Applausexplosion

Lazgi ist ein aus der Antike stammender Tanz mit dem Feuer: mutig, herausfordernd, intensiv. Und so entflammt wie der „Autonomous Avatar“ des Künstlers Tobias Staab.

Lazgi lässt den Körper wie ein Erdbeben zittern. In seiner Wildheit und mit seinem Temperament gehört er zu den ältesten, noch heute praktizierten Tänzen der Welt. Mindestens 3000 Jahre hat er gemäß Felszeichnungen auf dem Buckel. Wer ihn in Reinkultur erleben will, reist in den Westen von Usbekistan, in ein Städtchen namens Urgench.

Mindestens 3000 Jahre alt? So alte Kulturen findet man am ehesten an Flussläufen: am Nil, am Indus, am Tigris. Auch in Afghanistan entsteht nicht unweit von Kundus aus einem Zusammenfluss ein solcher Strom namens Amudarya. Als Grenzfluss nach Westen an Uzbekistan vorbei erreicht er erst Turkmenistan und quert dann in der Nähe der Provinzstadt Urgench usbekisches Terrain nach Norden, um mühsam zu versuchen, in den berühmten Aral-See zu münden, diesem einst viertgrößten Binnensee der Welt. Doch versickert der Fluss zuvor in einem riesigen Delta. Der See selbst ist so versalzen und verlandet, dass Schiffe kilometerweit vom heutigen Ufer entfernt auf wüstem Land verrotten.

Berühmt ist der Aralsee für seine Schiffe, die trocken gefallen sind, rostende Schattenspender in der Salzwüste

Heute ist der Aralsee nur noch eine Pfütze, verglichen mit dem riesigen Binnensee im Jahr 1960

Wassermuseum Bukhara

Die Provinzstadt Urgench, südlich des Aral-Sees, ist auf den ersten Blick kaum mehr als eine moderne Siedlung mit Cafés und kleinen Läden an der schnurgeraden Hauptstraße. Sie führt zu einer von Taxis umstellten Markthalle inmitten einer sozialistischen Plattenbausiedlung. Am Rand des Ortes gibt es einen Flugplatz, an dem die Touristen auf der Suche nach der Seidenstraße deshalb landen, um in der Nähe Khiva zu bewundern, die alte Hauptstadt der einstigen Provinz Khoresmien. Sie ist eine winzige Provinz, ein Fleck auf der Landkarte. Dabei war Khoresmien einst ein Riesenreich, genannt das „Land der aufsteigenden Sonne.“

Khiva, die alte Stadt, bei aufsteigender Sonne

Helena Waldmann

Khiva, die alte Hauptstadt von Khoresmien, ist eine mehr als 2500 Jahre alte Ortschaft, die heute von einer Moschee dominiert wird, samt eines schornsteindicken, von Kacheln verzierten Minaretts. Sie entstand im 19. Jahrhundert neben den historischen Karawansereien und Schulen (Madrasi genannt) – geschützt von einer gut erhaltenen Stadtmauer. Ähnliches haben die Touristen auf der Seidenstraße zuvor schon in Bukhara und Samarqand gesehen. Nur ist hier alles kleiner, übersichtlicher, gut erhalten und vom üblichen Basartreiben in solchen Touristenzentren eher wenig berührt. Pittoresk ist die Handelsstadt an der alten Seidenstraße und sie war es, solange sie ihre Bewohner:innen und Gäste vom Schwemmland des Flusses Amudarya ernähren konnte, dem Fluss, der immer wieder seinen Lauf geändert hat, mal die Stadt zu überschwemmen drohte, um sich dann wieder so weit von ihr zu entfernen, dass die Oase in der zurückbleibenden Steppe ihre Bewohner nicht länger ernähren konnte.

Vierzig Kilometer entfernt, in Urgench, dem Verwaltungszentrum, sitzen wir in einem dieser typischen usbekischen Riesenrestaurants, die am späten Vormittag öffnen und sehr spät abends wieder schließen – Treffpunkt der Familien und Freunde, die an ihren Tischen ihre ständig kommenden und gehenden Gäste freudig schnatternd begrüßen und verabschieden. Ganze Tage werden so mühelos verbracht. Man trifft sich ohne Verabredung, plaudert, macht Geschäfte, arrangiert sich, streitet und versöhnt sich wieder. Je später der Abend, desto eher hebt man die Tafel auf, desto ausgelassener erzittern die Gäste. Denn so heißt ihr Tanz. Lazgi heißt: „zittern“. Diese Sitte, nach dem Essen zu tanzen, ließ diesen alten Tanz bis heute überleben.

