nagarjuna, einem Philosophen und Chemiker, immer schon hier gewesen. Sie ist eine beliebte Touristenattraktion. Von den Stufen des Amphitheaters blickt man auf eine rechteckig Arena mit leuchtend rotem Erdboden und weiter auf den riesigen, künstlich angelegten Stausee.

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Laura Fiorio/HKW

„Auch Klang findet sich unter Zeitschichten begraben“

2015 besuchte der in Madras (dem heutigen Chennai) geborene Pionier der Akustik-Archäologie, Umashankar Mantravadi, die Ausgrabungsstätte Anupu. Das Zentrum der Anlage ist umringt von Ruinen, den einstigen Unterkünften für Mönche und Studenten. Auch ein Meditationszentrum und Grabstelen (Stupas) sowie ein Tempel der Göttin Harathi sind noch da. Den Mittelpunkt bildet jenes Amphitheater, das der intellektuellen Gemeinschaft von einst als Forum diente. Hier nahm Umashankar Mantravadi mit seinem Team Messungen vor. Er verwendete selbstgebaute, sogenannte ambisonische Mikrofone, um dreidimensionale Klangsphären aufzuzeichnen. Bereits Mitte der 1990erJahre hatte er mit der Untersuchung und Vermessung der klanglichen Eigenschaften vormoderner Aufführungsorte begonnen, um ein besseres akustisches Verständnis von antiken Bauten zu erhalten. Ihm geht es darum, auch die akustische Sphäre ehemaliger Aufführungsorte erhalten zu können. So entsteht ein Klangarchiv, um die Vergangenheit auch auf andere Weise zu erkunden als auf der üblichen, visuellen Ebene.

Portrait Padmini Chettur

Padmini Chettur. Foto: Satyajit Ray Film and Television Institute

Fünf Jahre später, 2020, begibt sich die 1970 geborene Choreografin Padmini Chettur, eine wichtige Exponentin des zeitgenössischen Tanzes in Indien, auf Einladung der Kuratorin Nida Ghouse an den gleichen Ort. Während eines dreitägigen Aufenthalts entsteht hier ihre filmische Skizze „A Slightly Curving Place [A Study]“. Die Choreografin reflektiert darin den Fakt, dass diese archäologische Stätte in einer neuen Umgebung rekonstruiert wurde und dass der Wiederbau der Anlage zu Veränderungen und Eingriffen in der Substanz habe führen müssen.

„Beautiful Dance 1“ (2009), Foto: Sara

“Die Verlagerung des Ortes ist nicht nur eine geschichtlich Tatsache“, sagt sie: „Diese Verlagerung ist im Raum selbst greifbar und sichtbar. Was im gleichen Maß auch für die Geschichte des Tanzes in Indien gilt. Auch sie ist eine Geschichte der Brüche, des Wiederaufbaus, eines Zusammentreffens von Vergangenheit und Gegenwart. In diesem Sinne ist die buddhistische Universität aus ferner Zeit mit seiner seltsamen Kombination aus altem Stein und hässlichem neuen Granit genauso entfremdet von seinem gewaltigen Erbe und seiner religiösen Bedeutung – einer der Gründe, warum ich diesen Ort allen anderen vorzog, an denen Uma [Umashankar] und Nida [Ghouse] geforscht hatten. Diese Bildungsstätte war ein Ort der körperlichen Aktivität – für Kampfkunst, buddhistische Gespräche, die Konversation, ein historischer Ort des Lernens und die Wissensgewinnung. Nicht zuletzt zeigt die Architektur in Form eines Mandala, mit seiner unglaublichen Geometrie und Proportion, wie sehr sie es schafft, den Körper menschlich zu rahmen und zu vitalisieren.“

Padmini Chettur setzt sich auf künstlerische Weise mit der Geschichte dieses Ortes auseinander. Sie erfühlt ihn mit ihrem eigenen Körper. Er wird quasi zur Kamera. Entstanden ist eine Videoarbeit von großer Sogwirkung. Zwei parallel projizierte Filme mit Aufnahmen der Tänzerin, die sie in der Weite der Anlage zeigen, entwickeln in der Gegenüberstellung mit Großaufnahmen eine wirkungsvolle Bildsprache, verstärkt durch die extreme Langsamkeit ihrer Bewegungen. Es ist eine Meditation über Zeit und Raum. Das dynamische Verharren in einer Pose, die Stille in der Bewegung, sind häufig wiederkehrende Momente in ihren Choreografien: besonders hier in Anupu. Wir sehen Risse im alten Gemäuer, eine Hand streckt sich zum Himmel, ihr Körper doppelt sich in langen Schatten.