Tatsächlich sieht es so aus, als würden Stromstöße durch die Tanzenden fahren. Und man fragt sich, warum. Vielleicht, so vermutet man, ist dieses Zittern eine frühe kulturelle Imitation der seismischen und vulkanischen Erdaktivitäten in jener Frühzeit des Paläolithikums, als die Menschheit sesshaft wurde auf diesen fruchtbaren Böden des Schwemmlands am Amudarya, dessen Wasser heute mehrheitlich den Baumwollplantagen dient. Die durstige Baumwolle ist die Haupteinnahmequelle der Region, die den Wasserreichtum im steppigen Khoresmien nun wieder zum Versiegen bringt.

Auch eine zweite Erklärung für die zitternde Bewegung des Lazgi ist so wahr wie wahrscheinlich: Sie geht zurück auf die vorislamische Feuer-Religion der Zoroastrier. Geläufiger ist der Name Zarathustra, dem Friedrich Nietzsche ein Denkmal gesetzt hat. Zoroastrier hüten die ewige Flamme, beten sie und die Sonne an, auch hier in Khoresmien, wo für die Parsen, wie die Perser seit ihrer Flucht vor dem Islam genannt werden, die Sonne aufging.

Der Tanz des Lazgi beginnt in erstarrter Haltung. Erst kaum erkennbar zittern die Finger, dann folgen die Hände, die Arme, die Schulter, dann der ganze Körper. Es sieht aus, als würden die Tanzenden auftauen, als wären sie vom Winter oder in der Nacht erstarrt, und nun, mit Frühlingsbeginn oder Sonnenaufgang, führe neues Leben in sie hinein: Immer wilder wird ihre Abfolge von flatternden Fingern, gekrümmten Gelenken und zitternden Gliedern. All das ist so rhythmisch komplex von Kopf und Gliedern strukturiert, als würde eine lächelnde Puppe sich aus ihren wie gebrochen wirkenden Knochen hochelegant erheben, erschüttert wie von einem Erdbeben, und nun selber Feuer sein, als Folge des Bebens, das ihren Körper wie eine Flamme lodern lässt.

Dilnoza Artigova, die wir gleich kennenlernen, ist ein Star des Lazgi

Fan-Site Dilnoza Artigova

Da ist diese leicht zur Seite gebeugte Tanzende, da ist dieses wie aufgenähte Lächeln in ihrem Gesicht. Man hört erst das leise Klacken der Finger, sieht die zaghaft nach Halt und Haltung suchenden Schritte und erlebt, indem Blick und Hand sich im sogenannten „Dutor Lazgi“ zur Sonne erheben, wie ein Ruck durch den Körper fährt. Die Bewegung, der Tanz, nimmt vom Körper Besitz. Die Augen zucken, der Kopf erzittert, ebenso die Schultern. Der bloße Anblick der sich nun kontinuierlich steigernden Geschwindigkeit des Tanzes raubt einem den Atem, bis man nach Luft schnappt: So knisternd der Tanz anhebt, so abrupt und schnell verpufft er, in einem Aufschrei, in einem resoluten Schlussstrich, in einer Applausexplosion.

2019 wurde Lazgi als immaterielles Kulturerbe unter den Schutz der UNESCO gestellt. Zu verdanken ist dieser Akt vor allem ihr: Gavhar Matyokubova. Am Abend zuvor hatte sie – als Choreografin und Mentorin – noch ein Tanzfest gestaltet aus Anlass des „Tag des Lehrers“.

Nigora ist Deutschlehrerin. Am “Tag des Lehrers” wird sie mit Geschenken überhäuft

Helena Waldmann

So etwas gibt es noch im postsozialistischen Usbekistan – eine Feier der Verdienten um das Wohl des Volkes. Es gibt auch einen „Tag der Feuerwehr“, einen „Tag der Bauern“, natürlich einen „Tag der Arbeiter“, um sich zu bedanken für ihre Leistungen. Auch im Westen kennt man solche Tage, den „Tag der Einheit“, den „Tag des Mülleimers“ oder den „Weltklimatag“, der politisch anders motiviert ist als in Usbekistan, hier, wo die Schüler:innen zusammen kommen, um ihre Lehrer:innen zu feiern, auch die Tanzlehrer:innen.