Bis jetzt, an dieser Stelle im Text, haben Sie, liebe Leser:innen, möglicherweise schon dem Klang von Anupu zugehört. Vielleicht ist es Ihnen nicht bewusst geworden – ein fast unhörbarer Sound ist von Ihrem Gerät ausgegangen – ein archäologischer Sound von Umashankar Mantravadi.

„Ich fühle, vielleicht betreibt der Körper selbst eine Archäologie am eigenen Selbst.“ sagt Padmini Chettur, die ihre Videoarbeit „A Slightly Curving Place [A Study]“ für die gleichnamige Ausstellung 2020 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin schuf. Für sie sei „es eine Studie, wie man den Raum einrahmt, wie man verschiedene Zeitlichkeiten – alte und zeitgenössische – auf dieselbe Ebene bringt, wie man Geschichte heraufbeschwört, ohne sie zu erzählen.“

Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Wechsel unterschiedlicher Lichtverläufe. In langen Einstellungen wurden die Aufnahmen an einem frühen Morgen und am Abend des darauffolgenden Tages aufgezeichnet. Es war nicht ihre Absicht, einen Tanzfilm im eigentlichen Sinn zu produzieren oder eine Choreografie vor historischer Kulisse zu präsentieren. Vielmehr sei es ein Nachdenken über die innere Beschaffenheit des Körpers und seines Verhältnisses zum äußeren Raum, den sie mit minimalistischen Bewegungen erkundet hat. „Listening to the past“ –  der Vergangenheit lauschen. Der Körper wird zum Resonanzraum für die Schwingungen und Stimmungen des Ortes.

„A Slightly Curving Place“ (2022), Fotos: Sara

„Beautiful Dance 1“ (2009), Foto: Sara

Padmini Chettur ist mit ihrem Team 2021 noch einmal nach Anupu zurückgekehrt und filmte erneut. Aus dem ursprünglich für sechs Tänzerinnen geplanten Filmprojekt, wurde dann  wiederum doch ein Solo im Dialog mit dem Ort und der Landschaft: „Mir schien es nach Sichtung des  ‘Studien’-Materials und nachdem ich im Raum gewesen war, konzeptionell und künstlerisch konsequenter, bei einem einzigen Körper zu bleiben. Auf diese Weise bestand nicht die Gefahr, dass es ein Spektakel wird. Ich wollte auf keinen Fall, dass es in diesem Film um etwas anderes geht als um den Raum selbst und das Dilemma eines Körpers, der sich in mehreren historischen Momenten zugleich bewegt.“

Ihre Neufassung von „A Slightly Curving Place“ lief im Programm des Festivals „March Dance“ 2022 im Goethe Institut/Max Mueller Bhavan von Chennai, das in Zusammenarbeit mit dem Künstler:innen Kollektiv Basement 21 realisiert wurde. Zu den Mitbegründer:innen zählt Padmini Chettur selbst und der Musiker-Komponist Maarten Visser. Seit 2011 finden unter dem Label Basement 21 regelmäßig Workshops, Vorträge, Improvisationen und Performances statt. Damit ist sie Teil der lebendigen Tanzszene von Chennai, einer Stadt, die auf eine sehr reiche Tanzgeschichte zurückblickt.