Gavhar Matyokubova, die Koryphäe des Lazgi, an ihrem Arbeitsplatz

Helena Waldmann

Müde wirkt Gavhar Matyokubova am nächsten Morgen nicht. Wir treffen die fast Achtzigjährige in ihrem Tanzstudio in einer Seitenstraße in Urgench, in ihrer „Philharmonie“, wie sie es nennt. Es ist ein mehr als geräumiges, fast schon tempelartig großes Studio. Die muntere Koryphäe des Lazgi-Tanzes war im Jahr 2000 als „Volkskünstlerin Usbekistans“ geehrt worden. Sie hatte Lazgi die internationale Anerkennung verschafft, ihn zum Kulturerbe erklären lassen können. Zum Dank erhielt sie vom Präsidenten Usbekistans dieses Tanzstudio.

Gavhar Matyokubova hat zwei Bücher zur Herkunft und Praxis des Lazgi veröffentlicht, von denen es nur scheußliche Übersetzungen gibt. Sie suchte und fand entlegene Quellen, so beim uralten Gelehrten Ibn Zayla, gestorben anno 1048. In dessen „Vollständigem Musik-Buch“ („Kitab al-kafi fi al-musiqa“) gilt Lazgi als die Kunst, mit Schultern, Augenbrauen, Kopf und ähnlichen Körperteile so zu tanzen, dass sie Vögel und andere Tiere nachahmen und sogar den Applaus für die eigene Kunst imitieren kann. Schrieb Ibn Zayla. Lazgi sei also, laut des alten Enzyklopäden des Mittelalters, eine Kunst der Pantomime. Das ist sie, aber nur zu einem kleinen Teil.

Gavhar Matyokubova, 1943 geboren, begann ihre Karriere als Tänzerin hier in Urgench an der städtischen Musikschule, gelangte von dort ans hiesige Ensemble des populären Volkskünstlers Komiljon Otaniyazov – man würde ihn heute einen Singer-Songwriter nennen, der über ein eigenes Orchester und über eine Tanzkompanie verfügte, bekannt für eine moderne Lazgi-Interpretation, des „Yallali Lazgi“, die sich mit sozialistischem Furor über herrschenden islamischen Einfluss hinweg setzte. Parallel zu ihrer Arbeit als Tänzerin in dieser Kompanie studierte Gavhar Matyokubova Geschichtswissenschaften und begann Lazgi in seinen Formen und Herkunft zu erforschen. Ihr Fernstudium – denn die Universität befand sich noch unüberbrückbar in der eintausend Kilometer entfernten Hauptstadt Tashkent – schloss sie als Ethnografin ab.

„Was ist schon Perfektion, wenn man nicht weiß, wofür sie existieren soll?“, fragte sie damals. Als Forscherin wurde sie 1976 auch Choreografin an der hiesigen Khoresmischen Staatsphilharmonie. 1993 erschien ihr erstes, 2021 ihr zweites Buch zur Kunst des Lazgi. In ihnen grub sie sich bis zu den Wurzeln des Tanzes vor, fragte nach den Motiven, die die Menschen zum Tanzen, aber auch zum Lachen bringen. Tanzen und Lachen? Beides sind für Gavhar Matyokubova reine Schutzmechanismen gegen die Unbill der Natur, gegen die damals zweimonatige Hitze in dieser Region, auf die nahezu übergangslos ein zehnmonatiger, eisiger Winter folgte. Die Theorie des Auftauens der Bewegung war geboren, ebenso die zweite Linie des Lazgi entdeckt, die zur ersten so gar nicht passen will: die Clownerie.

Im ihrem hellen, weiten, von Spiegeln und Fenstern beleuchteten Studio im großen Parterre ihrer Villa begrüßt Gavhar Matyokubova am Morgen zwei ihrer Mitstreitenden: Otabek Ròzmeto ist ein stämmiger Clown, Tänzer, Musiker, alles auf einmal. Lazgi braucht die rhythmische Begabung, eine Voraussetzung, weil die Trennung zwischen Tanz und Musik in dieser alten Kunst nahezu aufgehoben ist.

Dilnoza Artigova im schwarzen Arbeitsdress, mit Werkzeug und Haltung gegen den Schnörkel

Helena Waldmann

Mit zwei an Metallplatten geschlagenen Steinen, wahlweise mit einer Handtrommel, scheint Otabek Ròzmeto auf dem Holzparkett seine Partnerin in Bewegung zu setzen, sie zu locken, sie mit klackenden Wetzsteinen anzufeuern, erst wie ein akustischer Puppenspieler, dann wie ein genauer Reagierer auf die Improvisationen von Dilnoza Artigova, der Gewinnerin des Nihol Preises des Präsidenten der Republic Usbekistan und derzeit eine der besten Lazgi-Tänzerinnen im Land.