Rukmini Devi Arundale, 1940. Foto: The Hindu Images

Tanzmetropole  Chennai

Chennai befindet sich gut vier Autostunden von Anupu nach Osten am Golf von Bengalen. In dieser Millionenstadt trug die Tänzerin und Theosophin Rukmini Devi Arundale (1904-1986) in den 1930er Jahren wesentlich zur Wiederbelebung und Erneuerung des südindischen Tempeltanzes Bharatanāṭyam bei und verhalf ihm zu nationaler Geltung. Bharatanāṭyam ist der heute bekannteste indische Tanz; bis dato hatte er unter verschiedenen Bezeichnungen wie Dāsiāttam, Nautch, Sadir und Chinnemelam firmiert. Die Tänzerinnen, einst hoch angesehen, hatten ihren hohen kulturellen Status in der Zeit der britischen Herrschaft verloren. Die Kolonialherren haben sie der Nähe zur Prostitution verdächtigt und so um ihren Ruf gebracht. Rukimi Devi selbst, eine Brahmanin, hatte bei ihrer Initiative zur Wiederbelebung der reichen indischen Tanzkultur gegen große Widerstände zu kämpfen. Als Angehörige der obersten Kaste konnte sie jedoch gemeinsam mit ihrem Mann 1936 die Bharatanatyam Dance Academy gründen. Sie heißt heute Kalakshetra Foundation und knüpft an die durch die britische Besatzung verloren gegangene Tanztradition wieder an. Mohan Khokar (1924-1999) war der erste Mann, der sich an dieser Schule 1940 einschrieb. Khokar wurde später Tanzwissenschaftler und Kritiker sowie Sammler, Fotograf und Verfasser zahlreicher Bücher über den klassischen indischen Tanz. Er kaufte alles auf, was mit indischer Tanzkultur zu tun hatte, machte keinen Unterschied zwischen Kitsch und Kunst, alt oder neu. Da interessierten sich selbst die New York Public Library und das Dansmuseet in Stockholm für seinen Nachlass, der schließlich in Chennai bleiben konnte, denn: “Der Wert dieser Sammlung ist nicht nur für die Tanzgeschichte immens, sondern auch für unserer eigene, soziale Geschichte”.

Chandralekha, Foto: Sadanand Menon

Ein weiteres Zentrum für Bewegungskunst, SPACES, wurde ebenfalls in Chennai ins Leben gerufen. Dieser Raum geht zurück auf die Choreografin Chandralekha  (1928-2006), die seit 1949 in Madras, dem heutigen Chennai, lebte und arbeitete. Hier schuf sie das Mandala Theater und ihre Vision, „alternative künstlerische und menschliche Räume in der Stadt zu schaffen“. SPACES ist heute ein in lokaler Bauweise geschaffener Aufführungsort für experimentellen Tanz. Es beherbergt auch das Archiv der renommierten Choreografin, der zeitlebens Gedanke des Archivierens fremd war. Auch sie trug mit dazu bei, dass Chennai zu der Tanzmetropole Indiens wurde. Die Stiftung des Hauses leitet seit 2000 Chandralekhas langjähriger Partner und Mitarbeiter, der Fotograf Sadanand Menon.

Errichtet auf diesem Erbe verfügt Chennai heute über eine vitale Tanzszene, auch wenn sich die zeitgenössischen Tänzer:innen und Choreograf:innen noch immer mit schwierigen Produktionsbedingungen konfrontiert sehen. Im eigenen Land werden sie so gut wie nicht gefördert. Padmini Chettur, im Westen eine feste Größe, kommentiert dies so:

„Leider werden wir noch immer sehr beargwöhnt  und bedienen in gewisser Weise eher den ‘europäischen’ Markt, und sei es indirekt. Immer noch kommt das meiste Geld für zeitgenössischen Tanz in Indien von Einrichtungen wie dem Goethe-Institut und von anderen ausländischen Koproduzenten. Es gibt kein wirkliches Interesse, keine Unterstützung und kein Geld aus dem eigenen Land für Leute wie mich. Ich denke, wir müssen endlich gemeinsam darüber nachdenken und uns überlegen, was diese Art des künstlerischen Lebens in der Dritten Welt bedeutet. Beispielsweise müssen wir ums um ein asiatisches Netzwerk bemühen.”

„Paper Doll“ von Padmini Chettur, Fotos: Jens Knappe

Varnam

Auch ihre Videoarbeit „Varnam“ wurde im Ausland produziert, 2016 vom Grazer Festival „Steirischer Herbst“. In dieser für sechs Tänzerinnen konzipierten Choreografie greift Padmini Chettur auf den ihr vertrauten klassischen Tanzstil und eine Komposition aus dem 19. Jahrhundert zurück: jenem Bharatanāṭyam, dem bekanntesten unter den acht klassischen indischen Tanzstilen. Padmini Chettur wurde in dieser Kunst schon als Kind unterrichtet. Und entschied sich gegen eine Ausbildung im Ausland.

Chetturs künstlerische Laufbahn begann 1990 in der Kompanie von Chandralekha, dieser bedeutenden Protagonistin des neuen indischen Tanzes, einer Kämpferin auch für Frauen- und Menschenrechte. Zehn Jahre lang blieb sie bei Chandralekha, bis sie mit eigenen Solos zu experimentieren begann und im Jahr 2000 selbst eine Tanzkompanie gründete. Ihre Mentorin war, insbesondere was die Einstellung des Westens zu einem „exotischen“ Indien betraf, im Dauerstreit. Für Padmini Chettur jedoch „musste dieser Streit nun endlich über die postkoloniale, nationalistische Debatte hinausgehen, um den vielfältigen Einflüssen in meinem eigenen Leben einen ehrlichen Sinn zu geben“. Chettur ist bekannt für ihren abstrakten Minimalismus, der ihre Arbeit auszeichnet. Der Tanztradition des Bharatanāṭyam bleibt sie dennoch verbunden, nutzt das Vokabular aber auf sehr individuelle Weise. Sie hat diese klassische Tanzform von allem Dekorativen befreit und sich seiner Exotik entledigt. Behalten hat sie die Technik, Formstrenge und Geometrie.

Ihr zeitgenössischer Tanzstil verzichtet auch auf das in der indischen Klassik übliche Erzählen von Geschichten. In ihrer Videoarbeit, „Varnam“ bezieht sie sich auf ein musikalisches Herzstück im traditionellen Repertoire der Bharatanāṭyam-Tanzaufführung, dem Gesang, entlang einer gleichnamigen Komposition des Thanjavur-Quartetts aus dem frühen 19. Jahrhundert. Chettur untersucht und dekonstruiert diese Komposition, sie erweitert sie um zeitgenössische Texte und abstrahiert den klassischen Bewegungskanon.

Auf die Frage nach der Anerkennung solch zeitgenössischer Choreografie im gegenwärtigen Indien antwortet sie: „Es gibt keine Beschränkungen für das ‘Zeitgenössische’ im indischen Tanz. Das Land ist so groß und die Tanzpraxis so vielfältig. Wir haben so viele ‘klassische’ Formen, aber wir wissen auch, dass es mehr Tänzer:innen und Choreograf:innen gibt, die nicht aus dieser Ausbildung stammen, sondern an Schulen den ‘zeitgenössischen Tanz’ studieren oder aber einen Hintergrund in HipHop oder Filmtanz (wie Bollywood) haben.“ Auch sie müsse man mitnehmen.

Frau im Reifrock: Chandralekha

NEW YORK 1970

American Artists in India: E. A. T. Experiments in Art and Technology

Mitte der 1980erJahre kommt es in Chennai erstmals zu einer wichtigen Debatte um die Zeitgenossenschaft im Tanz. Aus eurozentrischer Sicht wird der indische Tanz klischeehaft als eine Form von Folklore angesehen. Der indischen Tänzerin, Choreografin und Feministin Chandralekha  gelingt es dagegen, mit ihren Stücken eine Synthese aus Alt und Neu zu schaffen. Sie beginnt, die soziale Funktion des Tanzes in der Gesellschaft Indiens zu befragen und sie erprobt auch neue Rollenmodelle. Sie revitalisiert den traditionellen Tanzstil Bharatanāṭyam, mit dem sie schon 1952 debütiert hatte, legt ihre Arbeit als Choreografin nieder und betätigt sich als Aktivistin, Dichterin und Malerin. 1984 kehrt sie als Choreografin zurück und nimmt gemeinsam mit zwanzig nationalen und zwanzig internationalen Tänzer:innen an „The East West Dance Encounter“ teil, einer Veranstaltung in Mumbai an der Westküste Indiens von großer Signalwirkung. Unter anderem dabei waren aus Europa Susanne Linke, Dominique Bagouet und Gerhard Bohner. Auch mit Pina Bausch verbindet Chandralekha bald eine langjährige Freundschaft. 1988 wird sie zu ihrem Festival nach Wuppertal eingeladen. 1995 begegnen sie sich wieder, als Bausch mit ihrem Erfolgsstück „Nelken“ (1982) durch Indien tourt.