Dilnoza Artigova: Lazgi-Improvisation

Helena Waldmann

In ihrem schlichten schwarzen Arbeitskleid, das an die Moderne einer Mary Wigman erinnert, scheint sie für Sekunden wie in einen Rausch zu geraten. Sogleich nimmt das Spiel eine neue Wendung, die des fragenden Steinschlägers und die der ihm antwortenden Tanzenden. „Kayrok Lazgi“ nennt Gavhar Matyokubova diese Begegnung, den Dialog – und insistiert darauf, dass nicht die technische Genauigkeit bei der Ausführung des Tanzes das Ziel ist, sondern die Präzision vor allem ein Mittel sei, um Haltung zu zeigen – die unerschrockene Haltung gegenüber der Natur, eben dank Improvisation anstelle eines auf Mechanisierung und Perfektion getrimmten Verständnisses von Naturbeherrschung, wie es sich auch im Westen erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entwickelte und dann auch ins Ballett einfloss.

Perfektion um der Perfektion willen lehnt Gavhar Matyokubova ab. Sie sitzt hinter einem mit grünem Tuch gedeckten Tisch. Jede Bewegung, die sie sieht, zeichnet sie mit ihrem im Sitzen tanzenden Körper nach – oder auch vor, wenn nicht das geschieht, was sie erwartet.

Jede Bewegung, die Gavhar Matyokubova sieht, zeichnet sie mit ihrem im Sitzen tanzenden Körper nach

Helena Waldmann

Sie stoppt die Tanzenden, diskutiert temperamentvoll, malt mit weiten Gesten in die Luft, was sie meint: Haltung, Haltung, Haltung. Das meint durchaus auch eine kriegerische Haltung, eine kampfeslustige, die – von einem Blasinstrument begleitet – als „Surnay Lazgi“ (als Sieges-Lazgi) besondere Popularität genießt: ein Tanz-Battle zwischen Männern oder auch Mann und Frau, der auf keiner Hochzeit fehlt.

Lazgi ist ein „Tanz ums Feuer, ein Tanz mit dem Feuer, ein riskantes Wagen“, sagt Gavhar Matyokubova. Und der Clown – sie zeigt auf Otabek Ròzmeto – ist kein Narr, sondern der größte Wagehals, der mutigste, wenn er etwa mit seiner Lederjacke, dessen Kragen er mit dem Mund packt, hochkomisch wirkt, aber dann diese Jacke dazu nutzen wird, mit ihr einen sich ausbreitenden Brand zu ersticken. Haltung ist, wenn man trotzdem lacht.

Otabek Ròzmetov

Helena Waldmann

Haltung, für Gavhar Matyokubova, ist der Humor, mit dem das Pantomimische gemeint ist … die komische Imitation von den pausbäckigen Zieseln und Sandmäusen in der Steppe – Otabek Ròzmeto macht es vor –, genauso sei es die akrobatische Beherrschung von Dolchen, Tellern, Tassen. „Wir sollten diese Kunst nicht unterschätzen“, sagt sie. Es ist Volkskunst als eine eben gekonnt humorvolle Haltung gegenüber den Herausforderungen durch Naturereignisse wie Stürme, Erdbeben oder auch politischen Ereignisse, schlechten Kalifen und Khans, kurz; den Herrschenden. Der „Clown’s Lazgi“, wie ihn Matyokubova nennt, fordert die Umstehenden auf zu mehr eigener Souveränität.

Und natürlich ist es die Landschaft, die diesen Tanz mit geschaffen hat. Steppenvölker sind so wendig, flexibel und findig wie ihr Tanz. Nicht umsonst wird Lazgi eher selten auf der Bühne gezeigt. Wenn, dann eher in der Hauptstadt Tashkent. Dort erscheint er oft wie amalgamiert mit der russischen Balletttradition, wie dies noch 2021 durch den deutschen Ballettchoreografen Raimondo Rebeck versucht worden ist. Auf den einschlägigen Videokanälen hingegen sieht Lazgi oft aus wie eine harmlos getänzelte Verzierung vor den historischen Architekturkulissen von Städten wie Khiva nahe Urgench: Lazgi-Etüden vor monumental alter Baukunst, die den Tourismus ins Land spülen sollen. Egal, ob Ballettmeister ihren Einfluss geltend machen oder Kameraleute samt hübsch bezopfter Lazgi-Damen in weiten Kostümen die Schönheit von Usbekistan bewerben – all das ist kaum jener Lazgi, den Gavhar Matyokubova im khoresmischen Zentrum des Lazgi, in Urgench, schon seit ihrer Kindheit pflegt und hegt.