In ihren Choreografien widmet sich Chandralekha besonders den Themen Erotik und Sexualität, den von den Briten inkriminierten Diskursen. Zudem verbindet sie Bharatanāṭyam mit Kampfsport und Yoga und findet zu einer neuen abstrakten Körpersprache auf der Basis geometrischer Tanzformen. 1970 kommt es zur Zusammenarbeit mit der Non-Profit-Organisation E. A. T. (Experiments in Arts and Technology), einem u.a von Billy Klüver, Robert Rauschenberg  gegründeten Verbund von Künstler:innen und Ingenieur:innen in den Vereinigten Staaten. Billy Klüver und Julie Martin lernen Chandralekha in Indien kennen. In New York entsteht ein Film mit Andy Warhol, in dem Chandralekha eine Serie symbolischer Handgesten, die sogenannten Hasta-Mudras vorführt.

Harry Shunk / Janos Kender: Chandralekhas Handgesten aus dem klassischen indischen Tanz, 1970

Das Künstler-Fotografenduo Harry Shunk und Janos Kender sind bei den Dreharbeiten zugegen und machen Aufnahmen ihrer Hände. Tom Gormley wählt eines dieser Mudras als Plakatmotiv  für das von E. A. T. initiierte und von der John D. Rockefeller Foundation finanzierte Projekt „American Artists in India“. Es wirbt dafür, die US-amerikanischen Künstler:innen dieses Kollektivs für einen Monat nach Indien zu entsenden, um sich dort mit indischen Kolleg:innen auszutauschen. Unter den neun ersten Beteiligten befinden sich auch so wichtige Vertreter:innen des Postmodern Dance wie Trisha Brown, Steve Paxton und Yvonne Rainer.

DARTINGTON 1926

Dartington Hall Experiment

Rabindranath Tagore – Leonard und Dorothy Elmhirst

Während westliche Choreograf:innen in Indien neue Erfahrungen sammeln, gab es in England schon fünfzig Jahre zuvor die Möglichkeit, als Tanzkünstler nach Europa eingeladen zu werden: als Gäste auf einem mittelalterlichen Anwesen in der südenglischen Grafschaft Devon. 1925 wurde es durch das britisch-amerikanische  Ehepaar Leonhard und Dorothy Elmhirst erworben. Sie schufen hier die Grundlage für Dartington Hall, ein wichtiges Beispiel und Vorbild für die internationalen, künstlerischen Netzwerke und Kollektive der Moderne. Vergleichbar ist Dartington Hall allenfalls mit dem Monte Veritá in Ascona, wenn auch unter gänzlich anderen Voraussetzungen. Dorothy Elmhirst stattete Dartington Hall mit einem Startkapital von 5 Millionen Pfund aus dem Vermögen ihrer Familie aus, um ein interdisziplinäres Projekt zu starten, eng angelehnt an das modellhafte Bildungs- und Kulturzentrum Santeniketan, das der Dichter und Reformer Rabindranath Tagore (1861–1941) auf seinem Landgut in der Nähe von Kalkutta führt.

Dartington Hall, Foto Andy Lovell/Alamy Stock Foto

Dorothy (Payne Whitney) Elmhirst,  1915

Als erstem Nicht-Europäer war ihm 1913 der Nobelpreis für Literatur verliehen worden, was weltweit zu einem großen Interesse an seinen Schriften, seiner Person und seinem Herkunftsland führt. In Tagores Auftrag initiiert und leitet Elmhirst zunächst das Institut für ländlichen Wiederaufbau in Sriniketan und begleitet ihn von 1923 bis 1925 auf seinen Vorträgen um die Welt. All ihre in Indien gewonnenen Erfahrungen fließen in das Dartington-Konzept mit ein. Mit der Instandsetzung der historischen Bauten entstehen auf dem Anwesen sukzessiv eine reformpädagogische Schule, eine Töpferei, eine Glaswerkstatt, ein Tanzstudio, moderne Neu- und Umbauten, wie das vom Bauhausgründer Walter Gropius in eine Studiobühne verwandelte  Scheunenhaus. Besonders werden nun die darstellenden Künste gefördert.

DARTINGTON 1934

Uday Shankar – Kurt Jooss

Dartington Hall entwickelt sich bald zu einer internationalen Probebühne für gesellschaftliche Transformationsprozesse fernab der Metropolen. 1933 sehen die Elmhirsts das preisgekrönte Antikriegs-Ballett „Der grüne Tisch“ von Kurt Jooss (1901–1979) in London. Ein Jahr später wird Dartington Hall für Jooss, seine Familie und Kompanie zum Zufluchtsort und zu einer neuen Wirkungsstätte. Er zählt zu den wenigen deutschen Choreografen, die sich nicht auf Druck der Nationalsozialisten von ihren deutsch-jüdischen Mitarbeiter:innen trennten, darunter der Komponist Fritz Cohen und der Bühnenbildner Hein Heckroth. Kurz darauf folgt ihm sein Kollege und künstlerischer Partner Sigurd Leeder (1902–1981). Es entsteht die Jooss-Leeder School of Dance hier in der Grafschaft von Devon.

Noch im gleichen Jahr laden die Elmhirsts erstmals den im Westen gefeierten indischen Choreografen und Tänzer Uday Shankar (1900–1977) und sein Hindu-Ballett für eine Open-Air-Aufführung ein. Danach werden sie zu wichtigen Unterstützern seines zukünftigen Tanzschulprojekts in Almora in Britisch-Indien. Seit seinem Auftritt 1930 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées mit erstmals einer eigenen indischen Musikergruppe und Kompanie tourt er erfolgreich in Europa und in den USA. In der Schweizer Künstlerin und späteren Indologin Alice Boner (1889–1981) findet er eine weitere engagierte Förderin. Sie leitet seine Tanzgruppe von 1930 bis 1935. Eine umfangreiche Fotosammlung und Korrespondenz in Dartington und Zürich zeugen von dieser langjährigen Verbindung.  Uday Shankar gilt heute als Pionier des modernen indischen Tanzes und steht zusammen mit Rabindranath Tagore für die Erneuerung der Bewegungskunst in seinem Land. Er verbindet die Tanzstile Bharatanāṭyam und Kathakali mit Volkstanz sowie Elementen des deutschen Ausdruckstanzes und des American Modern Dance.

Als Filmregisseur und Produzent arbeitete Uday Shankar vier Jahre lang  an seinem bahnbrechenden, inzwischen zum Klassiker gewordenen Tanzdrama „Kalpana“ als das „first Indian all-dance picture“ (1948) in den Gemini Studios in Madras und setzte damit neue Maßstäbe für zukünftige Choreografen und Filmproduzenten. Tanzszenen  wie „Labor and Machinery“ sind eine der Höhepunkte, die an Fritz Langs Filmklassiker „Metropolis“ wie auch Charly Chaplins „Modern Times“ erinnern.

„Kalpana“ (1948) von Uday Shankar, Screenshot

Tanz bleibt in Dartington Hall auch in den folgenden Jahrzehnten fester Bestandteil im Programm. Im Juli 1964 geben Merce Cunningham & Company mit John Cage, David Tudor und Robert Rauschenberg im Barn Theatre zwei Vorstellungen. Sie stehen zu diesem Zeitpunkt noch am Beginn ihrer legendären World Tour, die sie im Oktober auch in Indien fortsetzen werden. Langjährige Verbindungen von John Cage zur einflussreichen Unternehmerfamilie Sarabhai, insbesondere zu deren Tochter, der Sängerin und Musikerin Gita Sarabhai, hatten zu dieser Einladung geführt. Die Kompanie trat in Bombay (heute Mumbai), Ahmedabad, Chandigarh und Dehli auf. Während dieses Aufenthalts  begann auch die Freundschaft zwischen Merce Cunningham und der renommierten indischen Tänzerin, Pädagogin und Aktivistin Mrinalini Sarabhai. Sie wiederum ist Padmini Chetturs Großtante.