“Lazgi”: Das usbekische Nationalballett am Ballett Dortmund

Berin Iglesias Art

Wir fahren auf ihren Rat vierzig Kilometer über flaches, fruchtbares Land nach Khiva unweit der Grenze zu Turkmenistan. Nur ein Straßenzug entfernt von der mächtigen Stadtmauer, die die Altstadt umgibt, befindet sich das Khoresmische Puppentheater Qòĝirchoq. Niemand hätte Tanz in einem klassisch anmutenden Puppentheater vermutet.

Das Khoresmische Puppentheater Qòĝirchoq

Xorazm Viloyati Qòĝirchoq Teatri

Das gesamte Ensemble der von Davronbek Ataboyev geleiteten Bühne hat sich in diesem bescheiden dimensionierten Bau versammelt. Es sitzt im schmalen Geviert auf Stühlen, in einem Raum, in dem sonst Kinder vor der Puppenbühne staunen.

Die Puppenwerkstatt

Helena Waldmann

Nebenan ist die Puppenwerkstatt. „Unser Theater“, sagt Davronbek Ataboyev, „hat einen erzieherischen Auftrag. Natürlich. Und darum ist Theater nicht in erster Linie eine Kunst, sondern eine Schule. Für uns ist das toll, unsere Jugendlichen zu erziehen und zu begleiten. Wir sind für sie das Gegengewicht zu ihren Handys.“

Der Theaterleiter: Davronbek Ataboyev

Helena Waldmann

Mit diesem – staatlich verlangten – Erziehungsauftrag vermittelt das Puppentheater von Khiva den Kindern und Jugendlichen auch die Tradition des Lazgi, spielerisch und clownesk. Es lässt die Puppen tanzen. Und das sieht dann so aus: Eine Tänzerin tanzt ihr Zittern, sie lodert wie eine Flamme, und ein Mann hinter ihr führt dazu eine Maske, die ihr Gesicht verdeckt. Schon ist es Puppenspiel. Sodann gibt es einen grotesken Kampf: Ein Mann ringt mit einer lebensgroßen Puppe auf Leben und Tod – und die Puppe stirbt, natürlich nicht der siegreiche Puppenspieler.

Die Puppe, die gegen Puppenspieler kämpft: schon 1920 eine khoresmische Kunst

Puppenmuseum Bukhara

Auf der Bühne liegt ein Teller, nicht größer als ein Essgeschirr. Nie verlässt die Tänzerin diese denkbar kleinste Bühne. Es ist die schwerste Form, um diesen genuin temperamentvollen Lazgi zu tanzen: den „Khiva Lazgi“, dessen Steigerung nur noch darin besteht, auf einem Ziegelstein zu tanzen, auf so kleinem Raum, der es der Tänzerin auch in der schmalsten Jurte noch erlaubt, auf ihren Tanz nicht zu verzichten.

Es gibt in dieser Region, sagt Davronbek Ataboyev, keine getrennte Ausbildung für Tanz, Musik oder Theater. Dafür ist sie zu weit von der Hauptstadt entfernt ist. Alle können hier alles, ein Instrument spielen, Puppen führen, tanzen und in jede nur erdenkliche Rolle schlüpfen. Er nennt es ein „Steppenmusical“ und schimpft darauf, ein wenig zumindest, dass nur die, die allein in einer Disziplin gut sind, als Künstler:innen gelten, während sein Team sogar pädagogischen Witz und humorvolle Aufklärung beherrsche und deshalb nie so anerkannt sein würde, wie das „große Theater“. Man sei eben zu volksnah und trotzdem international präsent. Das Puppentheater Qòĝirchoq reist gern zum Fringe Festival nach Edinburgh oder ist Gast bei Jürgen Zachmanns Puppentheater Chamäleon im hessischen Darmstadt. Zum Abschied, nach dem großen Spektakel für die wenigen Gäste, sagt Ataboyev triumphierend: „Lazgi kann alles: Spitzentanz und Drahtseilakt. Ein so alter Tanz ist jederzeit in der Lage, jede Neuerung in sich aufzunehmen. Nur umgekehrt wird es nie gelingen.“

Will sagen: Niemand kann Lazgi tanzen, nur die Menschen von hier. Der Stolz auf die eigene Körperkultur ist kaum anders als durch die Geschichte zu erklären.

Die Ausdehnung Khoresmiens im Mittelalter

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Khoresmien umfasste bis 1219, als die Mongolen das Reich eroberten, nicht etwa nur ganz Usbekistan, sondern auch Afghanistan bis nahe Kabul und ragte weit ins heutige Kasachstan hinein. Nur hundert Jahre später war Khoresmien ein geteiltes Land – erst nahmen sich die Sufis ihren Teil. Die darauf folgenden, immer neuen Eroberungen ließen dem Großreich von einst bald Zugang nur noch zum Kaspischen Meer. Einen noch kleineren Rest bezeichneten die Sowjets 1920 als Volksrepublik und teilten dieses Miniland nur fünf Jahre später erneut in zwei Teile, die in den neu gegründeten Republiken Turkmenistan und Usbekistan restlos aufgingen. Was blieb, ist nur eine Ahnung noch von der einstigen, historischen Bedeutung. Und der Stolz auf ihren Tanz, der nun als die letzte verbliebene Identität der khoresmischen Kultur dient oder ihr dienen muss.

Und selbst da sind die Begehrlichkeiten groß. Es begann schon mit den Sufis im Mittelalter: Entstammt ihr typischer Sonnengruß, die rechte Hand zum Himmel, die linke erdend in Richtung Boden gestreckt, nicht auffällig derselben Geste des Lazgi? Lazgi hat, anders als der Sufismus, so gar nichts gemein mit dem Islam, sondern geht auf den Feuerkult der Zoroastier zurück. Auch die Sowjetunion nahm mit ihrem folklorisierenden Eifer den Lazgi ins Visier und gründete ein akademisches Tanzzentrum in der usbekischen Hauptstadt Tashkent. Hier stellte man den nun als Nationaltanz empfundenen Lazgi neben dem Ballett auf die nahezu gleiche Stufe. Nahezu heißt: Die akademische Methodik des Tanzes stammt aus Moskau und St. Petersburg. Die zentralasiatische Tanzkunst hingegen wurde „traditionalisiert“ und „folklorisiert“ – etwaige Unterschiede bei der lokalen Interpretation eingeebnet, das Schrittmaterial kodifiziert und die Tanzform Lazgi mit akademischem Ernst so zementiert, wie die Stadt Tashkent selber: ein Wunderwerk sowjetisch geprägter Betonkultur und damit vollkommen verwechselbar mit jeder anderen Stadt im ehemaligen Sowjetreich.

In der Choreografischen Akademie Tashkent

Helena Waldmann

Als Gast der Choreografischen Akademie Tashkent, in diesem repräsentativen Bau einer staatlichen Ballettschule, erfährt man von den Lehrkräften ganz andere Versionen von der Entstehung des Lazgi. Religiöse Wurzeln, seien es die der Zoroastier oder Sufis, werden hier nach postsowjetischer Lesart vollständig ausgeblendet. Selbst das Zittern wird umgedeutet zu einer krampfhaften Verkrümmung der Glieder und Muskeln. Tee wird gereicht, und im Neonlicht der Proberäume verwandelt sich die Geschichte des Lazgi in ein Märchen aus 1001 Nacht.

Die erste Geschichte, die erzählt wird, geht so: Es war einmal eine Tänzerin, die auserwählt war, im Palast des Herrschers aufzutreten. Aber ihre Konkurrentinnen brachen ihr die Hände, die Arme und die Beine. Die Tänzerin trat trotzdem auf und tanzte vor dem Herrscher – mit gebrochenen Beinen, Armen und Händen. So ist Lazgi entstanden – gegen den Neid der Konkurrenz.

Die zweite Geschichte geht so: Es war einmal eine Tänzerin, die vor dem Herrscher und seinen Ministern auftreten sollte. Doch bevor es dazu kam, musste sie mittrinken, wurde immer betrunkener und als sie fiel, brach sie sich die Hände, Arme und Beine. Trotzdem hat sie getanzt. So entstand Lazgi – ihr Wille zu tanzen war stärker als jedes Gift.

Sonderbar an beiden Geschichten ist, wie sehr sie sich auf einen Herrscher hin orientieren, der Gewalt und Schmerz über die Tänzerin bringt. Ihr wie angenäht wirkendes Lächeln ist entsprechend nie der Ausdruck von Lust, sondern der zur Schau gestellte Trotz, dennoch zu tanzen. Was wie ein Heldinnengeschichte wirkt, ist in Wahrheit eine Vergewaltigung, die den Mann ausspart.

Einerseits. Andererseits soll vor einem sesshaften, in einem Palast regierenden Herrscher ausgerechnet der Tanz eines halbnomadischen Steppenvolks buckeln, ein Tanz, der in Stämmen wie den Mangit und Qongrat entstand, bei den Kasachen und vor allem bei den Karakalpaken aus der Bergregion nordwestlich von Khiva, in der die legendären ältesten, vor 3000 Jahren entstandenen Felszeichnungen des Lazgi entdeckt wurden.