Uday Shankar in „Kalpana“

Epilog

Der Klangforscher John Cage zeichnete bei seinem Indienaufenthalt Chandralekhas unverwechselbares Lachen auf und ließ es im National Institute of Design in Ahmedabad über zehn Lautsprecher in Dauerschleife abspielen. Davon erzählt die in Chennai beheimatete Dichterin, Journalistin und Tänzerin Tishani Doshi, die fünfzehn Jahre lang in Chandralekhas Kompanie tanzte. Man darf sich dieses – verloren gegangene – Lachen wie ein Passstück zu Umashankars fast lautloser Klangarchäologie denken: als ein fortwährendes, immer wieder zu verstummen drohendes Echo aus einer vergangen Zeit.

JUSSEL 2009
Anna-Miriam Jussel, Vom Tempeltanz zum heutigen Bharatanāṭyam, Dissertation, Wien 2009
Begleitheft zur Ausstellung „A Slightly Curving Place“ (23.7.-20.9.2020) im Rahmen des HKW-Projekts Das Neue Alphabet (2019 –2021), Haus der Kulturen der Welt, Berlin
KATRAK 2011
Ketu H. Katrak, Contemporary Indian Dance . New Creative Choreography in India and the Diaspora, Palgrave Macmillan, 2011

MOUNT 2017
Kevin Mount, A History of Dartington Hall in Twenty-three Moments, hg. von / edited by the
Dartington Hall Trust, Dartington 2017

NICHOLAS 2007/2011
Larraine Nicholas, Dancing in Utopia. Dartington Hall and Its Dancers, Alton 2007, Taschenbuchausgabe/ paperback Binsted 2011

YOUTUBE

SEBALY 2016
Abigail Sebaly, Esprit de Tour. A conversation on retracing the Merce Cunningham Dance Company’s 1964 World Tour, 17.5.2016, URL: <https:// www. youtube.com/ watch?v=4napust2Vhg> [aufgerufen am 18.5.2021].

E-MAIL KORRESPONDENZ

CHANDRALEKHA 2020
E-Mail-Korrespondenz zwischen Sadanand Manon und Marietta Piekenbrock, Jamila Adeli und Antonina Krezdorn vom 14.11.2020

CHETTUR 2022
E-Mail-Korrespondenz zwischen Padmini Chettur und Brygida Ochaim vom 7. und 9.4.2022

ZEITSCHRIFTEN

CHETTUR 2011
Padmini Chettur im Interview mit Deepa Punjani, in: Mumbai Theatre Guide, 2011, URL: <https:// www.mumbaitheatreguide.com/ dramas/ interviews/ 26-padmini-chettur-interview.asp#> [aufgerufen am 25.5.2021].

DOSHI 2021
Tishani Doshi, Chandralekha, Seminar-Magazin
https://www.india-seminar.com/2021/746/3%20Chandralekha-Tishani.htm

NASKAR 2016
Srija Naskar, Remembering Chandralekha, whose work redefined Indian dance traditions,
2016, https://www.sundayguardianlive.com/people-society/6898-remembering-chandralekha-whose-work-redefined-indian-dance-traditions

RAGHUVANSHI 2019
Alka Raghuvanshi, Mohan Khokar Dance Collection: It was one man’s mission in life, now India’s treasure, in: The Asian Age, 20.8.2019 [https://www.asianage.com/india/all-india/200819/mohan-khokar-dance-collection-it-was-one-mans-mission-in-life-now-indias-treasure.html]

THOMAS 2016
Elizabeth Thomas, Experimenting with tradition, in: Deccan Chronicle, 19.12.2016
https://www.deccanchronicle.com/lifestyle/books-and-art/191216/experimenting-with-tradition.html

MARTIN/ZAPOL 2018
Oral History Interview with Julie B. Martin, 2018, Nov. 7–8, Transkript des Gesprächs zwischen Julie B. Martin und Liza Zapol, S. 46, URL: <https:// www.aaa.si.edu/ collections/ interviews/ oral-history-interview-julie- b-martin-17613> [aufgerufen am 18.5.2021].