Erste Darstellungen des Lazgi finden sich auf 3000 Jahre alten Felszeichnungen in Karakalpakstan, nordwestlich von Urgench

Natürlich ist das auch dem in der Akademie hier versammelten Lehrpersonal und vielleicht sogar den Schüler:innen klar. Solche Geschichten gehen auf den russischen und sowjetischen Kolonialismus zurück, und sie werden weiter gereicht. Denn sie sind Teil eines in sich geschlossenen Lehrplans.

Trotzdem steckt doch auch ein Körnchen Wahrheit in den Geschichten. In der Tradition eines reinen Frauentanzes, des „Hafmon Lazgi“, gab es in den 1920er Jahren eine Tänzerin namens Onajon Sabirova, die sich durch einen Unfall einen Namen machte. Auf dem Weg zu einer Braut, die sie hätte tanzend begleiten sollen, kippte die Kutsche um, in der sie saß. Sie wurde eingequetscht und brach sich so irreparabel die Knochen, dass sie nie wieder hätte tanzen können. Aber sie tanzte weiter, mit einem verkürzten Bein und einer entstellten Hand, tanzte mit dem Knick in der Hand, hinkte und akzentuierte so das, was den Lazgi immer schon prägte: das Schwankende, Schaukelnde und Schräge seiner Erscheinung.

Tschachzod, ein Akademie-Student in seiner Lazgi-Tanzuniform

Helena Waldmann

Frech meint zumindest das europäische Auge, hier sogar Anklänge an das Popping im Breakdance und Bewegungen des Krumping wahrzunehmen, also Elemente eines tatsächlich zeitgenössischen Volkstanzes. Doch für solche Ideen sind die Lehrbedingungen an der Choreografischen Akademie Tashkent nicht gemacht. Eher sei doch abzuwägen, für wen die Tänzer:innen ausgebildet werden (für repräsentative Staatsbühnen) und wessen Bild sie darstellen sollen (das einer klassischen, sogar vorklassischen Meisterschaft). So verlangt es im Gespräch eine jüngere Professorin der Akademie: „Die Bewegungen, die wir unterrichten, sollen schön und ästhetisch passend zur Tradition bleiben, denn nur professionelles Tanzen ist schön.“
„Aber was wäre denn nicht schön?“
„Schandhafte Bewegungen wären nicht schön, überhaupt alle Bewegungen, die an Nachtclubs erinnern, die die Eleganz des Lazgi in den Schmutz ziehen wollen und das Lächeln umdeuten zu einer Verführung, oder die seine Wildheit wie eine Wollust betrachten. Solche Versuche“, sagt sie, „gab es schon in den 1990er Jahren. Das Lächeln im Lazgi hat nichts mit Verführung zu tun. Man lächelt immer nur gegen den Schmerz.“

Ihre Aussage entspricht dem im Land dominierenden islamischen Verständnis von Tanz und bildet auch eine Definition des akademischen Tanzes ab: Man tritt bei der Ausübung eines Tanzes immerzu gegen sich selber an. Gewinnen kann man aber nur, wenn Lazgi eine Methodik annimmt, die am Ende klar ein Falsch und ein Richtig erkennt. Nur so mache eine Akademie Sinn, erklärt der Prorektor der Akademie, Mirmusin Gafurov: „Bis vor Kurzem gab es keine professionelle Ausbildung für Lazgi. Die Staatliche Choreografische Akademie hat genau das geändert. Und sie wird noch mehr tun. In Urgench, der Heimat des Lazgi, wollen wir eine Abteilung aufbauen, die ihn noch besser erforscht und dazu ein weiteres Projekt auflegen, um den Tanz auch international bekannter zu machen.“

Versprochen ist versprochen. Die Macht der Institution ist heilig, weil allein sie – auf wissenschaftlicher Grundlage und ebensolcher Methodik – das ästhetisch richtige Bild des Lazgi formen darf. Dazu kommen nun, bei kredenztem Tee, im Tanzstudio der Choreografischen Akademie Tashkent die Schüler:innen zum Einsatz.

Studierende üben den Palasttanz

Helena Waldmann

Die Männer tragen perückenartige Wollmützen und Gardeuniform. Die Frauen haben in ihre Perücken je sechs Zöpfe geknüpft und schweben in orientalistisch wallenden Seidenkostümen zur Tür herein, um einen „Palace Lazgi“ zu zeigen – eine Form des Lazgi, die sich im höfischen Kontext des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat und heute bühnentauglicher erscheint als die Clownerie, der Battle, die Improvisation.

Es bedurfte dazu auch damals schon einer gewissen Tanzkenntnis, um als „Palasttänzerin“ durchzugehen und akzeptiert zu werden – aber es war noch immer ein getanztes Spiel, ein Spiel mit dem Publikum, wie sich eine damals 92-jährige Tänzerin gegenüber der Ethnografin Gavhar Matyokubova noch erinnerte: „Wir spielten die Palasttänzerin so, wie wir sonst den Clown gespielt haben“. Doch zunehmend verdrängte der Palast die Frauen von Bühne. Immer häufiger spielten männliche Tänzer im Frauenkleid die Rolle der Palasttänzerin. Spielerisch heißt hier: Der Islam empfand den weiblichen Tanz, den eine Frau darbot, als ungebührlich, genau denselben Tanz eines Mannes aber nicht. Der Einfluss des Islam bei der Entwicklung der Typen und Sorten von Lazgi-Tänzen ist überhaupt enorm. Anfang des 19. Jahrhunderts begründeten schiitische Exil-Iraner in Khoresmien ihren eigenen Lazgi-Stil, den „Changak Lazgi“, einfach, um sich von der sunnitischen Konkurrenz im Land abzusetzen – ein Tanz, der die Bewegungen immer wieder in einem Freeze aufhält, die Glieder für Sekunden versteift, als würde ein Stroboskop den Tanz zerhacken. „Changak Lazgi“ gilt als ein tatsächlicher Vorläufer des Breakdance.

Finale einer Pantomime nach dem Lehrbuch

Helena Waldmann

An der Akademie wird er natürlich nicht gelehrt. An der Akademie herrscht die Pantomime vor, als eine besonders theatertaugliche Interpretation des Lazgi. Die Schüler:innen tanzen – ganz in postsozialistischer Manier – in paralleler Bewegung das Baumwollpflücken, oder, die Arme etwas weiter nach oben gestreckt, das Apfelpflücken. Zu einem imaginären Apfelbaum tritt ein Clown hinzu, der Äpfel stiehlt, und, kaum erwischt, mit einer entschiedenen Geste seine imaginären Äpfel wieder fallen lässt. So will er zeigen, wie unschuldig er ist. Genauso unschuldig wirkt tatsächlich, was an der Akademie gelehrt wird: das Memorieren jedweder Geste nach Lehrbuch. Vielleicht, so darf man denken, ist die Akademie selbst der wahre Apfeldieb.

Das denkt zumindest der aus Iran stammende Sashar Zarif. Er hatte es 2019 gewagt, mit seiner Performance „Lazgi Transformation“ diesen uralten Tanz von seinem Zierrat zu entschlacken:
Erstens von diesen dubiosen Kostümen aus der Werkstatt von ebenso dubiosen Designern – denn ein Recht auf Mitbestimmung bei der Kostümwahl haben die Choreograf:innen nicht. Zarifs sechs Tänzer traten stattdessen schlicht in Shirt und Trainingshose auf.
Zweitens den Tanz von der Sitte zu befreien, dass er der Musik zu folgen hätte – tatsächlich ist diese Hierarchie ein europäischer Import. Musiker und Tänzer improvisierten bei ihm wieder auf Augenhöhe.
Und drittens sich von der Sitte zu lösen, Lazgi auf neutraler Bühne in Verfolger- oder Laserlicht tanzen müssen. Stattdessen zeigten Diaprojektionen in der Bonum Factum Galerie in Tashkent genau die Landschaft, aus der sich Lazgi einst erhob und auf die er reagierte.

Die Vertreter, die das nationale Kulturerbe von Usbekistan heilig sprechen, empfanden die Aufführung als einen Schlag ins Gesicht. Weil Sashar Zarif von Anbeginn keine Unterstützung von usbekischer Seite erhielt, halfen ihm das Schweizer Büro für Zusammenarbeit und die Botschaft der Schweiz in Usbekistan. Das wiederum wurde als Einmischung in die eigene Kultur gewertet. Dabei hatte Lazgi, als Kunstform, hier erstmals einen Aufbruch ins 21. Jahrhundert gewagt. In Khiva aber, beim Raqs Sehri (Magic of Dance) Festival im September, hier in der alten khoresmischen Hauptstadt, verstand das Publikum mühelos, dass ein über tausende Jahre hinweg von Generation zu Generation weitergereichter Tanz sich im Volk so frei entwickeln darf, wie die Menschen auch.